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Martin Rueff: "Die Nicht-Poesie der Nicht-Poeten" - Rückversicherung

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Martin Rueff


« Die Nicht-Poesie der Nicht-Poeten »
Rückversicherung




Im Mai 2013 veröffentlichte ich in der Tageszeitung Libération einen Artikel mit dem Titel « Die Nicht-Poesie der Nicht-Poeten ». Er verursachte Aufschreie, brachte mir Sympathien ein und gebar Fehlinterpretationen. Es handelte sich um einen Artikel mit exoterischen Zielen: Er nahm sich vor, die breite Öffentlichkeit einem Paradox auszusetzen. Er wandte sich nicht an die Lyrikleser und die Lyriker hätte er auch nicht zwangsweise tangieren müssen. Er hatte didaktische und kosmopolitische Ziele. So.
         Es war kein Aufsatz über « Poetik » oder einen Versuch, sie zu erklären: Weder versuchte ich zu « begreifen », was Poesie ist, noch wollte ich sie in ihre Essenz oder Selbstidentität zurückführen.
         Ich interessierte mich weniger für die Identität der Dichtung als vielmehr für das allgemeine Lob und das Paradox eines Urteils – das ist poetisch und seine seltsame Verbreitung im öffentlichen Raum. Wenn ich heute darüber nachdenke, würde ich sagen, es handelt sich um ein Paradox der zeitgenössischen Poesie in Frankreich zum « Zeitalter des kulturellen Kapitalismus ».
         Ich glaube, das ist es: Jener doppelten Stimme geneigt gewesen zu sein, die ein falsches Echo hervorgerufen hat auf etwas, das nicht mehr war als eine Sammlung von Vorschlägen. Jetzt merke ich aber, dass es auch daran lag, eine Logik des Wesens artikulieren zu wollen, ohne eine historische oder dialektische Vermittlung zu bieten. Noch dazu bot ich schnell eine (kategorielle) Prädikatenlogik, um eine Poetik zu verteidigen, die im Allgemeinen schlecht gestützt wird von Argumenten, die der « spekulativen Poetik »
¹  entliehen sind. Da habe ich auf ein echtes Problem hingewiesen – die falsche Kontinuität zwischen den alten Poetiken und der neuen Poesie, welche den gefährlichen Umgang mit der neuen Poetik und schlechter Poesie zulässt.
         Ich erweitere hier den Artikel, indem ich die einzelnen Teile fett hervorhebe und in Glossen kommentiere.


1. « Poetisch » ist ein Adjektiv des zwiespältigen Lobes. Zu Ausstellungen, Installationen, Liedern, Plastiken kann man heute problemlos sagen, dass sie « poetisch » sind. Das Prädikat ist hier weniger deskriptiv als wertend. « Poetisch » bedeutet abwechselnd geheimnisvoll, schön, tief, einzigartig, auffallend.

Glosse

         a) Dieser Satz begründet sich als eine vollständig verifizierte Feststellung. Aber er deckt ein Problem auf: jenes des poetischen Urteils (« das ist poetisch ») als Subkategorie des ästhetischen Urteils (« das ist schön »). Das ist ein Problem der Prädikation: Handelt es sich nun um eine Beschreibung oder um eine Bewertung? Zu sagen « das ist poetisch » sagt nicht: das ist ein Gedicht. Es sagt: « X ist Träger eines Wertes, den ich als poetisch qualifiziere ». Aber die Sprache der ästhetischen Beschreibung und die der ästhetischen Bewertung sind eben nicht so leicht voneinander zu unterscheiden.

