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meine drei lyrischen ichs 03.06.14

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meine drei lyrischen ichs“ am 03. Juni 2014 mit REUTHER, LAPPERT, BERENDS und GUFLER


Eckige schwarze Zwo



In der siebten Ausgabe der Inzwischen-Kult-Reihe „meine drei lyrischen ichs“ begingen die beiden Organisatoren Tristan Marquardt und Tillmann Severin mit einer rot beschleiften Flasche Schampus, auf die eine schwarze eckige 2 geklebt war, ihr Zweijähriges. Obligatorisch gab es in der kühlweißen Halle 4 des Einstein Kultur, einem Backsteinkeller mit postindustriellem Flair unterm gestreckten Tonnendach, eine Begegnung mit drei Dichter_innen. Ebenso obligatorisch: ich zählte etwa eine halbe Hundertschaft vorwiegend junger Gäste.
Als erste, nach einem dünnstimmig gehauchten Hallo, las die Baslerin Simone Lappert, da die zunächst angekündigte Peggy Neidel leider erneut verhindert war. Und mein Kuli strich, huschte und schabte im Dunklen über die Seiten meiner Kladde (… wer schreibt auch noch in Kladden? ...), ich sah nahezu nichts von dem, was ich schrieb; es ist spannend, was ich davon jetzt noch entziffern kann. Lapperts Gedichte rührten mich an. Ich war hin- und hergerissen zwischen Nur-Lauschen und Trotzdem-Festhalten. Gleich der erste Titel Zunehmende Veräußerung gefiel mir sehr. Die klare Stimme, der fragile Vortrag entwickelten einen ganz eigenen Reiz, es war mucksmäuschenstill. Dazwischen hatte ich außerdem daktylische Rhythmen ausgemacht, Was kümmert den Himmel sein wachsender Schatten. Ohne erkennbare Metrik, aber auch poetisch: es glänzen Kinderjahre auf der abgespielten Haut. In Schneegeschwindigkeit begeisterte mich, ebenso die Wendung in Flockenfolgen. Gelegentlich hörte ich für meinen Geschmack ein wenig zu viele Komposita; der Pflastertanz, die Feuchtpunkte und die Schleppkahnrücken hatten dennoch Poesie. Und es war zu Ende, da hatte ich mich gerade erst eingehört. Simone Lappert machte sich somit gleich zu Anfang rar. Das Langschaf, das Händegeweih blieben hängen. Alles im Zimmer bleibt Wurzelwerk.


Simone Lappert


Der Münchner Dichter Wolfgang Berends, Bibliothekar im Lyrik Kabinett, begrüßte seine lyrischen „Engel“ namentlich, Arbeitskolleg_innen, Freunde und Bekannte, die er im Publikum ausmachte. Eine Vorrede inklusive einer Dankesrede führte bedächtig in die Gedichte hinein. Die Scham auf den Lippen hieß ein Zyklus, er handelte von dem griechischen Unterweltsfluss Lethe, von Vergangenheit und Zukunft, eine Blume zu finden, die Frieden bringt, lautete eine der Passagen darin. Es ist wichtig, Schneeflocken beim Fallen zuzuhören, sie bauen uns eine Brücke in den Himmel, notierte ich. Ein unbrauchbarer Frühling gibt jedem Kind alles, entziffere ich in meinem verzitterten Kugelschreiberblau. Berends entwickelte ein wahres Panoptikum an Bezügen, von der Friedenspfeife Kalumet über A. Polgar hin zur coincidentia oppositorum erfolgte eine Reise hinter die Sonne zum Gedächtnis der Haut. Und wo man vorher das Gefühl hatte, Simone Lapperts Lesung sei zu schnell vorüber gegangen, kam nun ein langer und dennoch kurzweiliger Vortrag, wurde ein völlig anderer Wortkosmos mit völlig anderen Bildwelten evoziert, in den man sich erst einhören musste; ein Vortrag, den Berends nach seinem Applaus selbst sinngemäß mit Worten wie Jaja, immer diese umständlichen Archivare kommentierte.

Wolfgang Berends


Rick Reuther, geboren in Hamburg, reiste eigens aus Wien an, wo er Sprachkunst studiert. Eine Collage Reisebürotextschnipsel im ephemeren Schnelldurchlauf, vermischt zu Impressionen „ferner“ Länder mit dem typischen postkartenhaften „Anpreisungssprech“ der Tourismusbranche: das war Sprachkunst par excellence. Five postcolonial poems machten schon im Titel den Bereich klar, den sie verhandeln. Den üblichen Touristenblick, mit dem man sich nach Rio de Janeiro begibt und dort mit Flip-Flops durch die favelas schlurft, in Bangkok Suppenhuhn und Zitronengras zu sich nimmt, in Haiti sich durch Gelbfiebergebiete bewegt. Auf der Insel gibt es einen Lidl Markt, lese ich in meinen Notizen, und ein jetzt schon beinahe geflügeltes Wort wie tropischer Eskapismus habe ich festgehalten. Rick Reuther performte seine Texte teils mit an- und abschwellender Stimme.


