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Maxim Gorki: Die Kleinbürger

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Maxim Gorki

Die Kleinbürger


Drama in vier Aufzügen
Originaltitel: Merschtschanje
Erstveröffentlichung: 1902

Übersetzung aus dem Russischen
von August Scholz




Personen


Bessemjónow, Wassílij Wassíljewitsch, 58 Jahre alt, wohlhabender Kleinbürger, Ältester der
Malerzunft.
Akulína Iwánowna, seine Frau, 52 Jahre alt.
Pjotr, ehemaliger Student, 26 Jahre alt - seine Kinder.
Tatjána,  Lehrerin an einer Volksschule, 28 Jahre alt
Nil, Pflegesohn Bessemjónows, Lokomotivführer, 27 Jahre alt.
Pertschíchin, entfernter Verwandter Bessemjónows, Vogelhändler, 50 Jahre alt.
Pólja, seine Tochter, Näherin, arbeitet gegen Tagelohn im Hause, 21 Jahre alt.
Jeléna Nikolájewna Kriwzówa, Witwe eines Gefängnisinspektors, wohnt bei den Bessemjónows
zur Miete, 24 Jahre alt.
Téterew, Kirchensänger, Kostgänger der Bessemjonows.
Schíschkin, Student,
Zwtájewa, Lehrerin, Freundin Tatjanas, 25 Jahre alt.
Stepanída, Köchin
Ein Arzt.    
Ein Malerlehrling.    
Ein Weib von der Straße.    

   

Ort der Handlung: eine kleine Provinzstadt.



Erster Aufzug


Wohnzimmer in einem wohlhabenden kleinbürgerlichen Hause. Die rechte Ecke ist durch zwei blinde Scheidewände abgeschnitten; sie ragen unter einem rechten Winkel in das Zimmer hinein, und indem sie seinen Hintergrund verengern, bilden sie im Vordergrund ein zweites kleines Zimmer, das von dem großen Zimmer durch einen hölzernen Bogen abgeteilt ist. Durch den Bogen ist ein Draht gezogen, an dem ein bunter Vorhang hängt. In der hinteren Wand des großen Zimmers – eine Tür nach dem Hausflur und der anderen Hälfte des Hauses, in der sich die Küche und die Zimmer der Kostgänger befinden. Links von der Tür – ein großer, schwerer Geschirrschrank, in der Ecke eine Truhe, rechts eine altertümliche Wanduhr in einem Gehäuse. Der mondgroße Perpendikel pendelt hinter dem Glase langsam hin und her, und wenn es im Zimmer still ist, hört man sein seelenloses Ticktack! Ticktack! In der linken Wand – zwei Türen: die eine führt in das Zimmer der Alten, die andere zu Pjotr. Zwischen den Türen ein mit weißen Kacheln ausgelegter Ofen. Neben dem Ofen ein mit Wachstuch überzogenes Sofa, davor ein großer Tisch, auf dem zu Mittag gegessen und Tee getrunken wird. Billige Wiener Stühle sind in langweiliger Regelmäßigkeit an den Wänden aufgestellt. An der linken Wand, ganz am Rande der Szene, ein Glasspindchen, darin allerhand bunte Schächtelchen, Ostereier, ein Paar Bronzeleuchter, Tee- und Eßlöffel, eine Anzahl silberner Becher und Gläser. In dem Zimmer hinter dem Bogen, an der dem Zuschauer gegenüberliegenden Wand – ein Klavier, eine Etagere mit Noten, in der Ecke ein Philodendronkübel. In der rechten Wand – zwei Fenster, auf den Fensterbrettern Blumentöpfe, vor den Fenstern eine Chaiselongue, daneben, an der vorderen Wand – ein kleiner Tisch. Es ist Abend, gegen fünf Uhr. Herbstliche Dämmerung schaut durch die Fenster. In dem großen Zimmer ist es fast dunkel. Tatjana, halb liegend auf der Chaiselongue, liest in einem Buch; Polja am Tisch, näht.


Tatjana  liest:  »Der Mond ging auf . Und es war seltsam zu schauen, wie von ihm, der so klein

und so traurig war, auf die Erde so viel silberblaues, sanftes Licht niederfloß …« Wirft das Buch in ihren Schoß.   Es ist dunkel.

Polja:  Soll ich die Lampe anzünden?
Tatjana:  Nicht nötig. Ich bin müde vom Lesen. …
Polja: Wie schön das geschrieben ist! So einfach … und so wehmutsvoll … es greift einem ans

Herz … Pause. Ich möcht gar zu gern wissen, wie es endet!? Ob sie sich heiraten – oder nicht?

Tatjana  ärgerlich:  Darauf kommt's doch nicht an …
Polja:  Ich könnte mich in einen solchen Mann nicht verlieben – nein!
Tatjana: Weshalb nicht?
Polja:  Er ist so langweilig … und er jammert in einem fort … weil er sich selbst nicht traut …

Ein Mann muß wissen, was er im Leben zu tun hat.

Tatjana leise: Und … Nil – weiß der es?
Polja  zuversichtlich:   Gewiß weiß er's!
Tatjana: Nun – was will er denn?
Polja: Ich … kann Ihnen das nicht so auseinandersetzen … aber ich seh's aus der Art, wie er

spricht … Die schlechten Menschen … die bösen, habgierigen – werden jedenfalls übel mit ihm fahren! Er liebt sie nicht.

Tatjana:  Wer ist böse? Und wer – gut?
Polja:  Er weiß es! Tatjana schweigt, ohne Polja anzusehen. Polja nimmt lächelnd das Buch von

ihrem Schoß.  Wie schön das geschrieben ist! Sie ist wirklich gar zu reizend … so geradezu, so einfach und herzlich! Wenn man eine Frau so liebevoll geschildert sieht, kommt man sich selbst besser vor …

Tatjana: Wie naiv … Du bist wirklich spaßig, Polja! … Mich kann diese ganze Geschichte nur

wütend machen. Es gab nie ein solches Mädchen! Und auch eine solche Meierei, einen solchen Fluß, einen solchen Mond und so weiter – hat es nie gegeben! Alles das ist erfunden. Niemals schildern sie das Leben in den Büchern so, wie es wirklich ist … Wir zum Beispiel … ich und du …

Polja:  Sie schildern eben nur das Interessante. Und was ist an unserem Leben interessant?
Tatjana ohne auf sie zu hören, gereizt: Ich habe oft den Eindruck, als ob die Bücher von Leuten

geschrieben würden … die mich nicht lieben … und sich immer mit mir herumstreiten möchten. Als wollten sie zu mir sagen: das da ist besser, als du denkst, und jenes dort – schlechter …

Polja: Und ich meine wieder, daß alle Schriftsteller unbedingt gut sein müssen … Ich möcht gern

mal einen Schriftsteller kennenlernen!

Tatjana wie im Selbstgespräch: Das Böse und Abstoßende im Leben schildern sie nicht so, wie

ich es sehe ... sondern auf ganz besondere Art … in größerem Maßstab … in tragischem Ton. Und das Gute erfinden sie einfach. Niemand macht eine Liebeserklärung so, wie es in den Büchern beschrieben wird! Und das Leben ist durchaus nicht tragisch … es fließt so ruhig, so einförmig hin … wie ein großer, trüber Strom. Und wenn du zusiehst, wie ein Strom dahinfließt, dann werden deine Augen müde, du fühlst Langeweile … und es wird dir so dumm im Kopf, daß du gar nicht darüber nachdenken magst, warum eigentlich dieser Strom dort fließt.

Polja  schaut sinnend vor sich hin:  Nein, ich möcht wirklich mal einen Schriftsteller

kennenlernen. Wie Sie vorhin vorlasen, dacht ich in einem fort – wie mag er nur aussehen? Ob er jung ist? Oder alt? Blond – oder brünett? …

Tatjana:  Wer?
Polja: Na, der Schriftsteller … der das geschrieben hat …
Tatjana:  Er ist tot …
Polja: Ach … wie schade! Schon lange? Ist er jung gestorben?
Tatjana: In mittleren Jahren. Er hat getrunken …
Polja: Der Ärmste … Pause.  Warum eigentlich gescheite Leute Branntwein trinken? Unser

Kostgänger zum Beispiel, der Sänger … der ist doch ein kluger Mensch, und – er trinkt! Warum das?