         b) Der Kritiker Stevenson hat bereits vor dem Zweiten Weltkrieg in einem Artikel gezeigt, dass Werturteile immer zwei Komponenten tragen: eine ist beschreibend (kognitiv) und die andere besteht aus einer Entscheidung (aber beschränkt sich nicht darauf).
² Stevenson spricht von einer « persuasiven Definition ».³
         Allerdings drängt sich im Fall von « poetisch » eine Anmerkung auf: Die Palette der möglichen Umschreibungen (anmutig, elegant, tiefgründig, fantasievoll, kraftvoll, bewegt, trocken, überfüllt) ist so breit, dass man sich fragt, ob der beschreibende Charakter des Begriffs nicht auch beliebig ist. Seine öffentliche Verwendung scheint das Adjektiv « poetisch » auf eine undefinierbare Qualität zu reduzieren, die einem Objekt erlaubt, sich zu unterscheiden – aus seiner Kategorie hervorzustechen. All das geschieht, als ob die Prädikation « poetisch » durch die Absenz des beschreibenden Inhalts eine Steigerung des wertenden Inhalts wäre – und dem beschreibenden Inhalt, die Hervorhebung einer Differenz der Bewertung oder die Bewertung einer reinen Differenz, bleibt einzig seine Singularität.

         c) Wir müssen feststellen, dass « poetisch » eher einem « massiven » oder dichten Prädikat ähnelt als einem diskreten. X ist nicht « mehr oder weniger » poetisch, weil es nicht poetisch aufgeladen werden kann durch x, y oder z. Es ist entweder poetisch oder es ist eben nicht poetisch. Adorno in seiner Ästhetischen Theorie: « Kunstwerke sind nicht zu skalieren; ihre Sichselbstgleichheit spottet der Dimension eines Mehr oder Weniger ».


        d) Die Behauptung « das ist poetisch » fordert teilweise eine performative Notwendigkeit. « Das ist poetisch » hat nicht mehr viel mit einer Aussage zu tun, sondern ähnelt mehr einem Statement, das einen Wert verleiht anstatt zu beobachten. Im Gegensatz zu den performativen Theorien verstehe ich aber Monroe Beardsley nur schwer, weil er sich, wie mir scheint, an der Abstraktion vergeht. Für ihn verleiht das ästhetische Urteil eine Qualität aufgrund von Beschreibungen und Behauptungen. Wenn ich X für poetisch erkläre, passiert es nach diesem Philosophen genau deswegen, weil ich fähig bin, die Qualitäten zu beschreiben, die mir ermöglichen, dieses Dekret zu formulieren und, ausserdem, dass ich dazu angewiesen bin, das auch zu tun.
  Aber dafür gibt es wenig Gelegenheiten in konkreten Situationen: Wenn jemand X für poetisch erklärt, geschieht das oft, um sich von vagen Behauptungen zu distanzieren und seine Autorität für ein einziges Argument einzusetzen. « Das ist poetisch », weil ich es so konstatiere, und wenn das mein Gesprächspartner nicht erkennt, wird er von der Rezipientengemeinschaft ausgeschlossen. Und in solchen Situationen möchte ich nur ungern mein Unverständnis bekennen – « nun zurecht das ist poetisch ». Zurecht. Zurecht.
         Es erinnert an die soziologische und politische Performativität von Pierre Bourdieu und Judith Butler. « Das ist poetisch » ist ein gutes Beispiel für die Macht der Worte – die « Sprache als Verhalten ». Solche Aussagen liefern die existenzielle Begründung einer Autorität – it casts X in essential terms.


2. Im heutigen Frankreich herrscht ein semantisches Phänomen, das nicht unbemerkt bleiben darf: Ich meine damit nicht nur das Wort « Poesie » (deskriptiver Begriff in der Eigenschaft, dass er eine symbolische Aktivität bezeichnet, die man im Laufe der Jahrhunderte als ein Gattung der « Sprachkunst » identifiziert hat), dessen Adjektiv « poetisch » (wertend) nicht mehr seinen natürlichen Träger beschreibt, sondern auch, dass man den Dichtern die Poesie abstreitet, mit der man Nicht-Poeten auszeichnet.

