Max Czollek: GrenzWerte
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Stefan Hölscher
Max Czollek: GrenzWerte. Berlin (Verlagshaus Berlin) 2019. 116 Seiten. 17,90 Euro.
Es ist alles ganz anders
In seinem 2018 im Hanser Verlag veröffentlichten Essay „Desintegriert Euch“, einer Streitschrift gegen „die Art und Weise, wie Juden und Jüdinnen im deutschen Gedächtnistheater benutzt werden“ (zitiert aus der Einleitung, S. 15) verspricht Max Czollek auch eine „grundlegende Kritik am Integrationsdenken.“ Es wäre nicht angemessen, den Essay mit dem vor ein paar Wochen im Verlagshaus Berlin erschienenen dritten Gedichtband Czolleks „Grenzwerte“ zu vergleichen. Die Frage von Integration und Zusammenhang, die Frage nach einem Gravitationszentrum im schwindelerregenden Feld der Erscheinungen hat mich jedoch konstant während der Lektüre der neuen Gedichte Czolleks beschäftigt.
Eingeteilt ist der Band in acht Kapitel, die so unterschiedliche Titel tragen wie „inglourious poets“, „alternative fakten über den bosporus“ oder „topologie der hitze“. Formal erhält diese Vielfalt dadurch ein verbindendes Element, dass am Ende jedes Kapitels ein Gedicht wie ein Grenz(wert)posten verkehrtherum abgedruckt ist, den Leser also zum Dreh des Buches und zu einem Perspektivenwechsel auf das Davor und Danach bewegt. Formal geben auch die Illustrationen von Mario Hamborg, die körperlose Köpfe, Helme, mechanisch/anatomische Teile, die wie verlorene Reste von Eroberungsfeldzügen in unwirtlichen Hügel- und Feldlandschaften liegen, dem Band ein verbindendes Element.
Auf dem Buchrücken heißt es, „Grenzwerte“ sei eine „Grandtour durch Orte, Diskurse – und durch die Geschichte.“ Und diese ziemlich große Tour, eine Tour wie durch alles und nichts, stellt meines Erachtens gleichermaßen Stärke und Schwäche von Czolleks Gedichtband dar. Czollek ist ein Meister unerwarteter und durchaus schillernder Assozia-tionen und Verknüpfungen. Allein schon durch die Vielfalt der von ihm angetippten Bedeutungsfelder nimmt Czollek seine Leser*innen mit auf eine überaus ereignisvolle Reise. Und da, wo sich das assoziative Schillern mit formaler Klarheit und Strenge, worin durchaus eine andere Charakteristik von Czolleks Schreiben liegt, verbindet, finde ich die Gedichte stark:
es ist alles ganz anders:im aufgedrehten duschkopf braust ostseewindräder treiben die erde voran
wolken sind schatten der spaziergänger am strandder tag ein weiß gewaschener steinvielleicht weißt du es nichtaber dein gekrümmter rücken gleicht den schafenauf einem norddeutschen deichdein gebrochenes herz einem geteilten meerdas möwengeschrei dem hohelied für neue musikeinem fahrplan die verlustanzeigenam horizont der fleck von dem nicht sicher istob patrouillienboot oder walfisch
Ein den
Verstehenshorizont des Lesenden ganz unprätentiös zum Funkeln bringendes Sprachfeuerwerk,
das Gestalt hat und einen spürbaren Kern. Die wunderbare Verbindung von
formaler, fast schon rhetorischer Strenge und assoziativer Freiheit, zeigt sich
noch stärker in Texten wie
fragen an edward snowdenwenn wir mit einem bein aus dem fenster steigenwem gehört dann das bein?ist es ein problem, dass ich dreißig binund immer noch kein bewegungsmuster habe?ein freund von mir hat mir abgeratenoral- und analsex gleichzeitig auszuprobierenwas meint er damit?wenn ich schon einmal in bielefeld warexistiert dann die stadt, oder arbeite ich für den cia?…
In solchen
Gedichten dokumentiert Czollek ganz nebenbei auch, dass er das kann, was heute
bei vielen so verpönt, fast ein No Go geworden ist: Gedichte politisch
schreiben. Und davon hätte ich mir mehr gewünscht: Von dieser Schärfe der
Ausrichtung, die so spielerisch leicht, so treffsicher und so stringent in der
Form daherkommt. In diesen Gedichten erlebe ich das, was ich in Czolleks Band
insgesamt öfter vermisse: Ein spürbares Gravitationszentrum von Bezug, Relevanz
und Bedeutungsgehalt.
In nicht wenigen
Texten und vor allem im Blick auf das Ensemble der Gedichte des Bandes in toto lässt
mich Czollek als Leser mit seinen furiosen Verknüpfungen etwas ratlos zurück:
Ich genieße das sprachliche Sprühen und frage mich gleichzeitig: So what? Was
macht es mit mir? Leider relativ wenig.
Und das ist der
Punkt, an dem ich das Thema der Integration wiederfinde: Man könnte Czolleks
Gedichte auch als Suche nach einem integrationsstiftenden Kern inmitten all der
sezierten, montierten und dekonstruierten Phänomenreferenzen verstehen, wobei
der Kern nicht nur nicht gefunden wird (was ja Ausdruck einer
metapoetischen Position sein könnte),
sondern auch das Motiv der Suche nach ihm als Movens lyrischer Reflexion
relativ brach liegen bleibt oder zumindest überdeckt wird von der Flut
schillernder Assoziationen. Liest man Czolleks Gedichte als große Reise, so muss diese Reise weitergehen, um
irgendwo anzukommen …