Tatjana: Weil das Leben so langweilig ist!
Pjotr  verschlafen, kommt aus seinem Zimmer: Wie dunkel das ist! Wer sitzt denn da?
Polja: Ich … und Tatjana Wassiljewna …
Pjotr:  Warum macht ihr kein Licht an?
Polja: Wir halten Dämmerstunde …
Pjotr:  In meinem Zimmer riecht es so nach Baumöl – der Duft kommt von den Alten herüber …

Davon hatt ich wohl auch die Träume – ich träumte, daß ich in einem Strome dahinschwimme, dessen Wasser so dick ist wie Birkenteer … So schwer ist's, darin zu schwimmen … und ich weiß nicht, wohin ich schwimmen soll, und sehe die Ufer nicht … Trümmer von irgendetwas schwimmen mir entgegen, aber wenn ich nach ihnen greife, zerfallen sie zu Staub … ganz morsch und faulig sind sie. Albernes Zeug. … Schreitet pfeifend im Zimmer auf und ab. 's ist Zeit, Tee zu trinken ...

Polja zündet die Lampe an:  Ich will gleich alles besorgen … Ab.  
Pjotr: Des Abends ist's hier bei uns ganz besonders eng … und so ungemütlich. Alle diese

vorsintflutlichen Möbel wachsen gleichsam aus dem Boden, sie erscheinen noch größer, noch schwerfälliger … Sie nehmen die Luft weg, hindern einen am Atmen. Klopft gegen den Schrank.  Dieser Speiseschrank steht nun schon achtzehn Jahre auf einem Fleck … achtzehn Jahre … Man sagt, daß das Leben rasch dahinflute … nun, dieses Ungetüm hat es nicht um einen Zoll von der Stelle gebracht ...Wie oft hab ich mir als kleiner Junge an seiner Kante die Stirn wundgeschlagen … und auch jetzt steht es mir im Wege … Ein zu dummer Kasten … Das ist kein Schrank, sondern eine Art Symbol … der Teufel mag es holen!

Tatjana: Wie langweilig du bist, Pjotr, und deine Lebensweise … Das ist nicht gut für dich …
Pjotr: Was für eine Lebensweise?
Tatjana:  Du gehst gar nicht aus … Abend für Abend sitzt du oben bei Lena … das beunruhigt

die Alten … Pjotr geht pfeifend auf und ab, ohne ihr zu antworten.

Tatjana: Ich weiß nicht – ich bin jetzt immer so matt … In der Schule ermüdet mich der Lärm

und die Unordnung … und hier – die Stille und Ordnung. Seit Lena im Hause wohnt, geht es bei uns allerdings lustiger zu … Ja – ich bin wirklich sehr müde! Und bis zu den Feiertagen ist's noch so weit … November … Dezember … Die Uhr schlägt sechs.

Bessemjonow  steckt den Kopf durch die Tür seines Zimmers: Die Eingabe hast du natürlich

wieder nicht geschrieben?

Pjotr: Gewiß doch, gewiß – ich hab sie geschrieben …
Bessemjonow: So – hast du wirklich Zeit dafür gefunden? … He he! Verschwindet.
Tatjana:  Was für eine Eingabe?
Pjotr: Wegen Beitreibung von siebzehneinhalb Rubeln vom Kaufmann Sisow, für Anstreichen

eines Schuppendachs …

Akulina Iwanowna kommt mit einer Lampe herein:   Es regnet schon wieder. Geht an den

Schrank, nimmt Geschirr heraus und deckt den Tisch.  's ist so kalt bei uns. Man heizt und heizt – und es wird nicht warm. Ein altes Haus … da bläst der Wind durch … hu–u! Der Vater ist wieder so schlechtgelaunt, liebe Kinder … im Kreuz tut's ihm weh, sagt er. Wird auch schon alt. Und dabei die ewigen Mißerfolge … Ärger, große Ausgaben, Sorgen …

Tatjana  zum Bruder: Warst du gestern bei Lena?
Pjotr:  Ja …
Tatjana: War's lustig?
Pjotr: Wie immer … Tee wurde getrunken, es wurde gesungen … disputiert.
Tatjana: Wer hat disputiert?
Pjotr:  Ich mit Nil und Schischkin.
Tatjana:  Wie gewöhnlich …
Pjotr:  Ja. Nil war wieder der begeisterte Optimist … Ganz wütend hat er mich gemacht … wie er

so lospredigte, vom Lebensmut, von der Liebe zum Dasein … Lächerlich! Wenn man ihn hört, bekommt man ein ganz sonderbares Bild von diesem Dasein, das kein Mensch näher kennt ...Wie eine amerikanische Tante stellt man sich's vor, die im nächsten Augenblick auftauchen und dich mit allen möglichen Glücksgütern überschütten wird … Und Schischkin hielt wieder einen Vortrag über den Nutzen der Milch und die Schädlichkeit des Tabaks … Außerdem wies er mir nach, ich hätte die Denkweise eines Bourgeois.

Tatjana:  Immer dasselbe …
Pjotr:  Ja, wie gewöhnlich …
Tatjana:  Sag mal … gefällt dir Lena sehr?
Pjotr:  Sie ist ganz nett … So lustig ...
Akulina Iwanowna:  Eine windige Person ist's! Ein leichtsinniges Flittchen! Alle Tage hat sie

Gäste, immer Tee und Zucker ...Tanzen und Singen … Und dabei kann sie sich nicht mal 'nen Waschtisch kaufen! Wäscht sich in einem blechernen Waschbecken und spritzt die Dielen voll … das Haus ruiniert sie uns …

Tatjana  zu Pjotr:  Ich war gestern in Klub … zum Familienabend. Herr Stadtrat Somow, der

Kurator meiner Schule, hat mir kaum mit dem Kopf zugenickt … ja! Und wie die Mätresse des Richters Romanow in den Saal trat, flog er ihr förmlich entgegen, verneigte sich so tief vor ihr, als ob sie die Frau des Gouverneurs wäre, und küßte ihr die Hand ...

Akulina Iwanowna:  Der schamlose Kerl! Statt einem ehrbaren Mädchen den Arm zu geben und

es respektvoll durch den Saal zu führen … So vor allen Leuten …

Tatjana  zum Bruder:  Nein, denk doch mal! Eine Lehrerin verdient in den Augen dieser Leute

weniger Achtung als solch ein lasterhaftes, geschminktes Weib …

Pjotr:  Es lohnt sich nicht, auf solche … Gemeinheiten zu achten … Man muß über so etwas

erhaben sein … Das heißt – geschminkt ist sie nicht, wenn sie auch lasterhaft sein mag …

Akulina Iwanowna: Woher weißt du denn das? Hast ihr vielleicht die Backen abgeleckt? Man

hat seine Schwester beleidigt – und er verteidigt die Beleidigerin!

Pjotr: Mama! So misch dich doch nicht hinein …
Tatjana:  Nein, wenn Mama dabei ist, kann man wirklich kein Wort reden … Hinter der Tür zum

Hausflur lassen sich schwere Schritte vernehmen.

Akulina Iwanowna:  Nun, nun! Wie das gleich böse wird … Du, Pjotr, solltest lieber den

Samowar holen, statt hier die Schritte abzuzählen … Stepanida beklagt sich immer, daß er ihr zu schwer ist ...

Stepanida bringt den Samowar herein, stellt ihn neben den Tisch auf den Fußboden und

schnappt, während sie sich aufrichtet, nach Luft. Zur Hausfrau: Na, wie's Ihnen beliebt, aber das kann ich nur immer wieder sagen – um so 'nen Satan zu schleppen, dazu reichen meine Kräfte nicht aus. Die Beine knicken einem ja ein!

Akulina Iwanowna: Soll ich vielleicht extra jemanden dazu halten – wie?
Stepanida: Wie Sie wollen. Mag doch der Sänger ihn reintragen, dem macht's nichts aus. Pjotr

Wassilitsch, stellen Sie doch den Samowar auf den Tisch … ich bin zu schwach dazu!

Pjotr: Na, gib mal her … äh!
Stepanida: Dank auch schön. Ab.
Akulina Iwanowna:  Sie hat eigentlich recht, Petja – sag du es doch dem Sänger, er möcht immer

den Samowar reinbringen! Tu's doch!

Tatjana  seufzt schwermütig: Ach, mein Gott …
Pjotr: Soll ich ihm nicht auch sagen, er soll Wasser vom Brunnen holen, die Dielen scheuern, den

Schornstein fegen und womöglich die Wäsche waschen?

Akulina Iwanowna  mit einer ärgerlichen Handbewegung nach Pjotr: Rede doch keinen

Unsinn! Das alles wird ja besorgt, auch ohne ihn … Aber den Samowar hereinbringen ...

