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Michael Buselmeier: In den Sanden bei Mauer

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Monika Vasik

Michael Buselmeier: In den Sanden bei Mauer. Letzte Gedichte. Heidelberg (Morio Verlag) 2023. 72 Seiten. 20,00 Euro.

„Der Stachel in der Brust ruht nie“


2018 veröffentlichte Michael Buselmeier „Späte Gedichte“ in seinem Band Mein Bruder mein Tier. Nun legt der mittlerweile 85-jährige einen weiteren Lyrikband mit dem zunächst rätselhaften Titel In den Sanden bei Mauer vor. Die Texte entstanden in den vergangenen fünf Jahren und sind möglicherweise „Letzte Gedichte“, wie der Untertitel nahelegt. Es ist ein persönliches Resümee, das der Dichter zieht, wenn er Gedicht für Gedicht in sein Puzzle fügt. Im Mittelpunkt steht er selbst, stehen seine Lebenserfahrungen, insbesondere Verluste, auf die er blitzlichtartig zurückblickt, seine Auseinandersetzung mit dem Altern, der unaus-weichlichen Vergänglichkeit und den damit einhergehenden Zumutungen. Nebenakteure sind einige seiner Lieblingsschriftsteller, allen voran Friedrich Hölderlin (1770-1843), geschätzte Weggefährten und nicht zuletzt die Stadt Heidelberg, in der der Dichter aufwuchs und heute wieder lebt, und ihre Umgebung.

Buselmeier stellt seinem Buch vier Hölderlin-Zitate voran. Sie stehen in enger Verbindung zu den Gedichten, die thematische Texteinheiten bilden, ohne dass diese in je eigene Kapitel eingeteilt wären, was stimmig das Fließen des Lebens und der Gehirntätigkeit nachbildet, ein mäanderndes Ineinanderfließen von Beobachtungen, von gegenwärtigen Gedanken und aufflammenden Erinnerungen. Auch in den Texten selbst findet man Bezüge zu Hölderlin in Form von Zitaten, Motiven sowie des Einsatzes poetischer Stilmittel. Zwei Motive möchte ich herausgreifen.
1. Das Motiv Stachel:
Auf dem Cover des Lyrikbands sieht man die Skizze einer blühenden Distel, vermutlich einer Kratzdistelart. Disteln gedeihen auch auf mageren Böden, kommen mit Trockenheit gut zurecht und sind mit Stacheln bewehrt, weshalb es unangenehm sein kann, sie anzugreifen. Analogien sind heikel, aber es scheint mir, dass die Pflanze für den Dichter steht und dafür, wie er sein Dasein in den Gedichten und im Nachwort zeichnet, etwa sein Aufwachsen als Kind unter den kargen Bedingungen des Zweiten Weltkriegs und der Nachkriegszeit bis hin zu einer heutigen Widerborstigkeit, die nichts mit Altersstarrsinn gemein hat, sondern einer kraftspendenen Kratzbürstigkeit gleicht, sich gegen die zunehmenden Widrigkeiten zu wehren.
Dies geschieht manchmal klagend, etwa wenn der Schriftsteller im Nachwort Alters-diskriminierung anspricht, die ihn „faktisch arbeitslos“ mache, denn „Zeitungen und Funkanstalten nehmen mir nichts mehr ab“, manchmal voll Wehmut und leisem Sarkasmus, manchmal den einsamen Mann zeigend, der sich eingesteht, dass Kinder und Enkel „mich nicht mehr brauchen“, und der sich zugleich gegen Gesten der Zugeneigtheit verwehrt:

„Nein danke, ich brauche
keine Zuwendung, ich will nicht angesprochen,
nicht angeheult werden. Laßt mich einfach in Ruhe,
berührt mich nicht. Verschont mich mit euren
Wangenküssen. Ich will allein sterben.“        