Glosse:

         Diese Behauptung ist ein bisschen polemisch. Es überlagern sich zwei Elemente: zum einen das Verhältnis eines Adjektivs zu seinem Substantiv, von dem es abgeleitet ist, zum andern die Frage nach dem natürlichen Träger eines Adjektivs.

         a) Falls das Substantiv, von dem sich « poetisch » ableitet, Poesie ist, dann ist poetisch das, was Poesie charakterisiert. Falls das Substantiv, von dem sich « poetisch » ableitet, poiēm ist, dann ist poetisch das, was Gedichte charakterisiert.
         Aber das Problem verkompliziert sich im Handumdrehen: Eigentlich gibt es keinen Grund, warum man dieses oder jenes Gedicht als nicht-poetisch auszeichnen soll. Die poetische Qualität würde dem Gedicht im Namen der Poesie selbst verweigert werden. Aber das erfordert, den Unterschied zwischen Gedichten und Poesie zu verstehen.
         Lange Zeit war man überzeugt, dass zwischen der Poesie und den Gedichten eine Harmonie herrscht wie zwischen der Malerei und einem Gemälde. Gedichte, im Plural, würden die Poesie, im Singular, umsetzen. Jedes Gedicht im Singular würde zu den anderen passen, sie bestätigen oder verneinen. So oder so wurden die Gedichte durch die Poesie vom Singular in den Plural oder vom Plural in den Singular projiziert. Poesie strahlt auf Gedichte wie ein glitzernder Kristall (ein Bild frei nach Rilke); im Gegenzug verstärken Gedichte die Poesie wie Flimmern das Licht.
         Das ist nur die Spitze des Eisbergs. Unter dem Namen der Poesie, in der Einzahl, hören wir oft die Existenzbedingung der Gedichte in ihrer Pluralität. Man glaubt an die Poesie, um den Glauben an jedes Gedicht aufrecht zu erhalten, oder zumindest an jedes Gedicht, an das man glaubt. Welche Wege geht dieser Transfer? Ist die Poesie nicht eine Gattung, die verschiedene Arten zulässt? Wir sollten uns der Logik von Aristoteles zuwenden und uns eine Stelle in der Topik ins Bewusstsein rufen:

Die Gattung ist das, was von mehreren und der Art nach verschiedenen Dingen als in dem Was derselben enthalten, ausgesagt wird. Den Ausdruck: Als in dem Was enthalten, ausgesagt werden, werde ich von alle dem gebrauchen, was sich zu der Antwort auf die Frage schickt, was der vorliegende Gegenstand sei. So schickt es sich z.B. auf die Frage, was das Vorliegende sei, wenn es ein Mensch ist, zu sagen, dass es ein Geschöpf ist. Zu der Frage über die Gattung gehört auch die Ermittlung, ob etwas mit einem anderen zu derselben Gattung gehöre oder nicht; denn auch dies gehört zu demselben Verfahren, durch welches die Gattung ermittelt wird. Hat man nämlich bei einer Erörterung gezeigt, dass das Geschöpf die Gattung für den Menschen ist, so wird man auch damit gezeigt haben, dass auch der Stier zu derselben Gattung gehört. Hat man aber von dem einen Gegenstande seine Gattung erwiesen und von einem anderen Gegenstande gezeigt, dass diese nicht dessen Gattung sei, so hat man auch dargelegt, dass beide nicht zu derselben Gattung gehören.  



         In Hinblick auf « Der Balkon » (Anm.: ein Theaterstück von Jean Genet) und « Die Auster » von Francis Ponge frage ich mich also, was das sein soll, dieses Sein, um das es geht? Und ich sage mir, dass es legitim ist, zu sagen: ein Gedicht. Wenn ich aber sage « Gedicht » ist eine Gattung, dann muss ich sagen, dass « Die Auster » und « Die Gefangene » (Anm.: ein Roman von Marcel Proust) oder « In der Einsamkeit der Baumwollfelder » (Anm.: ein Theaterstück von Bernard-Marie Koltès) verschiedenen Gattungen angehören.
         Und die Schwierigkeiten wuchern wie jedes Mal, wenn es um die Theorie von Gattungen geht – und wie jedes Mal wenn es sich um logische, poetische oder geschlechtliche Gattungen handelt, selbst wenn die öffentliche Aufmerksamkeit viel leichter erregt wird von den Problemen letzterer, die vielleicht die Schwierigkeiten, die von ersterem verursacht werden, erklären könnten. Eine Schwierigkeit ist klar: eine Gattung neu zu definieren heisst unbehausten Ausdrücken einen Wohnsitz zuzuweisen.
         Ist die Gattung « Poesie » nun der Operator, der es ermöglicht diese ähnlichen und unähnlichen Gedichtserien herzustellen? Ist es die Gattung als solche, die hier wie da den Singular – jenes einzigartige, unerreichte Gedicht – und den Plural bildet? Aber das ist relativ komplex: Die Gedichte oder Gedichte, beide Pluralformen existieren in Hinblick auf die Poesie. Der Dichter schreibt Gedichte (und nicht die Gedichte), der Leser liebt die Gedichte (und nicht Gedichte).