Pjotr: Mama! Jeden Abend bringst du diese schicksalsschwere Frage aufs Tapet – die Frage, wer

den Samowar hereinbringen soll. Und glaube mir, diese Frage wird nicht eher entschieden werden, als bis ihr euch einen Hausknecht mietet …

Akulina Iwanowna: Was, zum Kuckuck, soll uns ein Hausknecht? Der Vater macht doch alles

selber, was im Haus nötig ist …

Pjotr:  Das nennt man eben knauserig sein … Und knausern ist nicht hübsch von jemandem, der

Geld auf der Bank liegen hat …

Akulina Iwanowna:  Pst! Still doch! Wenn dich der Vater hört – der wird dir die Bank

anstreichen! Hast du vielleicht das Geld auf die Bank getragen?

Pjotr: Hör mal, Mama!
Tatjana aufspringend:  Petja, hör du wenigstens auf … Die Geduld geht einem aus …
Pjotr tritt auf sie zu:  Na, so schrei doch nicht! Eh man sich's versieht, steckt man mittendrin in

diesen Zänkereien ...

Akulina Iwanowna:  Da, wie sie sich haben! Der eigenen Mutter erlauben sie nicht, ein Wort zu

sagen …

Pjotr: Jeden Tag und jeden Tag – immer dasselbe … Wie Rost legt es sich einem von diesen

Reibereien auf die Seele, wie eine Staubschicht …

Akulina Iwanowna ruft in die Tür ihres Zimmers hinein:  Vater! Komm Tee trinken ...
Pjotr:  Sobald die Frist meiner Ausschließung von der Universität abgelaufen ist, geh ich wieder

nach Moskau. Dann komm ich hierher immer nur höchstens auf eine Woche, wie früher. In den drei Jahren, die ich auf der Universität verbrachte, hab ich mich ganz entwöhnt von zu Hause … von dieser Knickerei, diesem kläglichen Spießbürgertum. Nichts Schöneres gibt's, als so für sich zu leben, fern von den sogenannten Annehmlichkeiten des Vaterhauses …

Tatjana:  Ich kann leider nirgends hingehen …
Pjotr: Ich sage dir doch – besuch die Kurse ...
Tatjana:  Ach, was sollen mir die Kurse? Ich will leben, leben, und nicht lernen … verstehst du?
Akulina Iwanowna  nimmt die Teekanne vom Samowar, verbrennt sich dabei die Hand und

schreit auf: Ach, daß dich das Mäuschen beiße!

Tatjana  zum Bruder:  Und dabei weiß ich gar nicht, was leben heißt – hab gar keine Vorstellung

davon! Werde ich's überhaupt können?

Pjotr: Hm – ja, man muß es verstehen, zu leben … klug muß man's anfassen ...
Bessemjonow  tritt aus seinem Zimmer, wirft einen Blick auf seine Kinder und nimmt am Tisch

Platz:  Habt ihr die Kostgänger gerufen?

Akulina Iwanowna:  Petja! Ruf sie doch … Pjotr ab; Tatjana tritt an den Tisch heran.
Bessemjonow: Habt ihr wieder Würfelzucker gekauft? Wie oft hab ich euch gesagt …
Tatjana:  Aber, Papa, ist denn das nicht ganz gleich?
Bessemjonow:  Ich rede nicht mit dir, sondern mit der Mutter. Dir ist natürlich alles gleich, das

weiß ich.

Akulina Iwanowna:  Nur ein Pfund hab ich davon gekauft, Vater! 's ist noch ein ganzer Hut da,

aber es war keine Zeit, welchen zu klopfen … Sei nicht böse! …

Bessemjonow:  Ich bin durchaus nicht böse … Ich sage nur: gesägter Zucker zieht Feuchtigkeit

an und ist nicht süß, also ist's unpraktisch, ihn zu kaufen. Zucker muß immer im Hut gekauft und zu Hause geklopft werden. Das gibt freilich Krümel … aber die kann man wieder beim Kochen verbrauchen. So bleibt der Zucker süß … und ist bekömmlich. Zu Tatjana. Was ziehst du wieder die Stirn kraus und seufzest?

Tatjana: Nichts, nichts … nur so ...
Bessemjonow:  Wenn dir nichts fehlt, dann laß gefälligst das Seufzen. Fällt's dir so schwer,

zuzuhören, wenn dein Vater etwas sagt? Nicht meinetwegen rede ich, sondern um euretwillen, ihr junges Volk. Wir sind fertig mit dem Leben, ihr – sollt erst noch anfangen zu leben. Wenn man euch so ansieht, begreift man's wirklich nicht, wie ihr's eigentlich halten wollt mit eurem Leben. Was für Absichten habt ihr? Unsre Ordnung hier gefällt euch nicht, das sehen und fühlen wir … Was für eine Ordnung aber habt ihr euch ausgedacht? Das ist die Frage! Hm – ja …

Tatjana:  Papa, sag doch – zum wievielten Mal hör ich das schon von dir?
Bessemjonow: Und ich werde es dir immer und immer wieder sagen, bis ans Grab! Denn ich

fühle mich beunruhigt – beunruhigt durch die Sorge um euch … Es war unrecht von mir und unüberlegt, daß ich euch eine bessere Bildung habe geben lassen … Jetzt habe ich die Bescherung: Pjotr ist von der Universität weggejagt, und du – bist eine alte Jungfer geblieben …

Tatjana:  Ich arbeite … ich …
Bessemjonow:  Weiß ich, weiß ich. Aber wer hat Nutzen von deiner Arbeit? Deine

fünfundzwanzig Rubel monatlich – kein Mensch braucht sie, auch du selbst nicht. Heirate, leb, wie es Sitte und Ordnung verlangt – und ich will dir selbst fünfzig Rubel monatlich zahlen …

Akulina Iwanowna rückt während des Gesprächs zwischen Vater und Tochter unruhig auf dem

Stuhl hin und her, versucht ein paarmal etwas zu sagen, und fragt schließlich in schmeichelndem Tone:  Vater, möchtest du nicht … etwas Käsekuchen? Es ist noch etwas von Mittag da … hm?

Bessemjonow  dreht sich nach ihr um, sieht sie erst ärgerlich an; dann, in den Bart

hineinlächelnd:  Na, bring ihn mal her, deinen Käsekuchen … bring ihn, he he!

Akulina Iwanowna eilt geschäftig zum Schrank.  
Bessemjonow  zu Tatjana:  Sieh doch, wie eure Mutter euch vor mir beschützt: wie 'ne Ente, die

ihre Jungen gegen einen Hund verteidigt … Immerfort zittert und zagt sie, daß ich euch ja nicht mit einem Wort weh tue! … Ah, unser Vogelhändler! Na, bist du endlich da? Wir dachten schon, du wärst verlorengegangen!

Pertschichin erscheint in der Tür; hinter ihm Polja, mit leisem Schritt:  Friede diesem Hause,

dem graubärtigen Hausherrn, der schönen Hausfrau, den lieben Kindern – von Ewigkeit zu Ewigkeit!

Bessemjonow:  Hast wieder mal ein Gläschen Branntwein genehmigt?
Pertschichin: Aus Gram!
Bessemjonow:  Worüber denn?
Pertschichin  erzählt, während er die Anwesenden begrüßt: Einen Finken hab ich heut verkauft

… Drei Jahre lang hab ich ihn gehalten … getrillert hat er wie'n Tiroler – und jetzt hab ich ihn verschachert! Da kam ich mir so recht gemein vor – und fühlte Gewissensbisse. Der Vogel tat mir leid … ich hatte mich an ihn gewöhnt … ich liebte ihn … Polja nickt lächelnd dem Vater zu.

Bessemjonow: Warum hast du ihn dann verkauft?
Pertschichin  geht, sich an den Stuhllehnen festhaltend, um den Tisch herum:  Man hat mir einen

guten Preis geboten …

Akulina Iwanowna: Wozu brauchst du denn das Geld? Verjubelst doch wieder alles …
Pertschichin lächelnd:  Stimmt, Mütterchen. Geld hält sich nicht lange bei mir … das stimmt!
Bessemjonow: Hattest also umso weniger Grund, ihn zu verkaufen ...
Pertschichin: Doch, doch … ich hatte 'nen Grund. Er war nämlich schon halb blind, der arme

Vogel … wär also sicher bald draufgegangen …

Bessemjonow  lachend:  Sieh mal an! So ganz dumm bist du doch nicht …
Pertschichin: Meinst, ich hätte es aus Klugheit getan? Nein, nur aus niedriger Gesinnung …

Pjotr und Teterew treten ein.  