Michael Buselmeier hat in den letzten Jahren seine schwerkranke Frau gepflegt (die Anfang dieses Jahres verstorben ist), was er in mehreren Gedichten thematisiert. Er gibt einen Eindruck von widerstrebenden Gefühlen zwischen dienender Zuwendung und an Grenzen gehender Überforderung, zum Beispiel im Gedicht Auf der Eiskante, das mit dem Vers „Der Stachel in der Brust ruht nie“ endet. Ähnliche Wendungen finden wir bei Friedrich Hölderlin, der in seinem Gedicht Der Spaziergang vom „Stachel im Herzen“ spricht oder in seiner 1799 entstandenen Ode Abendphantasie das Gefühl der Nichtzugehörigkeit und damit einher-gehender Einsamkeit u.a. in die bitteren Verse kleidete:

„Wohin denn ich? Es leben die Sterblichen
Von Lohn und Arbeit; wechselnd in Müh’ und Ruh“
Ist alles freudig; warum schläft denn
Nimmer nur mir in der Brust der Stachel?“
                                           (aus F. Hölderlin: Abendphantasie)
        
Mit dem Motiv Stachel ruft Buselmeier auch andere Anklänge wach. Im 1. Brief an die Korinther, verfasst vom Apostel Paulus, gibt es die bekannte rhetorische Frage: „Tod, wo ist dein Stachel“ (15,55), die u.a. Eingang in die Welt der Musik gefunden hat, etwa in Johannes Brahms „Ein deutsches Requiem“, Georg Friedrich Händels Oratorium „Der Messias“ oder C.P.E. Bachs Oratorium „Die Auferstehung und Himmelfahrt Jesu“, aber auch in Werke heutiger Musik. So hat Johnny Cash am Ende seines Lebens den Song „1 Corinthians 15:55“ komponiert, in dem als Refrain der Tod adressiert wird: „O Death, where is thy sting“, posthum 2010 im Album „America VI: Ain’t no grave“ veröffentlicht.

2. Das Motiv Sand:
Sand hat interessante Eigenschaften, die auch symbolhaft für kreative Prozesse stehen können. Ist er feucht, kann man ihn modellieren. Wird er zu nass, zerfließt er, trocken hingegen zerrieselt er zwischen den Fingern. Letztere Eigenschaft wird seit dem Spätmittelalter genutzt, um das Vergehen der Zeit mittels Sanduhren bzw. Stundengläsern zu messen. Etwa zu Beginn der Barockzeit wurde die Sanduhr in der Kunst zudem ein beliebtes Vanitassymbol, das an die Vergänglichkeit und damit an die Endlichkeit jedes Lebens erinnerte. Und man gewinnt mit der Zeit den Eindruck, dass Michael Buselmeier konstatiert, was wir in Friedrich Hölderlins Roman „Hyperion“ lesen: „Ich bin einsam, einsam, und mein Leben geht, wie eine Sanduhr, aus.“

Das titelgebende Gedicht In den Sanden bei Mauer beginnt mit der Suche des alten Dichters nach vergangenen Sommern „in den Falten der alten / Fotoalben der Kindheit“. Und er geht erinnernd weiter zurück, zunächst in die Zeit vor seiner Geburt. 1907 wurde in einer Bausandgrube in Mauer, einer Gemeinde rund zehn Kilometer südöstlich von Heidelberg, der fossile Unterkiefer eines fernen Verwandten des Homo sapiens gefunden. Ein Jahr später veröffentlichte Otto Schoetensack eine wissenschaftliche Erstbeschreibung des Homo heidelbergensis, einer Unterart des Homo erectus. Das Alter der Mandibel, die sich in der naturwissenschaftlichen Sammlung der Universität Heidelberg befindet, wird heute auf rund 600 000 Jahre datiert. Weitere Skelettteile wurden nicht gefunden, das ehemalige Sandabbaugebiet ist heute ein Naturreservat und weitere Grabungen sind daher nicht mehr möglich. Der Wort- und Sprachmensch Buselmeier beginnt nun, sich das Leben dieses Mannes vorzustellen, vor allem interessiert ihn, „wie

sprach dieser Vorfahre stieß er grunzende Laute aus
bildete er Wörter Gesten ...“