         b) Das schwierigste kommt erst noch: Falls die Poesie eine Gattung ist, dann gibt es auch solche Gedichte, die nicht zur Gattung beitragen. Und das sind die grossen Gedichte – diejenigen, die sich von der Gattung losreissen.
         Jedes Mal, wenn ich eines lese oder an eines denke, tu ich das zum ersten und zugleich letzten Mal. Es ähnelt sich selbst nicht mehr, so dass es sich von sich selbst unterscheidet. Die Poesie ist dann nicht mehr die Bedingung für die Möglichkeit von Gedichten, sondern scheint mehr als die Bedingung ihrer Unmöglichkeit. Vielleicht gehört es zu jedem grossen Gedicht, dass es die Gedichtgattung durch den Einsatz der poetischen Kraft selbst mitträgt. « Le Bateau Ivre » , « Un coup de dés » , « Todesfuge » , « Autostrada della Cisa » …
         Wieder Adorno: « Was den Kategorien Tragik und Komik widerfuhr, bezeugt den Niedergang der ästhetischen Gattungen als Gattungen. Kunst ist einbezogen in den Gesamtprozess des vordringenden Nominalismus, seitdem der mittelalterliche ordo gesprengt ward. »
Adorno erklärt die Krise der Gattungen mit dem Fortschritt des Nominalismus. « Den Gattungen wurde das einzelne Werk nicht dadurch gerecht, dass es ihnen sich subsumiert, sondern durch den Konflikt, in welchem es sie lange rechtfertigte, dann aus sich erzeugte, schließlich tilgte ».  Er folgt dem Faden dieser generischen Ontologie, um zu sehen, wo er sich auftrennt. « Der fortschreitende philosophische Nominalismus liquidierte die Universalien, längst ehe der Kunst die Gattungen und ihr Anspruch als gesetzte und hinfällige Konventionen, als tot und formelhaft sich darstellten ».
         Mit anderen Worten: Poesie kann nicht der natürliche Träger von « poetisch » sein unter der Bedingung eine Gattung zu schaffen, die derart mit dem übereinstimmt, von dem es sich unterscheidet. Es scheint eher so, dass die Emanzipation der Werke von ihrer Gattung, unter dem allgemeinen Druck des Nominalismus, dazu beigetragen hat, dass « poetisch » seinem natürlich Träger entkommt mit derselben Leichtigkeit wie das « Gedicht » und die « Poesie » dahin gedrängt wurden, die Einzigartigkeit von individuellen Erfahrungen auszudrücken.
         Hier drängt sich eine Analogie auf: Die Beziehung zwischen tragisch und Tragödie. Wenn ein Begriff seinem Träger entkommt, um nicht-literarische Erfahrungen zu bezeichnen, können wir das Schicksal von « tragisch » leicht messen. Im alltäglichen Gebrauch verweist « tragisch » noch mehr auf Erfahrungsinhalte als es die Tragödie tut. Man kann offensichtlich schneller zurückschliessen, dass tragisch nichts mehr mit der Gattung Tragödie zu tun hat, als bei poetisch und Poesie. Jedoch wäre es voreilig gleich eine Trennung zwischen der Lebenswelt und der Welt der Kunst zu ziehen.
¹⁰  Denn es ist nicht egal, ob man Gebrauch macht von literarischen Begriffen, um Erfahrungsinhalte zu beschreiben.