Tatjana: Und wo ist Nil?
Pjotr:  Er ist mit Schischkin zur Probe gegangen.
Bessemjonow:  Wo wollen sie denn spielen?
Pjotr: In der Reitbahn. Es ist eine Vorstellung für Soldaten.
Pertschichin  zu Teterew:  Dem Sänger Gottes – meine Hochachtung! Wollen wir mal zusammen

auf den Meisenfang gehen, Onkelchen?

Teterew:  Meinetwegen. Aber wann?
Pertschichin:  Morgen, wenn's sein muß.
Teterew: Morgen geht's nicht. Ich hab ein Begräbnis …
Pertschichin:  Gleich früh? Vor dem Hochamt?
Teterew:  Das ginge. Hol mich ab. Akulina Iwanowna, ist vielleicht etwas vom Mittagessen

übrig? Etwas Grütze, oder sowas in der Art?

Akulina Iwanowna: Ja doch, mein Lieber, 's ist was da. Polja, hol's doch mal … Polja ab.
Teterew:  Danke verbindlichst. Hab nämlich, wie Sie wissen, heut nicht zu Mittag gegessen –

hatte ein Begräbnis und 'ne Hochzeit …

Akulina Iwanowna: Ich weiß, ich weiß … Pjotr nimmt ein Glas Tee und geht damit in das

Zimmer hinter dem Bogen. Bessemjonow blickt ihm forschend, Teterew feindselig nach. Ein paar Sekunden lang trinken und essen alle schweigend.

Bessemjonow:  Du verdienst ja in diesem Monat recht schön, Terentij Chrisanfowitsch! Fast

jeden Tag ein Begräbnis!

Teterew: Es macht sich. Ich kann nicht klagen.
Bessemjonow: Auch die Hochzeiten sind häufig ...
Teterew: Ja, auch geheiratet wird flott ...
Bessemjonow:  Spar dir 'nen Batzen Geld zusammen und heirate dann selber.
Teterew:  Hab keine Lust dazu … Tatjana geht zu ihrem Bruder; sie unterhalten sich leise.
Pertschichin:  Heirate nicht, hat keinen Zweck! Für uns Sonderlinge taugt das Heiraten nicht.

Wollen lieber Gimpel fangen gehen …

Teterew:  Ganz meine Meinung …
Pertschichin:  Gimpel fangen – das ist 'ne herrliche Sache! Eben ist frischer Schnee gefallen, die

Erde prangt wie in einem österlichen Meßgewand … Ringsum ist alles so still, so rein, so strahlend. Wenn gar noch die Sonne scheint, dann singt die Seele vor Freude! An den Bäumen schillert noch goldig das herbstliche Laub, doch schon sind die Zweige bedeckt mit silbernem, weichem Schnee … Und mitten in diese anmutige Pracht flattert plötzlich gurly! Gurly! – vom Himmel ein Schwarm von roten Vögeln nieder – zwi! zwi! zwi! Wie wenn ein Mohnfeld erblühte! So niedliche kleine Vögelchen, so würdevoll – wie Generale! Sie hüpfen auf und ab, sie pfeifen und gurren – wirklich rührend ist's! Am liebsten möcht man selbst ein Gimpel werden und mit ihnen im Schnee scharren … Äh! …

Bessemjonow: Ein dumme Vogel, der Gimpel …
Pertschichin: ich bin doch auch dumm …
Teterew:  Kannst aber hübsch erzählen …
Akulina Iwanowna zu Pertschichin: Ein richtiges Kind bist du …
Pertschichin:  Gar zu gern fang ich die lieben Vögelchen! Was gibt's Schöneres auf der Welt als

'nen Singvogel?

Bessemjonow: Es ist aber Sünde, Vögel zu fangen. Weißt du das auch?
Pertschichin:  Ich weiß es … Aber wenn ich sie so liebhabe! Und dann versteh ich doch sonst

nichts. Ich meine, daß jede Beschäftigung durch die Liebe geheiligt wird …

Bessemjonow:  Jede?
Pertschichin:  Jede.
Bessemjonow:  Und wenn zum Beispiel jemand es liebt, fremdes Eigentum in die Tasche zu

stecken?

Pertschichin: Das ist keine Beschäftigung mehr, sondern Spitzbüberei.
Bessemjonow:  Hm ... genau besehen …
Akulina Iwanowna gähnt: O – ah! 's ist so langweilig … Hättest deine Gitarre mitbringe sollen,

Terentij Chrisanfowitsch … hättest uns was vorgespielt …

Teterew: Wie ich hierher zog, verehrte Akulina Iwanowna, hab ich nicht die Verpflichtung

übernommen, sie zu erheitern …

Akulina Iwanowna hat ihn nicht verstanden:  Wie sagtest du?
Teterew: Hab's doch deutlich genug gesagt!
Bessemjonow  erstaunt und zugleich aufgebracht: Ich kann mich nur wunden, Terentij

Chrisanfowitsch, wenn ich dich so anseh. Du bist doch … nimm den Ausdruck nicht übel … ein ganz kläglicher Mensch … ein Habenichts sozusagen, aber einen Stolz hast du in dir – ganz wie ein Edelmann! Woher kommt das?

Teterew ruhig:  Das ist mir so angeboren.
Bessemjonow: Sag mir doch gefälligst einmal – worauf bist du so stolz?
Akulina Iwanowna: Er treibt doch nur Narrenspossen. Worauf könnt er wohl stolz sein?
Tatjana:  Mama!
Akulina Iwanowna  fährt zusammen: Was denn? Was willst du? Tatjana schüttelt vorwurfsvoll

den Kopf.

Akulina Iwanowna:  Hab ich wieder was Unpassendes gesagt? Na, ich will schon still sein …

Gott mit euch!

Bessemjonow gekränkt: Du, Mutter, drück deine Gedanken vorsichtiger aus! Wir leben hier

unter gebildeten Menschen. Sie sehen gleich alles – wie heißt es doch? – »kritisch« an, vom Standpunkt der Wissenschaft und der höheren Einsicht. Und wir beiden sind doch alte, dumme Leutchen ...

Akulina Iwanowna gutmütig:  Gewiß doch! Was soll man schon sagen … sie wissen ja alles

besser!

Pertschichin:  's ist richtig, Bruder, was du da sagtest. Hast zwar im Scherz gesprochen, aber 's ist

doch richtig …

Bessemjonow: Ich hab nicht im Scherz gesprochen …
Pertschichin:  Erlaub mal! Die alten Leute sind wirklich ein dummes Volk …
Bessemjonow:  Wenn man dich so ansieht, könnte man's wohl glauben ...
Pertschichin:  Ich komm hier nicht in Frage. Ich bin sogar der Meinung: wenn's keine alten Leute

gäbe, so gäb's auch keine Dummheiten … Wenn ein alter Mensch denkt, ist's gerade, als ob feuchtes Holz brennen würde: es gibt mehr Qualm als Feuer …

Teterew  lächelnd:  Ganz recht … Polja sieht schweigend den Vater an und streichelt mit der

Hand seine Schulter.

Bessemjonow  finster, zu Pertschichin:  So, so! Na, schwatz mal weiter … Pjotr und Tatjana

brechen ihre Unterhaltung ab und schauen lächelnd auf Pertschichin.

Pertschichin in lebhaftem Plauderton: Alte Leute sind vor allem – Dickköpfe. So 'n alter Mann

sieht, dass er unrecht hat, und fühlt, daß er nichts versteht, aber eingestehen wird er's nie. Sein Stolz erlaubt's nicht! Da hat er nun gelebt und gelebt, hat vielleicht vierzig Paar Hosen abgetragen – und mit einemmal soll er nichts mehr verstehen! Wie ist das möglich? Das kränkt ihn doch! Na, und so wiederholt er denn in einem fort: Ich bin alt, also hab ich recht. Und 's ist nicht wahr. Sein Kopf ist schwerfällig geworden … Bei den jungen Leuten aber sind die Köpfe klar und fassen leicht …

Bessemjonow  grob:  Das ist ja Unsinn, was du da schwatzt … Sag mal: wenn wir schon so

dumm sind, dann sollte man uns doch belehren?!

Pertschichin:  Bewahre! Das wäre gerade so, als wollt man mit Pfeilen auf Steine schießen – nur

die Pfeile gehen dabei zuschanden …

Bessemjonow:  Wart, unterbrich mich nicht. Ich bin älter als du. Ich frag dich nur: warum

verstecken sich die klaren Köpfe vor uns Alten in den Winkeln und schneiden uns von dort aus Grimassen, statt sich mit uns auszusprechen? Darüber denk mal nach … Und auch ich will darüber nachdenken … allein, in meiner Kammer … wenn ich schon für eure Gesellschaft zu dumm bin … Rückt geräuschvoll seinen Stuhl fort; in der Tür seines Zimmers.  … meine gebildeten Kinder! … Pause.

