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Mátyás Dunajcsik: Das Staatsgeförderte & Das Sprachlose

Montags=Text
Foto: Hajnal Szolga
Mátyás Dunajcsik

Das Staatsgeförderte und Das Sprachlose


DAS STAATSGEFÖRDERTE

Dieses Gedicht wird durch das Arbeitsstipendium der
Kulturstiftung des Freistaates Sachsen gefördert. Dem
Autor ist es lieber so, als vom Unfreien Staat Ungarn
unterstützt zu werden, auch wenn das bedeutet, dass er
diesen Text in einer Fremdsprache schreiben muss.
Aber er tut sein Bestes, um nichtsdestotrotz ein
erstklassiges Produkt zu liefern, wobei er sicherstellt,
dass dieses Gedicht handgetippt und in Bioqualität
hergestellt ist, unter den strengsten Bedingungen der
Gesundheitsbehörden. Dieses Gedicht ist natürlich auch
geimpft und getestet, obwohl nicht vollständig genesen
von generationellen und geopolitischen Traumata –
aber letztere werden bei der Zubereitung sowieso als
wichtige Treibmittel verwendet. Trotzdem ist es mit
Abstand zu genießen, um die direkte Übertragung
auf den Leser zu vermeiden.
Dieses Gedicht ist mit dem Vermerk Haltungsform 2
versehen, da sein Autor zur Zeit des Schreibens
genügend Zugang zu Sonnenlicht hatte und sogar
gelegentlich unter freiem Himmel nach draußen gehen
durfte. Leider qualifiziert es sich nicht für
Haltungsform 3 oder 4, denn es kann nicht garantiert
werden, dass der Autor nur Futter ohne Gentechnik
bekam. Aber dieses Gedicht macht sich nichts daraus,
dass manche Nutztiere offenbar ein besseres Leben
haben als sein Autor. Stattdessen hofft es, seiner
Lieblingsbezeichnung würdig zu sein, dem ersten Wort,
das es in deutschen Supermärkten gelernt hat:
Spitzenqualität.
Dieses Gedicht wurde mit dem Einsatz der neuesten, gerade
hier in Deutschland entwickelten Übersetzungs-
algorithmus-Technologie erstellt, in einem Prozess, bei
dem künstliche und künstlerische Intelligenz Hand in
Hand auf den verpixelten grünen Feldern der
Cyberutopien gehen. Aus Qualitätssicherungsgründen
wurde aber die Arbeit der beteiligten Roboter und
Ausländer von Muttersprachlern überprüft. Es ist auch
wichtig zu erwähnen, dass dieses Gedicht neben den
regional gesammelten sächsischen Lebenserfahrungen
auch Zutaten aus anderen EU-Ländern enthält: Wörter
und Sprachfragmente wie balsorsakitrégentép,
napsütöttesáv, kinnfeledtnyugágy und
nincsenszámodrahely, die dem Autor ein bisschen
Heimatgefühl gewähren und gleichzeitig durch ihre
merkwürdige Akustik und unentschlüsselbaren
Bedeutungen für eine gewisse Unheimlichkeit des
Textes beim Leser sorgen. Aber das lässt sich
verzeihen, denn das macht dieses Gedicht zu einem
wertvollen Beitrag zur Einhaltung der deutschen
Diversitäts- und Integrationsrichtlinien – schließlich
wurde es von einem linkshändigen ungetauften
homosexuellen Einwanderer geschrieben.
Aber Achtung: neben den Elementen der unbeschwerten
Ironie kann dieses Gedicht auch Spuren von echter
Trauer und Schmerz enthalten. Denken Sie an ein
Gesicht mit Tränen in den Augen. Denken Sie an
jemanden, der auf einem wegfahrenden Schiff steht und
auf sein Zuhause schaut, das langsam in der nebligen
Ferne verschwindet. Denken Sie an Ihre eigenen
Lieblingswörter und stellen Sie sie sich als nutzlosen
Krimskrams in einem Koffer vor. Sprechen Sie sie laut
aus und spüren Sie, wie süß sie im Mund schmecken,
und denken Sie dann an die Wörter give me your tired,
your poor, your huddled masses yearning to breathe
free, bevor Sie nach den Dokumenten dieses Gedichtes
fragen.
Denken Sie mal an dieses Gedicht, wenn Sie sich das
nächste Mal über einen Ausländer ärgern, der Ihre
Sprache noch nicht perfekt beherrscht, und denken Sie
daran, dass auch dieses Gedicht nicht so selbstsicher ist,
wie es vielleicht erscheint. Es schläft schlecht und hat
oft Angst, Sachen aus seinem früheren Leben zu
vergessen, an die es sich erinnern wollte, und sich an
Sachen zu erinnern, die es vergessen wollte. Aber jeden
Tag wird es ein bisschen besser, so wie es bei allen
Arten von Trauer ist: es ist nicht das Wasser, das dich
ertränken wollte, das zurückgeht, sondern du bist es,
der langsam zu schwimmen lernt.


