Mathias Énard: Letzte Mitteilung an die Proust-Gesellschaft von Barcelona
Rezensionen/Lesetipp > Rezensionen, Besprechungen
Timo Brandt
Mathias Énard: Letzte Mitteilung an die Proust-Gesellschaft
von Barcelona. Gedichte. Übersetzt von Holger Fock und Sabine Müller. Berlin
(Hanser Berlin) 2019. 128 Seiten. 19,00 Euro.
Intensivierte Diashow,
mythosumkränzt
„Gäbe es einen Autobus, nähme ichDen Weg durch die Hügel, den Sand und die SalzbergeHör zu, ich weiß, dass du mich verstehstEs ist Festtag und deine Hände wissen, sie werden begehrtUnd dein Haar, meine Haut im ExilIst so weit weg[…]Meine GefährtenImmer zahlreicher, sind seit achthundert Jahren totIch habe eine Laute aus gebogenem HolzDie ich nicht spielen kann.“
Mathias Énard, vor allem bekannt für seine Romane „Zone“ und
„Kompass“ – beide sehr lesenswert – begann seine schriftstellerische Karriere
mit Gedichten, und nun liegt erstmals eine schmale deutschsprachige Ausgabe mit
lyrischen Texten aus zwanzig Jahren vor, die auf dem Klappentext als
„poetisches Logbuch“ gepriesen werden, als Reisedokumente erster Güte.
„Zieh dich zurück in deinen MantelWickle Dich ein in eine endlose ReiseVertrau das Gepäck den Sternen an“
Und eins ist schnell klar: man lässt sich mit „Letzte Mitteilung an die Proust-Gesellschaft von Barcelona“ auf eine ziemliche wilde Fahrt ein (nicht ganz so wild wie in „Zone“, aber dennoch): Balkan, Polen, Beirut, Russland, Südfrank-reich, Nordspanien, Portugal – und das sind nur einige Regionen, die hier aufgesucht und poetisch destilliert und/ oder ausgewrungen werden.
Die Eindrücke sausen nur so vorbei, eingebettet in (nicht
selten ein wenig zu üppig den Pathos frequentierende) körperlose Stimmen, die
Historie und Legenden, Figuren und Ereignisse aufgreifen, als wären es
heruntergefallene Maschen ein und desselben Stoffes. So entsteht ein flirrendes
Portrait der Landschaften und ihrer bewegten Vergangenheiten und Mythen,
durchlässig für viele Formen von Bezügen, die aber selten so klar herausstechen,
wie in diesem Abschnitt eines Gedichtes über das polnische Sobibór (wo auch ein
deutsches Vernichtungslager stand):
„Der blendende Schnee verbirgt weder das Leid der BirkenNoch den Schmerz der Kiefern,Die betrübt sind ob der Last,Der Aschen in ihrem Saft.“
Ansonsten glänzt der Band, vor allem im zweiten Teil,
„Steppenmaterial“, mit ein bisschen zu schnell entfachter Intensität, in
Gedichten, die eher gereihten Notaten, Sentenzen gleichen, als wirklichen
Verdichtungen, mehr schwärmerisch untermalt und poetisch angehaucht.
„Wie rosarotePerlen tropfen die Legenden der Quelle in die Muscheln hinein,Lange Zeit beobachte ich, wie sie ihr Perlmutt sammelt und härtetIm Innern des Nichts, wo jeder Mensch eins mit sich ist.“
Der erste und dritte Teil bieten mit ihren rhetorischen
Langgedichten allerdings durchaus das ein oder andere nicht nur oberflächlich
berauschende Erlebnis. Énard, der in seinem Roman und Erzählungen so geschickt
die Faszination des Westens für den Osten aufzurufen und zu intensivieren vermag,
liefert in seiner Lyrik mehr eine Art gehobener Diashow mit vielen Bezügen,
Untermalungen, Nuancen als Accessoires, ein Fern- und Nahewehsurrogat, mit viel
Glanz und Schwung und wenigem, das hängenbleibt.
„Ich wollte meine Mutter wieder lebendig machenEine Mund-zu-Mund Beatmung im GrabMeine Lippen auf ihren SchädelPustenÜber alles, was von ihr übrig istSchädel Knochen Haare ZähneEin Schienbein für eine FlöteRock & Roll GespenstIch wollte meine Mutter wieder lebendig machenWorüber sich mein Bruder bucklig lachteEr hat auf mich gepfiffen[…]Es ist wirklich schadeDass man ein ganzes Leben braucht, um zu sterben.“