Pertschichin  zu Pjotr und Tatjana:  Kinderchen – warum habt ihr den Alten nur so gekränkt?
Polja  lächelnd:  Du bist's doch, der ihn gekränkt hat! …
Pertschichin: Ich? In meinem ganzen Leben hab ich noch keinen Menschen gekränkt!
Akulina Iwanowna: Ach, meine Lieben! Nicht schön geht's bei uns zu! … Warum habt ihr den

Vater nur beleidigt? Ihr seid alle so hochmütig, so mäkelig … und er ist alt, er braucht Ruhe … Ihr sollt ihn ehren … er ist doch der Vater! Ich will zu ihm gehen. Zu Polja: Pelageja, wasch das Geschirr ab ...

Tatjana tritt an den Tisch heran:  Weshalb ist denn der Vater so aufgebracht über uns?
Akulina Iwanowna  in der Tür: Lauf nur immer vor ihm weg, du … kluge Tochter!

Polja wäscht das Teegeschirr ab; Teterew sitzt, auf die Ellbogen gestützt am Tisch und schaut ihr düster ins Gesicht. Pertschichin geht zu Pjotr hin und setzt sich zu ihm; Tatjana geht langsam in ihr Zimmer.


Polja
 zu Teterew: Warum gucken Sie mich denn so an?
Teterew: Darum …
Pertschichin zu Pjotr: Worüber denkst du nach, Petja?
Pjotr:  Ich möchte fort von hier – irgendwohin ...
Pertschichin: Ich wollte dich schon lange mal fragen – sag mir doch, bitte: was versteht man

unter Kanalisation?

Pjotr:  Warum willst du es wissen? Dir das so klar zu machen, dass du es richtig begreifst –

würde lange dauern … und recht langweilig sein …

Pertschichin: Weißt du es überhaupt?
Pjotr:  Gewiß weiß ich's ...
Pertschichin sieht Pjotr ungläubig ins Gesicht: Hm ...
Polja: Wie lange Nil Wassiljewitsch heut ausbleibt!
Teterew:  Was für hübsche Augen Sie haben!
Polja:  Das haben Sie auch gestern schon gesagt.
Teterew: Und ich werde es auch morgen wieder sagen …
Polja:  Warum?
Teterew:  Das weiß ich nicht … Sie denken vielleicht, ich bin verliebt in Sie?
Polja:  Du mein Gott! Ich denke überhaupt nichts.
Teterew:  Nichts? Das ist schade. Sie sollten doch auch mal nachdenken …
Polja: Worüber denn?
Teterew:  Nun, vielleicht darüber, warum ich mich Ihnen so aufdränge. Denken Sie mal darüber

nach, und sagen Sie es mir …

Polja: Was für ein Sonderling sind Sie doch!
Teterew:  Das weiß ich. Sie haben mir das schon früher gesagt. Und ich sage Ihnen heut wieder,

wie schon früher: gehen Sie fort von hier! Es ist für Sie nicht gut, daß Sie in diesem Hause bleiben … verlassen Sie es!

Pjotr:  Sie machen eine Liebeserklärung? Soll ich vielleicht hinausgehen?
Teterew: Nein, bemühen Sie sich nicht! Ich betrachte Sie als einen leblosen Gegenstand …
Pjotr: Das war nicht sehr geistreich …
Polja zu Teterew: Was für ein Händelsucher sind Sie doch! Teterew tritt zur Seite und lauscht

aufmerksam auf die Unterhaltung, die Pjotr und Pertschichin miteinander führen.

Tatjana  kommt, während sie einen Schal umnimmt, aus ihrem Zimmer, setzt sich ans Klavier und

blättert in den Noten: Ist Nil noch nicht da?

Polja: Nein …
Pertschichin: 's ist langweilig … Sag mal, Petja: ich hab da neulich im Blatt gelesen, daß man in

England fliegende Schiffe gebaut hat. Ein Schiff, ganz wie sich's gehört – aber wenn man sich reinsetzt und auf 'nen Knopf drückt, dann fliegt's gleich – heidi! Wie 'n Vogel in die Luft, bis dicht an die Wolken, und trägt einen Gott weiß wohin … Viele Engländer sollen auf die Art schon spurlos verschwunden sein. Stimmt das, Petja?

Pjotr:  Unsinn!
Pertschichin: Aber es war doch gedruckt zu lesen …
Pjotr:  Wieviel Unsinn wird schon gedruckt!
Pertschichin:  Wirklich so viel? Tatjana spielt leise eine traurige Melodie.
Pjotr ärgerlich: Natürlich! Sehr viel!
Pertschichin: So werde doch nicht gleich böse! Warum guckt ihr jungen Leute uns Alte nur

immer so von oben herab an? Nicht mal reden wollt ihr mit uns. Das ist nicht schön!

Pjotr:  Sprich weiter!
Pertschichin: Weiter seh ich … daß ich von hier fortgehen muß. Ich falle dir zur Last. Polja,

kommst du bald nach Hause?

Polja:  Ich räume nur noch auf … Verläßt das Zimmer; Teterew folgt ihr mit den Blicken.
Pertschichin: Hm – ja. Hast wohl schon vergessen, Petja, wie wir zusammen Zeisige gefangen

haben? Damals hast du mich gern gehabt …

Pjotr:  Ich habe dich auch jetzt noch gern ...
Pertschichin:  Ich seh's und fühl's … wie du mich gern hast!
Pjotr:  Damals liebte ich auch Kandis und Pfefferkuchen – und jetzt nehm ich beides nicht in den

Mund …

Pertschichin:  Hab's verstanden … Onkel Terentij – gehen wir ein Glas Bier trinken?
Teterew:  Bin nicht aufgelegt dazu …
Pertschichin: Dann geh ich allein. In der Schenke geht's wenigstens lustig zu, und ungeniert.

Hier bei euch stirbt man ja vor lauter Langeweile – 's ist wirklich wahr! Ihr tut nichts … Ihr habt keine Passionen … Möchtet ihr nicht Karten spielen? Wir sind gerade zu vieren … Teterew sieht auf Pjotr und lächelt.

Pertschichin:  Habt keine Lust dazu? Na, wie ihr wollt … Lebt wohl! Gehen wir?
Teterew:  Nein … Pertschichin ab, mit einer hoffnungslosen Handbewegung. Pause von einigen

Sekunden. Man vernimmt deutlich die leisen Noten des Musikstückes, das Tatjana langsam durchübt. Pjotr liegt auf der Chaiselongue, hört zu und pfeift die Melodie mit. Teterew steht vom Stuhl auf und schreitet im Zimmer auf und ab. Im Hausflur, hinter der Tür, fällt ein metallener Gegenstand – ein Eimer, oder das Abzugsrohr des Samowars – mit Gepolter zu Boden. Man vernimmt Stepanidas Stimme: »Dich reitet wohl der Teufel ...«

Tatjana ohne ihr Spiel zu unterbrechen: Wie lange Nil heut ausbleibt …
Pjotr:  Kein Mensch läßt sich sehen …
Tatjana:  Du erwartest Lena?
Pjotr:  Irgend jemanden …
Teterew: Kein Mensch wird zu euch kommen …
Tatjana: Wie mürrisch Sie immer sind …
Teterew:  Kein Mensch wird zu euch kommen, weil bei euch nichts zu holen ist …
Pjotr: Also sprach Terentij, der Kirchsänger …
Teterew eigensinnig: Habt ihr wohl bemerkt, daß selbst dieser alte Saufaus von Vogelhändler

einen lebendigen Geist, eine lebendige Seele hat, während ihr beiden, die ihr an der Schwelle des Lebens steht, schon halbtot seid?

