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Maurizio Piro: Seraphenreigen

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Florian Birnmeyer

Maurizio Piro: Seraphenreigen. Berlin (Verlag der 9 Reiche) 2025. 32 Seiten. 9,00 Euro.


Es gibt junge Stimmen, die sofort einen eigenen Ton anschlagen. Maurizio Piro, Jahrgang 2001, gehört zu ihnen. Preise hat er schon früh gewonnen – 2019 den Wettbewerb Spuren Schreiben, 2025 den Hanns-Meinke-Preis. Aber das Beeindruckende an seiner Dichtung ist weniger die äußere Anerkennung als die innere Konsequenz: Piro schreibt eine Lyrik, die auf sich selbst vertraut, die Schönheit nicht als dekoratives Beiwerk, sondern als Form des Widerstands begreift. Gegen die Welt, gegen das Banale, gegen die Zumutungen des Alltags. Es ist eine Sprache, die sich nicht rechtfertigt, die sich nicht erklären muss. Sie steht da, eigensinnig, fast trotzig – und darin liegt ihre Kraft.

Man könnte sagen, Piros Gedichte folgen der Linie Mallarmés: l’art pour l’art. Doch dieser Vergleich, so naheliegend er scheint, greift auch zu kurz. Denn die Texte verweigern zwar das Zielgerichtete, das Funktionale, sie verzichten auf Botschaft, Moral oder eindeutige Deutung. Aber gerade darin, in dieser Weigerung, liegt eine eigentümliche Behauptung. Zwischen Titel und Text klafft oft ein Abstand: Die Gedichte heißen Atlas, Narziss, Orpheus und Eurydike – und erzählen doch nichts, was den antiken Stoff „nacherzählt“. Vielmehr schwingen sie mit, vergegenwärtigen Mythen im Klang, in der Bewegung, in der Form. Sie entwickeln ein Eigenleben, das den Leserinnen und Lesern entgleitet, ohne sie abzuweisen.
Der Band Seraphenreigen, erschienen in der Reihe Lyrik Edition Neun, gliedert sich in drei Teile. Alle drei eint die Sorgfalt: Man spürt, wie hier an der Sprache gefeilt wurde. Die Gedichte sind stark verdichtet, Verben, Substantive, Adjektive greifen wie Zahnräder ineinander. Rhythmus, Melodie, Form – nichts wirkt beiläufig. Es ist eine Kunst der Balance, die nicht ausufern will, sondern sich kontrolliert entfaltet.

Besonders eindrücklich ist der erste Teil, Faunische Tage. Er bringt eine bukolische, fast arkadische Stimmung ins Spiel, in der Naturbilder und mythologische Anklänge miteinander verschmelzen. Da ist ein Ton, der zwischen antiker Verson-nenheit und modernem Ästhetizismus schwebt. Verse wie diese bleiben hängen:

Sie stürzen über wilde Thymianteppiche,
Durch ungeheure gelbe Gärten, goldne Seen.
Darin sich Ranken in verliebten Kreisen knüpfen,
Wie Bronzespangen um die Arme schöner Tänzer.
(Die Toteninsel, S. 6)
Es sind Verse, die hängen bleiben, die nachhallen, weil sie aus der Zeit gefallen scheinen.

Der Titel des Bandes verweist auf ein Ineinandergreifen: Seraphenreigen – ein Tanz, bei dem sich die Gedichte an den Händen fassen. Dieses Prinzip trägt durch alle drei Teile. Der zweite Teil bringt die titelgebenden Engel ins Spiel, die Seraphen. Sie erscheinen in einem religiös-mystischen Kontext, begleitet von hebräischen Verszitaten, die Piro den Gedichten zur Seite stellt. Diese Einfügungen sind mehr als bloße Paratexte: Sie schaffen eine zusätzliche Ebene, einen Dialog zwischen Tradition und lyrischer Gegenwart.

Im dritten Teil schließlich, Der blaue Baldachin, begegnet man den poetischen Ahnen. Gedichte an Hugo von Hofmannsthal, Marcel Proust, Georg Heym, Rainer Maria Rilke. Hier zeigt sich Piros literarische Herkunft, seine Bewunderung für das Vergangene. Diese Reverenzen sind konsequent, und zugleich riskant. Denn Piro orientiert sich in seinem Gedichtband in Gestus und Tonfall an der Vergangenheit, ähnlich wie viele andere Bände der Reihe Lyrik Edition Neun. Die Kunst besteht jedoch darin, die Tradition nicht nur zu zitieren, sondern durch die eigene Gegenwart hindurch strahlen zu lassen und so zu transzendieren.

Trotzdem: Was bleibt, ist der Eindruck einer Stimme, die sich behauptet. Seraphenreigen ist ein Band, der nicht gefallen will, sondern bestehen. Piros Gedichte entfalten eine Schönheit, die widerständig ist, die sich der Nützlichkeit entzieht. Und vielleicht ist genau das ihr größter Wert: dass sie uns erinnern, dass Dichtung nicht erklären, nicht rechtfertigen, nicht belehren muss – sondern dass sie da ist, wie ein Lichtstrahl, wie ein Klang, wie ein Tanz.

Von dieser Lyrik, von dieser Stimme wird man noch hören.


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