Es sind Fragen, die mangels Zeugnissen unbeantwortbar bleiben, aber vielleicht neben freundschaftlicher Zugeneigtheit ein nicht unwichtiger Beweggrund waren, in Gedichten mancher Freunde und Weggefährten zu gedenken und Erinnerungen an sie zu bewahren. Viele sind wie Buselmeier in den 1930er Jahren geboren und bereits verstorben, zum Beispiel Wulf Kirsten, Günter Herburger oder Arnfrid Astel, an dessen Internetauftritt „Sand am Meer“ er erinnert, der alle publizierten und unpublizierten Gedichte Astels enthält. Und er erschafft zudem „Epigramme in Arnfrid Astels Manier“, die Respekt und Betroffenheit bezeugen:

„Wie Sand am Meer hast du die
leuchtenden Verse
unter uns Blinde verstreut.“    

Gedenkgedichte gibt es auch für die deutlich jüngeren Kollegen Oleg Jurjew und Michael Braun. Mit letzterem hat er u.a. Gedichte der Gegenwart ausgewählt und kommentiert, publiziert in Der gelbe Akrobat 1-3 im Poetenladen Verlag. Zudem, es gibt weitere Verluste von Menschen und Herzensdingen, mit denen der Dichter konfrontiert war: Das Erleben des Kriegs mit all den Gräueln und Entbehrungen, das Verlieren einer Marionette, denn „das Kind aus Holz versank im Bombenrausch“, der plötzliche Tod der Großmutter, deren zyanotisches Gesicht ihm nicht mehr aus dem Sinn geht, später das lange Sterben der Mutter, die Abwesenheit des Vaters, die aufreibende Pflege seiner Frau. Der letzte Text des Buchs trägt den Titel Inferno, was Dante Alighieris Göttliche Komödie anklingen lässt und dessen Reise durch die Hölle. Buselmeiers kurzes Gedicht hingegen greift Samuel Becketts Zweiakter Glückliche Tage auf, in dem Winnie und Willie „bis zum Hals im Dreck“ stecken und in ihrer Einfalt das nahe Ende nicht bemerken. Im Nachwort geht Buselmeier darauf ein, was denn glückliche Tage überhaupt seien, ob er selbst glückhafte Momente erlebt habe und es solche für ihn, den melancholischen Zweifler, der um seine Würde ringt, noch geben könne.

„Sollte das tägliche absurde Sich-Abstrampeln, das sinnlose Weiterzappeln bis zum Ende ... so etwas wie Glück bedeuten?“

Man kann sich den Dichter als jene Winnie vorstellen, deren Körper allmählich in einem Erdhaufen versinkt, bis nur mehr der Kopf herausschaut. Doch der Dichter ist ohne Einfalt, sondern registriert mit großer Wachsamkeit und im Vollbesitz seiner geistigen Kräfte. Er reflektiert sein Dahinwelken und schmerzhafte Verluste, verwandelt sie in die formbewussten Texte dieses lesenswerten Bandes. In ihm spiegelt sich Buselmeiers Glaube an die Kraft der Literatur. Nicht das Jenseits zieht dem Tod den Stachel, wie der Apostel Paulus meint, und nicht die Religion mit ihrem Versprechen einer künftigen Auferstehung. Trost gibt es, zumindest für Momente, nur im Aufgehen und im Aufgehobensein in Gedichten. Buselmeiers Schaffenskraft ist noch nicht am Ende, was ein Glück ist. Und so wird es, wenn es die letzte Lebensphase trotz zunehmender Einschränkung erlaubt, „bald vielleicht allerletzte ...“ Gedichte vom Dichter Michael Buselmeier geben können.


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