Pjotr:  Und Sie? Wie denken Sie über sich selbst?
Tatjana  erhebt sich vom Stuhl: Hören Sie auf, meine Herren! Lassen Sie diese alten

Geschichten! Sie haben schon so oft über dieses Thema gestritten …

Pjotr:  Mir gefällt Ihr Stil, Terentij Chrisanfowitsch … Und auch Ihre Rolle gefällt mir … die

Rolle eines Richters, der uns allen das Urteil spricht … Nur möcht ich gern wissen, warum Sie eigentlich diese Rolle spielen … Sie sprechen immer so, als trügen Sie uns einen Bittgesang für die Seele eines Verstorbenen vor …

Teterew:  Einen solchen Bittgesang gibt es nicht …
Pjotr: Gleichviel. Ich will nur sagen, daß Sie uns beide nicht lieben …
Teterew: Da mögen Sie recht haben.
Pjotr:  Danke für Ihre Offenherzigkeit. Polja tritt ein.
Teterew:  Wohl bekomm's!
Polja:  Was geben Sie denn hier zum besten?
Tatjana:  Grobheiten.
Teterew:  Oder vielmehr Wahrheiten …
Polja:  Und ich geh ins Theater … Wer kommt mit?
Teterew: Ich …
Pjotr:  Was wird heut gegeben?
Polja:  »Die zweite Jugend« … Kommen Sie mit, Tatjana Wassiljewna?
Tatjana: Nein … Ich werde in dieser Saison kaum ins Theater gehen. Es macht mir kein

Vergnügen. Alle diese Dramen mit Pistolenschüssen, Wehgeschrei und Schluchzen ärgern mich nur. Teterew schlägt mit dem Finder eine Klaviertaste an, ein tiefer, melancholischer Ton klingt durchs Zimmer.  Das alles ist so unwahr. Das Leben zerbricht die Menschen geräuschlos, ohne Geschrei … ohne Tränen … ganz unmerklich …

Pjotr finster:   Immer nur die Leiden der Liebe wissen sie in ihren Stücken darzustellen. Die

Dramen jener Unglücklichen aber, deren Seelen sich im Kampf zwischen Wollen und Müssen aufreiben – die sehen sie nicht. … Teterew fährt lächelnd fort, auf den Baßstasten zu trommeln.

Polja  verlegen lächelnd:  Und mir gefällt's im Theater … sehr! Zum Beispiel »Don Cesar de

Bazan, der spanische Edelmann« … wie wunderbar schön ist das! Ein wahrer Held …

Teterew:  Bin ich ihm ähnlich?
Polja:  I, wo denken Sie hin! Nicht ein bißchen …
Teterew lächelt: So? Das tut mir leid!
Tatjana:  Wenn ich höre, wie ein Schauspieler auf der Bühne eine Liebeserklärung macht, kann

ich wütend werden … So was gibt's doch in Wirklichkeit nicht, gibt's doch nicht!

Polja:  Nun, ich gehe … Terentij Chrisanfowitsch, kommen Sie?
Teterew  hört auf zu klimpern:  Nein. Ich geh nicht mit Ihnen, wenn Sie an mir gar keine

Ähnlichkeit mit dem spanischen Edelmann finden … Polja lachend ab.

Pjotr  sieht ihr nach: Was will sie mit diesem spanischen Edelmann?
Teterew:  Ihr gefällt jedenfalls das Kernige, Gesunde in ihm …
Tatjana:  Und dann trägt er auch ein schönes Kostüm ...
Teterew: Und ist ein lustiger Kumpan … Ein lustiger Mensch ist meist auch ein guter Charakter

… Schurken pflegen selten lustig zu sein.

Pjotr:  Danach müssten Sie der größte Halunke der Welt sein …
Teterew  läßt wieder tiefe, leise Töne auf dem Klavier erklingen:  Ich bin einfach – ein Säufer.

Wissen Sie, warum es bei uns zu Lande so viele Säufer gibt? Weil's bequem ist, ein Säufer zu sein. In unserm lieben Rußland liebt man die Säufer. Die kühnen Menschen, die nach Neuem streben, sind bei uns verhaßt – die Schnapsbrüder aber liebt man. Weil's nämlich immer bequemer ist, das Kleine, Erbärmliche zu lieben, als das Große und Schöne …

Pjotr  schreitet im Zimmer auf und ab:  In unserm Rußland … in unserm Rußland … Wie

sonderbar das klingt! Gehört denn Rußland uns? Mir? Ihnen? Was sind wir überhaupt? Wer sind wir?

Teterew klimpert und singt: Wir sind fra-eie Vögel ...
Tatjana:  Terentij Chrisanfowitsch, hören Sie doch auf mit dem Geklimper … Das ist ja das reine

Grabgeläut …

Teterew trommelt weiter auf den Tasten herum: Ich mache nur die Begleitmusik zu unserer

Stimmung … Tatjana ärgerlich ab nach dem Hausflur.

Pjotr nachdenklich:  N–ja … Sie … Aber wirklich, hören Sie auf mit dem Gebimmel, es fällt

einem auf die Nerven … Ich glaube, wenn ein Franzose oder Engländer sagt, Frankreich oder England – dann versteht er sicherlich unter diesen Worten etwas Reelles, sinnenmäßig Faßbares … etwas, das er deutlich begreift … Wenn ich dagegen »Rußland« sage, so habe ich das Gefühl, daß das für mich nur ein leerer Schall ist. Ich bin nicht imstande, in dieses Wort irgendeinen klaren Inhalt hineinzulegen. Pause. Teterew fährt fort, auf den Tasten zu trommeln. Es gibt viele Worte, die man so aus Gewohnheit hinspricht, ohne daran zu denken, was sich hinter ihnen verbirgt ... Das Leben … Mein Leben … was ist beispielsweise der Inhalt dieser beiden Worte? Schreitet schweigend auf und ab. Teterew läßt immer noch das melancholische Getön erschallen und folgt starr lächelnd Pjotr mit den Blicken …  Der Teufel hat mich verführt, an diesen dummen Studentenunruhen teilzunehmen. Ich ging auf die Universität, um zu lernen, und ich habe gelernt … So lassen Sie doch endlich dieses Herumtrommeln! … Kein Regime hat mich verhindert, das römische Recht zu studieren … nein! Ich habe nichts von Zwang empfunden, auf Ehre und Gewissen kann ich das sagen. Nur das Regime der Kameradschaft habe ich verspürt, dem habe ich mich untergeordnet. Und so wurden einfach zwei Jahre aus meinem Leben ausgestrichen … ja! Das ist eine Grausamkeit, eine Vergewaltigung – nicht wahr? Ich dachte, meine Studien zu beenden, Jurist zu werden, zu arbeiten … ich wollte lesen, beobachten … wollte leben …

Teterew  souffliert ihm ironisch:  Den Eltern zur Freude, der Kirche und dem Vaterland zum

Nutzen, in der Rolle eines bescheidenen Dieners der Gesellschaft …

Pjotr:  Der Gesellschaft? Die ist es eben, die ich hasse. Sie steigert beständig ihre Anforderungen

an das Individuum, aber sie gibt ihm nicht die Möglichkeit, sich normal und ungehindert zu entwickeln … »Der Mensch soll vor allem Staatsbürger sein!« schrie mir die in meinen Kameraden verkörperte Gesellschaft ins Ohr. Und ich wurde ein Staatsbürger! … Der Teufel mag sie holen … Ich … mag nicht … bin nicht verpflichtet, mich den Forderungen der Gesellschaft zu fügen! Ich bin eine Persönlichkeit! Eine freie Persönlichkeit … Hören Sie doch endlich auf … mit dieser verdammten Katzenmusik …

Teterew:  Ich begleite Sie doch nur … Sie Kleinbürger, der eine halbe Stunde lang Staatsbürger

war! Man hört Lärm hinter der Tür, die zum Hausflur führt.

Pjotr erregt: Machen Sie sich nicht lustig über mich! Teterew blickt Pjotr herausfordernd an

und fährt fort, auf die Tasten zu schlagen. Nil, Jelena, Schischkin, die Zwetajewa treten ein; gleich hinter ihnen Tatjana.

Jelena: Was bedeutet denn dieses Grabgeläut? Guten Abend, Sie schrecklicher Menschenfeind!

Guten Abend, Staatsanwalt in spe! Was haben Sie denn hier getrieben?

Pjotr mürrisch: Dummes Zeug …
Teterew: Ich hab einem Menschen, der vorzeitig verblichen ist, die Sterbeglocken geläutet …
Nil  zu Teterew:  Hör mal – ich habe eine Bitte an dich! Flüstert ihm etwas ins Ohr; Teterew nickt

mit dem Kopf.

Zwetajewa:  Ach, Herrschaften – auf der Probe war's heute wirklich sehr interessant!
Jelena: O Staatsanwalt – wenn Sie wüßten, wie heftig mir heute der Leutnant Bykow die Cour

geschnitten hat!

Schischkin: Ein richtiges Kalb, dieser Bykow …
Pjotr:  Wie kommen Sie auf die Vermutung, daß es mich interessiert, wer Ihnen die Cour

schneidet?