3. Ein Paradox der Epoche: In ihren literarischen Beilagen hören Zeitungen nicht auf so etwas wie Romane, Essays, Reflexionen als « poetisch » zu loben. Aus ihren Kolumnen verschwinden aber die natürlichen Träger jenes Adjektivs, das sie so gern verwenden.

Glosse

         a) Im Sturz des Urteils wollten die Dichter des fin du siècle, dass das Gedicht der Zeitung den Rücken zuwendet, und wie als Antwort an den Absender, haben sich die Zeitungen vom Gedicht abgewandt. Tendenziell wird diese Separation auf Mallarmé datiert. Man müsste aber Verlorene Illusionen (Anm:. von Honoré de Balzac) noch einmal lesen, um diese Trennung rückzudatieren.
         Ein bekannter Kritiker beschrieb die Situation der zeitgenössischen Lyrik in einer antimetabolen Formel: « von der Poesie des Desasters zum Desaster der Poesie ». Er richtet den Schuldigen – Mallarmé: « Keine Katastrophe hatte mehr Konsequenzen für die Literatur. Keine Katastrophe sollte mehr Klagen in die Dichtung treiben. »
¹¹ Selbstmord der Poesie. Man braucht nicht überrascht zu sein von der Gewalt eines solchen Urteils. Die Dichtung hat sich selbst versenkt. Nur: Müsste man nicht lieber fragen, wo der Platz für Lyrik im demokratischen Diskurs heute ist? Wo ist der politische Ort, der Dichtung überlassen wird? Was ist die Ökonomie der Veröffentlichung?
         Bei Tocqueville finden sich ein paar sehr bemerkenswerten Seiten in der Démocratie en Amérique. Die Wortwahl der Kapitelnamen könnte auch ein detaillierter Lehrplan für heute sein: I, XIII: « Von der literarischen Physiognomie im demokratischen Jahrhundert », I, IV: « Von der literarischen Industrie », I, V: « Warum das Studium der griechischen und römischen Literatur teilweise notwendig ist für demokratische Gesellschaften », I, XVI: « Wie die amerikanische Demokratie die englische Sprache verändert hat », I, XVII: « Über einige Quellen der Lyrik in demokratischen Staaten ».

         b) Wann wurde eigentlich die Dichtung aus dem öffentlichen Raum und besonders aus den Medien verdrängt? Diese Geschichte bleibt noch zu schreiben. Für Italien habe ich bereits ein paar Hypothesen gewagt. Ein Datum erschien mir da besonders aufschlussreich: 1975.
         1975 bekam Eugenio Montale den Nobelpreis und zugleich starb Pier Paolo Pasolini. Montale und Pasolini beendeten eine Tradition, im Sinne dessen, was Walter Benjamin über Marcel Proust sagte, der den Roman beendete. Sie markieren den höchsten Punkt, der auch ein Schlusspunkt ist. Und in dieser Schlussfolgerung sind sie sich näher, als es scheint. Schliesslich muss man auch an den Titel von Montales Nobelpreisrede denken: E’ ancora possibile la poesia? Ist sie noch möglich, die Poesie? Wie kann man von dieser Frage nicht ergriffen werden. Und wie kann man die Krise der Poesie bei Montale übersehen? Sie ergreift Satura, durchfährt Diario del’71 e del’72 und erschüttert Quaderno di quattro anni.
         À propos später Montale – Pasolini, der Satura in einer Rezension als ein Buch mit « unpoetischer » Kraft darstellte, machte im gleichen Jahrzehnt jenes « Unpoetische » noch zu seiner eigenen Forderung, indem er erklärte, dass er in der Tradition der Poeta delle ceneri ein Dichter des Verzichts sein wolle und diese triste Feststellung zur Schau stellte. Montale und Pasolini deuten auf die Enttäuschung eines Traumes: Jenen des « allumfassend poetischen Akts » (der Ausdruck stammt von Zanzotto).
         Krise der italienischen Poetik. 1975 veröffentlichten Alfonso Berardinelli und Franco Cordelli auch noch eine entscheidende Anthologie mit dem enigmatischen Titel Il pubblico della poesia.
¹² Diese Anthologie basierte auf folgender These: Die Dichtung hätte nicht mehr zu bieten als eine Logik des Abdriftens und eine Logik von Fluchtlinien, die ihr einen flexiblen, ungreifbaren und unkenntlichen Charakter geben.
         Schliesslich widmete sich auch Luciano Anceschi in einer Doppelausgabe von Il verri der aktuellen Situation der Poesie und schrieb 1976: « Ein Bild, das in den letzten Jahren oft benutzt worden ist, ist dasjenige der italienische Dichtung, die einem explodierten, zerrissenen Stern gleicht. Kann man sagen, dass dieses Gestirn im Begriff ist, sich zu wandeln? Oder mehr noch, dass sich eine Art neues Sternensystem aufbaut? »
¹³ Auf diese Frage sollte die Gründung der Anterem unter der Führung von F. Ermini antworten. Eine Zeitschrift, die eine grosse Rolle in der Lyrikreflexion der letzten dreissig Jahre spielt.