Noch vor der Pause gab Tillmann Severin einen Kurzüberblick zur Kunst des erst in diesem Jahr diplomierten Künstlers Philipp Gufler. In Halle 3 waren 7 Epoxidharzplatten in Regenbogenfarben zu bestaunen, unter denen sich collagenartige Texte befanden, demonstrativ gegen Homophobie gewandt.


Nach der Pause lief ohne Anmoderation, was für gelungene Irritation sorgte, ein Video von Philipp Gufler, im Loop arrangiert. Eine interessante Brechung schufen unscharfe bewegte Bilder vor der rustikalen weißgekalkten Backsteinwand. Die so genannte Videolandschaft namens Ritual 0f Farewell war eine Hommage an „lost and destroyed tabeaus of the Gemäldegalerie Berlin“, auf der schemenhaft einige Szenen zu sehen waren, mit Bildern, die es nicht mehr gibt, umrisshafte Menschen flackerten, posierten oder bewegten sich schnell. Ein Abschiedsritual zu verschollenen oder vernichteten Gemälden.


In den Loop des Videos hinein las zunächst wieder Wolfgang Berends seinen zweiten Block. Ebenfalls als Loop konzipiert und teilweise mehrfach gelesen, bezog er sich auf das Abschiedsritual, Texte, die eigens zu diesem Kunstwerk entstanden sind. Eine Blume zu finden im Gebirg, die Frieden bringt, lese ich in meiner Kladde. Wieder wurden Referenzen genannt, beispielsweise Lu Chis Gedichte auf Seide: auf einem einzigen Meter Seide findet sich das ganze Universum, lese ich in meinen Notizen, und Wir blühen blütenlos. Der dänische Künstler Per Kirkeby stiftete den Titel des Gedichts Kirkeby. Der Text Augen für den Hund ist Jan Kuhlbrodt gewidmet. Die Zeile Die Augen aus dem Kissen schütteln blieb hängen. Berends trug zum Schluss auch einige Texte aus seinem Band Erdabstoßung vor, u.a. Fröhliche Gesellschaft in einem Riesenei.
I wanna do to you what the internet has done to me
, lese ich in meiner Kladde, eine Zeile von Rick Reuther aus dem zweiten Block. Die Motive Fuchs und Hase wurden Motiv, also klicken wir uns durch die Natur. Die Zeile brechen wir ein paar Einsamkeitsrekorde gefiel mir sehr. Der Dichter performt seinen Vortrag, variiert die Lautstärke, delektiert die Worte. Das künstlerisch abgewandelte Alle-Vögel-fliegen-hoch-Spiel bringt Refrains in einen Zyklus. Eis kennt unendlich viele Anagramme, lese ich im zittrigen Blau meiner Kugelschreiberkritzelei, ein Eiskatalog wird konterkariert. 0:No ice; kein Eis, eisfrei. 1:Slush or young ice; Schlamm- oder Neueis (junges Eis), 2:Fast ice; Festeis, 3:Drift ice; Treibeis, Eisstoß, 4:Packed slush or strips of hummocked ice usw. Der Zyklus schloss mit einer Gesangseinlage, Ich möchte ein Kirschkern sein, sang Rick Reuther, und man dachte dabei an das Stück Eisbär der Band Grauzone von 1987. Kirschkerne müssen nie weinen. Am Schluss verkündet Reuther: das Wetter ist aus.

Vor Beginn des zweiten Blocks von Simone Lappert endete der Videoloop. Die Aufmerksamkeit auf die fragilen Texte steigerte sich dadurch und stimmte sich ein auf originelle Bildwelten, in deiner Radiatorenstille. Unmittelbar hängenbleiben Komposita wie Gedankenfrost, Blickbatterie und schlafzahm und entfachen die ganze Kraft ihrer Poesie. Einzig beim Kussrest zwischen den Zähnen wollte sich mir kein wirklich angenehmes sinnliches Bild einstellen, vielleicht aber ist es auch als Bild des Unbehagens intendiert gewesen? Sehr wohl aber bei In den Knien noch das Schlaglochstottern. Hier hätte ich noch länger zuhören mögen, aber Simone Lappert machte sich auch zum Ende hin rar.

Es wurde anhaltend geklatscht, Tristan Marquardt forderte noch einmal Extraapplaus. In der Schlussrede betonten Tristan Marquardt und Tillmann Severin, dass sie sich sehr wohl überlegt haben, was sie wann anmoderieren, um die Spannung und Überraschung zu halten. Das ist ihnen gelungen.

(Anmerkung: sollten anzitierte Textpassagen falsch wiedergeben sein, so lag es am wenigen Licht zu den vielen guten Gedichten.)


Armin Steigenberger


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