Jelena: Ah, Sie sind nicht bei Laune?
Zwetajewa:  Pjotr Wassiljewitsch ist nie bei Laune.
Schischkin:  Das ist sein gewöhnlicher Geisteszustand.
Jelena: Tanetschka! Auch du bist, wie immer, melancholisch – die reine Septembernacht!
Tatjana: Ja, wie gewöhnlich …
Jelena: Und ich bin furchtbar vergnügt. Sagen Sie, meine Herrschaften – wie kommt es, daß ich

immer so vergnügt bin?

Nil: Ich verweigere die Antwort auf Ihre Frage – bin nämlich selbst immer sehr vergnügt.
Zwetajewa:  Und ich auch! …
Schischkin:  Ich bin's zwar nicht immer, aber doch …
Tatjana:  Fortwährend ...
Jelena: Tanetschka! Du machst Witze! Das ist reizend! Sie, Menschenfeind, antworten Sie mal –

warum bin ich vergnügt?

Teterew:  Oh, Sie verkörperter Leichtsinn!
Jelena:  Was sagten Sie?! Na, warten Sie! An diese Worte will ich denken, wenn Sie mir Ihre

Liebeserklärung machen werden!

Nil: Das heißt – ich möcht vor allem etwas essen … Ich muß gleich wieder zum Dienst antreten


Zwetajewa: Für die ganze Nacht? Sie Ärmster!
Nil:  Für vierundzwanzig Stunden! … Ich will mal in die Küche gehen und Stepanida meine

Aufwartung machen …

Tatjana:  Ich will's ihr sagen … Ab mit Nil.
Teterew  zu Jelena: Erlauben Sie … muß ich mich denn in Sie verlieben?
Jelena auf ihn zuschreitend: Ja, Sie kecker Mensch! Ja, Sie finstres Scheusal! Ja! Ja!
Teterew retiriert vor ihr:  Nun, ich gehorche … Es fällt mir gar nicht schwer … Ich war einmal

gleichzeitig in zwei junge Damen und eine verheiratete Frau verliebt …

Jelena  immer noch auf ihn losschreitend: Nun – und? …
Teterew:  Es war erfolglos …
Jelena halblaut, mit den Augen auf Pjotr hinweisend: Was hatten Sie mit ihm? Teterew lacht; sie

sprechen leise miteinander.

Schischkin  zu Pjotr: Sag mal, Bruder – kannst du mir nicht einen Rubel borgen? Nur auf drei

Tage – meine Stiefel sind kaputt, verstehst du ...

Pjotr:  Da … Jetzt sind's im ganzen sieben ...
Schischkin: Ich merk mir's schon ...
Zwetajewa:  Pjotr Wassiljewitsch! Warum spielen Sie bei unsern Theatervorstellungen nicht mit?
Pjotr:  Ich habe nicht das Zeug zum Schauspieler …
Schischkin: Ja – haben wir's denn?
Zwetajewa:  Kommen Sie doch wenigstens zu den Proben! Diese kleinen Soldaten sind furchtbar

interessant. Einer von ihnen, Schirkow heißt er, ist ein so prächtiger Junge. So naiv und drollig, und dann lächelt er immer so freundlich-verlegen … und kann gar nichts begreifen …

Pjotr  beobachtet Jelena von der Seite:  Na, das kann ich nicht recht verstehn – wie Leute, die

nichts begreifen, interessant sein können!

Schischkin:  Es sind doch auch noch andere da außer Schirkow …
Pjotr:  Meinetwegen eine ganze Kompanie …
Zwetajewa:  Wie kann man nur so reden? Ich begreife Sie wirklich nicht – was ist denn das bei

Ihnen? Sie wollen wohl den Aristokraten herausbeißen?

Teterew  plötzlich, mit lauter Stimme:  Mitleid kenne ich nicht …
Jelena:  Pß-ß-ßt …
Pjotr: Wie Sie wissen, bin ich ein Kleinbürger.
Schischkin: Umso unbegreiflicher ist dein Verhalten gegen das einfache Volk ...
Teterew: Auch mit mir hat nie ein Mensch Mitleid gehabt.
Jelena halblaut: Wissen Sie nicht, daß man Böses mit Gutem vergelten soll?
Teterew:  Hab kein Verständnis für diese Art von Buchführung …
Jelena:  So sprechen Sie doch leiser ...
Pjotr horcht auf Jelenas Unterhaltung mit Teterew: Und mir ist's wieder unbegreiflich, was für

einen Zweck Sie bei diesen einfachen Leuten mit Ihrer Sympathiespielerei verfolgen …

Zwetajewa:  Das ist keine Spielerei … wir teilen einfach mit ihnen, was wir haben …
Schischkin:  Vielleicht nicht mal das … Es ist uns eben angenehm, unter ihnen zu weilen … Sie

sind so ungekünstelt … Ein gesunder Hauch weht einen von ihnen an … wie von den Bäumen des Waldes. Wir Büchermenschen sollten jede Gelegenheit nutzen, uns zu erfrischen …

Pjotr  eigensinnig, mit verhaltenem Ärger: Ihr liebt es, von Illusionen zu leben … Und dann

nähert ihr euch diesen Soldaten auch mit gewissen heimlichen Absichten … die mir – entschuldigt, daß ich euch die Wahrheit sage – einfach lächerlich scheinen. Sich bei den Soldaten erfrischen wollen … das ist, nehmt es mir nicht übel …

Zwetajewa:  Es handelt sich nicht bloß um Soldaten! Sie wissen doch, daß wir auch für die

Bahnarbeiter eine Vorstellung im Depot vorbereiten …

Pjotr: Das ändert nichts an der Sache. Nach meiner Meinung sind Sie im Irrtum, wenn Sie dieses

… Hin- und Herlaufen, dieses hastige Treiben für ein lebendiges, tatkräftiges Wirken halten. Sie sind davon überzeugt, daß Sie bei diesen Leuten die Entwicklung der Persönlichkeit ... und was sonst noch alles … fördern. Das ist eine Selbsttäuschung. Morgen kommt der Herr Leutnant oder der Werkmeister, haut der Persönlichkeit eine Maulschelle herunter und schüttet alles wieder aus ihrem Schädel heraus, was Sie hineingeschüttet haben – wenn überhaupt etwas dringeblieben ist …

Zwetajewa: Mir ist's peinlich, solche Reden zu hören ...
Schischkin finster:  N–ja … Schön hören Sie sich nicht an … Ich vernehme sie nicht zum

erstenmal, und sie gefallen mir immer weniger … Ich glaube, Pjotr, zwischen uns beiden gibt's nochmal eine Auseinandersetzung … für immer!

Pjotr kühl, in lässigem Tone: Du willst mich wohl erschrecken?! Ich bin sehr begierig auf diese

Auseinandersetzung …

Jelena zu Teterew, hitzig:  Warum verstellen Sie sich nur? Herrschaften – warum will dieser

Mensch, daß man ihn für böse halten soll?

Pjotr:  Aus Originalitätssucht, denk ich.
Zwetajewa:  Jedenfalls. Er möchte gern als interessant gelten. Alle Männer wollen interessant

erscheinen … vor den Frauen. Der eine spielt den Pessimisten, der andere – den Mephisto … Und dabei sind sie oft nichts weiter als Trottel …

Teterew: Kurz, klar … und bündig!
Zwetajewa:  Soll ich Ihnen vielleicht Komplimente machen? Da können Sie lange warten! Ich

weiß, wes Geistes Kind Sie sind!

Teterew: So – dann wissen Sie mehr als ich. Und wissen Sie zufällig vielleicht auch, ob man

Böses mit Gutem vergelten soll? Das heißt, einfacher ausgedrückt: sind nach Ihrer Meinung Gut und Böse einander gleich im Wert?

Zwetajewa:  Hört nur, wie er sich in Paradoxen gefällt!
Schischkin:  Still, unterbrechen Sie ihn nicht! Die Sache wird interessant. Ich höre Teterew gern

sprechen, Herrschaften. Eh man sich's versieht, jagt er einem einen Splitter ins Gehirn … Wir andern haben ja, offen gesagt, alle nur abgebraucht, landläufige Gedanken … lauter alte Scheidemünze ...

Pjotr:  Zu großmütig von dir … deine persönlichen Vorzüge so zu verallgemeinern …
Schischkin:  Nun, nun! Man muß immer die Wahrheit sagen, mein Lieber! Sogar in Kleinigkeiten

soll man ehrlich sein. Ich bekenne offen, daß ich noch niemals auch nur ein einziges originelles Wort ausgesprochen habe. Und ich möcht es doch gar zu gern!