         Zu 1975 muss man sich also aus doppeltem Grund über die Rolle des Lyrikers und über die Krise der Poetik äussern. Aber was geht wem voraus? Eben das ist die raffinierte Geschichte der dichterischen Phänomene, die vielfältige Antwortmöglichkeiten bieten. Und eine solche Geschichte darf niemals die geistigen Bedingungen ignorieren, unter denen sich die singulären Praktiken einer Sprache entwickeln. Nur was ist das Jahr 1975 für die französische Lyrik?


4. Im Oktober 2010 erschienen in einer sehr schönen Ausgabe die Fragments von Marilyn Monroe. Sie enthalten neben Prosa auch Zeitschriftenartikel und Briefe sowie veritable Gedichte. Man hat sie gefeiert. Eine Poetesse war geboren. Im April 2013 veröffentlichte der französische Romancier Michel Houellebecq eine Sammlung von Gedichten (nicht seine erste): Configuration du dernier rivage (Anm.: auf deutsch erhältlich unter dem Titel Gestalt des letzten Ufers). Die Kritik war einstimmig und laut und nahm in den meisten Zeitungen und Zeitschriften eine volle Seite in Anspruch. Man feierte weniger seine Kunst als seinen Mut: den Mut der Poesie (den Dichtermut von Hölderlin). So beweihräucherte man Marilyn und Houellebecq, weil sie Lyrik geschrieben haben (und Gedichte zu schreiben ist eben eine hochachtungsvolle Tätigkeit. Es wäre nicht dasselbe gewesen, hätte Houellebecq ein Gemälde ausgestellt oder hätte Marilyn Monroe ein Theaterstück geschrieben). Hätten sie keine Gedichte geschrieben, hätte man sich nicht dafür interessiert – Es ist nicht die Poesie der Dichter, die interessiert, sondern die Poesie der Nicht-Poeten.

Glosse

         Die Behauptung transportiert Missverständnisse. Sie lässt denken, dass es wahre Dichter gibt – oder eher, dass manche es wert sind, so genannt zu werden und andere dessen unwürdig sind. Wenn das so ist, dann ist diese Behauptung abscheulich.
Was aber bleiben muss, ist eine symbolische Anerkennung, die öffentlichen Personen zuteil wird, wenn sie neben ihrer hauptsächlichen Tätigkeit Gedichte veröffentlichen, weil sie dadurch gezwungen sind, literarische Mechanismen und lyrische Paradoxien zu hinterfragen. Nachdem ich das erkannt habe, revidiere ich diese Behauptung.