DAS SPRACHLOSE

Dieses Gedicht steht sprachlos vor den Toren der
Selbstausdruckskraft in einer Zeit, in der es merkt, dass
seine geliebten Metaphern plötzlich unangenehm zu
verwenden geworden sind.
Dieses Gedicht möchte sagen, ich fühle mich wie jemand,
der auf einem Berg, in Sicherheit aber verzweifelt auf
sein brennendes Heimatdorf im Tal schaut, aber dann
an diejenigen denkt, die in diesem Moment im
wirklichen Leben auf ihre brennenden Heimatdörfer im
Tal schauen, und hält sich lieber schweigend.
Dieses Gedicht möchte sagen, in meinem Rucksack sind
nur ein paar Lieder und Worte, die niemand verstehen
wird, wohin ich gehe, aber dann muss es an diejenigen
denken, die nicht einmal ihr Lieblingsgedichtbuch in
ihren Koffer packen konnten, weil sie den Platz für
Windeln, einen Wintermantel und Sandwiches für die
endlose Reise brauchten, und hält sich lieber
schweigend. Dieses Gedicht hat diese Menschen mit
eigenen Augen in den Intercity-Zügen und auf den
Bahnhöfen gesehen, so wie wir alle, und hat die gleiche
lähmende Scham der Ahnungslosigkeit gespürt, was zu
tun und wie man sich zu verhalten hat, so wie wir alle.
Dieses Gedicht möchte sagen, ich habe die nationale
Wortschatzkammer meines Heimatlandes brennen
gesehen, und jetzt haben sich meine Landsleute immer
weniger zu sagen, aber dann muss es an all die
brennenden Bibliotheken in der Realität denken, nicht
nur in Kiew und Mariupol, sondern auch in Sarajevo,
in Kabul und anderswo, und hält sich lieber schweigend.
Halts Maul, oh sweet summer child, das größte Feuer,
das du gesehen hast, waren die Freudenfeuer am
Silvesterabend am Meeresufer in Reykjavik, zu denen
sogar Björk von zwei Häuser weiter herunterkam, ihr
Gesicht flackernd wie eine seltsame Vision unter den
Nordlichtern.
Aber was kann ein Gedicht tun, wenn Prahlerei im Grunde
Teil seiner Stellenbeschreibung ist? Es kann sagen, oh
Muse, singe mir von den kleinen Schmerzen, den
bescheidenen und anspruchslosen, die nicht mit Sturm
und Drang und all den Trompeten und CGI-Grafiken
der Vorstellungskraft kommen, sondern die mich jeden
Tag wie dünne Nadeln durchbohren, keine von ihnen
tödlich oder spektakulär, aber jede von ihnen gibt mir
einen weiteren Tropfen des Giftes, das mich langsam
töten wird.
Denn wenn es eines gibt, was dieses Gedicht aus mehreren
Jahren Lockdowns, Isolation, seelenbedingten
Krankheiten, Panikattacken und Therapie gelernt hat,
dann, dass dein eigener Schmerz nicht einfach
verschwindet, sobald du ihn in Perspektive rückst und
dich daran erinnerst, dass es anderen schlechter geht.
Dieses Gedicht erhebt seinen Kopf also und beginnt
trotzdem zu sprechen; es sagt, ich sah die besten Köpfe
meiner Generation das Schreiben aufgeben, und
Gedichte wie mich und noch viel bessere ungeboren
zurückließen, weil sie kaum ihre Kinder ernähren oder
einfach nur für sich selbst Essen kaufen und ihre Miete
bezahlen könnten; ich sah Literaturzeitschriften,
Lesereihen, Schreibwerkstätten und Veranstaltungen,
die lebenswichtigen Organe jeder lebenden Kultur, eine
nach der anderen verschwinden, ausgeblutet durch
gestrichene Fördermittel und Hoffnung; ich sah einen
wütenden Nationalisten das Literaturmuseum, wo ich
selbst eines Tages in einem der Regale landen wollte,
in Besitz nehmen, jemand, der Journalisten damit droht,
ihnen mit einem Hammer die Finger zu brechen und
stolz darauf ist, an Messerstechereien teilgenommen zu
haben; ich sah eine Parlamentsabgeordnete öffentlich
ein Kinderbuch durch den Aktenvernichter stopfen, nur
weil darin Märchen von schwulen Prinzen, liebevollen
Stiefeltern und nicht-binären Drachen erzählt wurden;
ich sah mich selbst nach sieben Jahren Emigration, als
ich eines Morgens nach unruhigen Träumen aufwachte,
mich in meinem Bett in ein Ungeheuer verwandelt
finden, das in einer anderen Sprache als seiner
Muttersprache denkt.
Hier stehe ich und kann nicht anders, zitternd ohne den
Mantel der bunten, fein verwobenen Reime und
Rhythmen meiner Vorfahren, in den gut gemachten,
industriell gefertigten Kleidern des deutschen
Prosasatzes, den ich dehne, drehe, wende, kratze und
herumschwenke, bis er durch die Reibung ein bisschen
Feuer fängt.
Dies ist das Feuer, mit dem ich mich wieder aufwärmen
werde. Dies ist das Feuer, mit dem ich die dunkle
Nacht meiner kleinen Schmerzen erhellen werde, ohne
die großen der anderen zu vergessen, von denen ich bis
jetzt verschont geblieben bin.