Teterew: Eben jetzt hast du es ausgesprochen!
Schischkin lebhaft:  Nanu? Wirklich? Was denn?
Teterew: Du hast es ausgesprochen, wahrhaftig … Was es war – magst du selbst erraten.
Schischkin:  Nun, das ist wirklich ganz zufällig geschehen …
Teterew: Erzwingen läßt sich die Originalität überhaupt nicht. Ich hab's versucht …
Jelena:  Aber so reden Sie doch von Gut und Böse, Sie Quälgeist!
Schischkin: Los also! Spiel uns was vor auf deinem philosophischen Dudelsack!
Teterew stellt sich in Positur: Hochgeehrte Zweifüßler! Wenn ihr sagt, daß man das Böse mit

Gutem vergelten müsse, so seid ihr im Irrtum. Das Böse ist eine euch angeborene Eigenschaft, und daher ist sein Wert gering. Das Gute dagegen habt ihr selbst erfunden, es ist euch entsetzlich teuer zu stehen gekommen, und darum gilt es euch als eine kostbare Sache, eine Seltenheit, die schöner ist als alle andern Erdendinge. Hieraus folgt, daß es für euch nicht einträglich und sogar nachteilig ist, das Gute ebenso zu bewerten wie das Böse. Ich rate euch: zahlt immer nur Gutes gegen Gutes! Und zahlt nie mehr, als ihr empfangen habt, damit ihr nicht die wucherischen Neigungen in euren Mitmenschen anstachelt. Denn der Mensch ist habgierig von Natur. Hat er einmal mehr empfangen, als ihm zukam, dann wird er das nächste Mal noch mehr verlangen. Zahlt ihm aber auch nicht weniger, als ihr ihm schuldig seid, denn wenn ihr ihn einmal betrügt, wird er's euch sicher nachtragen. Er wird euch Bankerotteure nennen, wird aufhören, euch zu achten und euch das nächste Mal nicht mehr Gutes erweisen, sondern nur noch ein Almosen reichen. Seid streng und gewissenhaft, meine Lieben, wenn es sich um die Vergeltung des Guten handelt, das euch erwiesen worden! Denn es gibt auf der Welt nichts Kläglicheres und Widerwärtigeres als einen Menschen, der seinem Nächsten ein Almosen reicht. Das Böse – aber vergeltet stets mit Bösem, und zwar hundertfältig! Seid bis zur Grausamkeit freigiebig, wenn ihr eurem Nächsten das Böse heimzahlt, das er euch angetan hat! Gab er euch einen Stein, wenn ihr ihn um Brot batet – dann wälzt ihm einen Berg auf den Schädel! Teterew, der scherzend begonnen hat, geht nach und nach in eine ernste Tonart über und beendet seine Rede markig, voll Überzeugung. Sobald er ausgeredet hat, geht er schweren Schrittes zur Seite. Einen Moment herrscht allgemeines Schweigen. Alle sind betroffen von der Wucht und Offenheit seiner Rede.

Jelena leise:  Sie müssen viel erduldet haben von den Menschen …
Teterew  voll Ingrimm:  Das gewährt mir wenigstens die angenehme Hoffnung, daß auch sie

einmal von mir … oder richtiger, um meinetwillen … werden erdulden müssen …

Nil  tritt mit einer Schüssel in den Händen und mit einem Stück Brot ein; während er spricht,

achtet er sorgfältig darauf, daß nichts von dem Inhalt der Schüssel verschüttet wird; hinter ihm kommt Tatjana:  Das alles ist Philosophie. Es ist eine schlechte Gewohnheit von dir, Tanja, aus jeder Lappalie gleich ein philosophisches Problem zu machen. »Es regnet« – Philosophie! »Der Finger tut mir weh« – wieder Philosophie. »Es riecht nach Kohlendunst« – zum drittenmal Philosophie. Wenn ich solche, aus lauter Lappalien zusammengesetzte Philosophie höre, denk ich unwillkürlich, daß doch Bildung nicht für jedermann nützlich ist …

Tatjana:  Was für ein … Grobian du bist, Nil!
Nil  setzt sich an den Tisch und ißt: Was heißt Grobian? … Die Langeweile plagt dich … such dir

Beschäftigung! Wer arbeitet, langweilt sich nicht. Fällt dir das Leben hier schwer, dann geh aufs Land, leb im Dorfe, unterrichte die Bauernkinder! … Oder fahr nach Moskau, lern selber was hinzu! …

Jelena:  So ist's recht! Und jetzt nehmen Sie sich auch den da zeigt auf Teterew  einmal vor – den

da!

Nil  blickt von der Seite auf Teterew:  Auch ein nettes Kind … Spielt sich als tiefsinniger Heraklit

auf!

Teterew:  Nenne mich lieber einen Swift, wenn's dir nichts ausmacht …
Nil: Viel Ehre!
Pjotr: Ja, etwas sehr viel Ehre …
Teterew:  Es wäre mir aber angenehm …
Zwetajewa:  Seht doch den Feinschmecker! …
Nil  guckt in die Schüssel: Na, sei nicht böse … Übrigens … war denn … Polja nicht da? Wo ist

sie?

Tatjana: Im Theater. Warum?
Nil:  Nichts weiter. Ich frag nur so …
Tatjana: Willst du etwas von ihr?
Nil:  Nein, durchaus nicht … das heißt, augenblicklich nicht … Im allgemeinen … will ich sehr

viel von ihr. Teufel, da hab ich mich verplappert! Alle außer Tatjana lächeln.

Tatjana beharrlich:  Was denn? Was willst du von ihr? Nil ißt, ohne zu antworten.
Jelena lebhaft zu Tatjana:  Sag doch – warum hat er dich so abgekanzelt?
Zwetajewa:  Ach ja, das ist interessant!
Schischkin:  Ich hör's gern, wen Nil den Leuten den Kopf wäscht …
Pjotr:  Und ich seh's gern, wenn er ißt …
Nil:  Was ich mal anfasse, mach ich gut …
Jelena: Nun, Tanja, so sprich doch!
Tatjana: Ich hab keine Lust …
Zwetajewa:  Sie hat nie zu etwas Lust.
Tatjana:  Woher weißt du das? Vielleicht habe ich große Lust … zu sterben!
Zwetajewa:  Hu, wie schrecklich!
Jelena:  Brr! Ich rede nicht gern vom Tode.
Nil:  Was kann man vom Tode sagen, solange man nicht gestorben ist?
Teterew:  Hört! Ein echter Philosoph!
Jelena:  Kommen Sie zu mir hinauf, Herrschaften. 's ist Zeit, der Samowar steht sicher schon

lange bereit ...

Schischkin:  Ach ja, jetzt hätt ich Appetit auf ein Glas Tee! Und auch ein Häppchen essen möcht

ich … darf man hoffen?

Jelena:  Natürlich.
Schischkin  zeigt auf Nil:  Wie ich ihm so zusah, erwachte der Neid in meinem sündigen Herzen!
Nil:  Gar keine Ursache – hab schon alles verputzt! Ich geh gleich mit euch! Hab noch über eine

Stunde frei …

Tatjana: Du solltest lieber ausruhen, Nil, bevor du in den Dienst gehst …
Nil:  Die Zeit wird auch so vergehen …
Jelena:  Kommen Sie mit, Pjotr Wassiljewitsch?
Pjotr:  Wenn Sie erlauben …
Jelena:  Ich gestatte es gnädigst. Ihren Arm! …
Zwetajewa:  Stellen Sie sich alle paarweise an! Nil Wassiljewitsch, zu mir …
Schischkin  zu Tatjana:  Dann gehen wir zusammen …
Teterew:  Es heißt immer, daß es auf der Erde mehr Frauen als Männer gibt. Nun hab ich in

vielen Städten gelebt … und doch war nie und nirgends für mich eine Dame übrig …

Jelena  geht lachend der Tür zu und singt:  Allons enfants de la patri...i...i...e!
Schischkin  pufft Pjotr in den Rücken:  Geh rascher, Sohn des Vaterlandes! … Sie gehen unter

Lärm, Gesang und Lachen ab. Das Zimmer bleibt ein paar Sekunden leer. Dann öffnet sich die Tür, die zum Zimmer der Alten führt; Akulina Iwanowna tritt heraus und löscht gähnend die Lampen aus. Man hört die Stimme Bessemjonows, der im Zimmer nebenan mit monotoner Stimme den Psalter liest. Im Dunkeln kehrt Akulina Iwanowna, an die Stühle stoßend, wieder in ihr Zimmer zurück.


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