5. Das, was die Poesie der Nicht-Poeten charakterisiert, ist ihre « altmodische » Erscheinung. Michel Houellebecq hilft uns, das zu verstehen, indem er erklärt, keinen Dichter des 20. Jahrhunderts gelesen zu haben. Ein Romanschriftsteller, von dem manche behaupten, dass er zur Neuerfindung des zeitgenössischen Romans beigetragen hat, denkt also, dass er sich nicht mit den Praktiken der zeitgenössischen Dichtung auseinandersetzen muss, um Gedichte zu schreiben.
Man kann sich leicht davon überzeugen, indem man es liest: Die Poesie des Nicht-Poeten unterhält denselben Dialog mit der zeitgenössischen französischen Dichtung wie die Gemälde eines Sonntagsmalers mit der bildenden Kunst des 20. Jahrhunderts. So wie jener, sagen wir zwischen 1880 und 1914, seine Familie oder einen Garten in seinen kanonisierten Formen als ein Stück Geschichte porträtieren will (er entleiht sich seine Motive aus einem Kunstmuseum, das Monet und Manet, Gauguin und Cézanne ausstellt), will der hier seine unglückliche Liebe in konventionellen Formen besingen, die er sich von Lyrikadepten und Chansonniers ausgeliehen hat.


Glosse

         a) Dem « Dichter » Michel Houellebecq wurde eine neue Anerkennung zuteil. Kurz darauf wurden auch seine gesammelten Gedichte unter dem Titel Non réconcilié (anthologie personnelle, 1991-2013) bei « Poésie/Gallimard » publiziert. Dem Vorwort entnehme ich, dass Michel Houellebecq « vor allem » Dichter und seine Dichtung nicht als « Hobby »
¹⁴  zu betrachten sei. Ich begnüge mich hier mit der Bemerkung, dass die Betonung des Nicht im Titel des Gedichtbandes (Non réconcilié, dt.: unversöhnt) seine Resonanz im Titel dieses Aufsatzes findet.

         b) Für die Geschichte einer Poetik des Ja und Nein
         Eine poetologische Geschichte dieser Adverbien ist durchaus möglich.
¹⁵ Solange sie im Geschriebenen bleiben, sollten sie auch linguistisch, poetologisch und philosophisch verwendet werden. Ein paar Bemerkungen genügen, um diese Notwendigkeit zu zeigen.
         Ja und Nein müssen linguistisch mit ihrer « semantischen Persönlichkeit » verbunden sein wie mit ihrer eigenen Geschichte. Man könnte auf den nachfolgenden Aufsatztitel verweisen und damit in der Nachwelt von J. Marouzeau verweilen: « Nein sagen ».
¹⁶ Marouzeau bot eine psycholinguistische Studie über das Nein-Sagen als ein Mittel der Negation, um sich zu behaupten – was der Reichtum an Verneinungs- und Negationsausdrücken in den verschiedenen Sprachen bezeugt – « Man muss der Verneinung eine viel grössere Bedeutung einräumen als der Bejahung. »¹⁷  
         Sie (die Adverbien) müssen poetologisch und philosophisch sein, weil sie auf die Haltung des Dichters verweisen – auf seine Art der Bejahung und der Verneinung: auf seine Bejahung der Welt und der Poesie oder ihre Verneinung, oder besser noch, auf ihre Mischung aus zurückhaltenden Zustimmungen und liebenswürdiger Verweigerung. In derselben Manier wie Abraham, der für die göttliche Weisung einsteht, indem er sagt « ich hier » steht der Dichter für sich selbst ein, indem er den Weisungen der Welt und der Dichtung mit Ja oder Nein antwortet. Folglich antwortet auch ein Gedicht von Paul Celan den Worten Jesu « Eure Rede aber sei: Ja, ja; nein, nein » (Matt. 5,37), nämlich Sprich auch Du aus dem Band Von Schwelle zu Schwelle.

Sprich –
Doch scheide das Nein nicht vom Ja.
Gib deinem Spruch auch den Sinn:
Gib ihm den Schatten.