Mátyás Dunajcsik (*1983) ist ein queerer Autor und Performer, der Prosa, Theater und Lyrik auf Ungarisch, Englisch und neuerdings auf Deutsch schreibt. Er ist geboren und aufgewachsen in Budapest, Ungarn, wo er Ästhetik (Kunsttheorie) und französische Literatur studierte, bevor er als Foreign Rights-Korrespondent für Magvető Kiadó, dann als internationaler Literaturagent für Sárközy & Co. und als Chefredakteur für Literatur für einen der führenden Verlage Ungarns, Libri Kiadó, arbeitete. Er emigrierte 2014 und verbrachte zunächst zwei Jahre in Reykjavík, wo er mit einem staatlichen Stipendium isländische Sprache und Literatur studierte, bevor er sich in Deutschland niederließ. Sein literarisches Werk wurde mit zahlreichen Preisen in Ungarn und mehreren internationalen Stipendien ausgezeichnet, darunter die Junge Akademie der Akademie der Künste (2009, Berlin). Auf Ungarisch publizierte er zwei Sammlungen von Kurzgeschichten (Repülési kézikönyv, 2007; Balbec Beach, 2012) und ein Kinderbuch (A szemüveges szirén, 2016), das er später selbst für die Bühne adaptierte. Sein erster Roman Víziváros kam 2021 heraus und eine Sammlung seiner ungarischen Gedichte soll 2023 erscheinen.
Deutsche Übersetzungen seiner Kurzgeschichten wurden veröffentlicht in: Der Boden unter Berlin (2010, Akademie der Künste, Berlin) und Unterwasserstädte (2017, Edition Solitude, Stuttgart). Im Jahr 2019 schrieb er zusammen mit dem international gefeierten ungarischen Regisseur Árpád Schilling das Theaterstück Elbfuge im Auftrag des Staatsschauspiels Dresden. In den letzten Jahren hat er sich dank der Arbeitsstipendien der Akademie der Künste (INITIAL, 2021) und der Kulturstiftung des Freistaates Sachsen (2022) intensiv mit dem Schreiben auf Deutsch beschäftigt und seine deutschsprachigen Gedichte in Zeitschriften wie Sinn und Form und Triëdere veröffentlicht. Er begleitet seine literarischen Lesungen oft mit Loop- und Effektpedalen seiner Bassgitarre.
http://dunajcsik.com
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