         Reden ist weder Zustimmung noch Zurückweisung, sondern es heisst zu akzeptieren, dass im Schatten des Neins das Licht des Jas leuchtet. In Ronde des convers
¹⁸ meditiert der Dichter Eugenio De Signoribus über die Trennung von Ja und Nein im Gedicht « Das nützt nichts ».

das nützt nichts das gefangensein nur
neinsagen, nein, nein!
im schmutz rundherum, der uns laufend verscheucht

wenn du in jedem nein kein ehrliches ja findest
um hier zu säen
im gedächtnisgebiet ...


         Die vom Titel evozierte Bekehrung meint nicht die Hinwendung zu einer religiösen (Nicht-)Transzendenz. Es geht vielmehr darum, ein Ja einzuführen, das es ermöglicht, jenseits der Stille, zu der die Epoche nötigt, weiterzusprechen. Sich zu bekehren, meint, sich zum Ja zu bekennen. In « Bilanz » schreibt der Lyriker dann auch:


falls was von nutzen war
falls was zu ernten war
nackter schrei im verhüllten tag

durchmischt und bekehrt
der schrei vom ja


         Wo Celan vorschlägt, das Ja und das Nein nicht zu trennen, regt De Signoribus an, das Nein in ein Ja umzuwandeln. Genauso gibt es aber auch die Dichter des « Neins », wie Claude Mouchard einer ist:

Wut – aber nicht gegen
Dich: glaub nicht, du hättest nie
Nein gesagt. Hättest du
Ja


         Dichter müssen das Ja und das Nein nicht paraphrasieren. Sie müssen auch keine Stellung einnehmen.


         c) Verortung der französischen Poesie
         Dazu braucht es eine gewisse Vorstellung von Geschichte. Die Dichtung zu verorten heisst aber nicht, sie in ihre Geschichte, sondern in die Geschichte einzuordnen oder vielmehr in ihre Geschichten, ohne dabei die Geschichte zu vergessen, die sich mit ihr auftut – und die politische oder philosophische Geschichte, die sich mittels der Poesiegeschichte auftut, ist nicht leicht zu verstehen; zumindest nicht leichter als das Verhältnis der Poesie zur Sprache mit ihren politischen, sozialen und subjektiven Veränderungen im Laufe der Zeit.
         Nur die Dümmsten denken, dass eine Verortung eine soziologische, ökonomische, philosophische « Vereinfachung » ist, die eine schwerverständliche, unzuortbare Lyrik auf Schemen reduziert. Trotz aller Schwierigkeit und Unvollständigkeit verweise ich hier vor allem auf die Studie von Walter Benjamin über Charles Baudelaire – Einen Dichter zu verorten heisst, sich die Mittel anzueignen, um ihn zu lesen, sich die Bedingungen anzueignen, um seine Intelligenz und die Verletzlichkeit seiner Sensibilität zu verstehen.
         Aber die zeitgenössische Poesie in Frankreich verorten? Man müsste bedenken, was aus Sprache in einer Gesellschaft des Spektakels wird, so wie sie jedes Gespräch heutzutage bestimmt. Es ist z.B. offensichtlich, dass der Erfolg bestimmter Musik, die sich für Poesie ausgibt, darin besteht, die Wirkungen der Sprache zu steigern, um sie spektakulär und hörbar zu machen. Das ist genau das Gegenteil der Dichtung, die seit einem Jahrhundert mit dem schweigend Geschriebenen versucht, zu überleben. Man kann sich natürlich auch fragen, ob die derzeitige Öffentlichkeit bereit ist, dem Gehör zu schenken, was die Poesie kann. Die ehemaligen Kämpfe um den Vers libre bezeugen, wie die immer mehr schwindende Anzahl von Lyriklesern (aber immerhin) einen Enthusiasmus für die neue Metrik aufbrachten, deren Modulationen bei der Mehrheit der heutigen Leser wohl unbemerkt bleiben, weil sie die Innovationen gar nicht mehr erkennen. Aber natürlich auch, weil die damaligen Lyrikleser wesentlich mehr Lyrik kannten als wir.
         – Und ein einsamer Dichter bemerkte, dass der Diskurs über das Verschwinden der Lyrik aus der Gesellschaft mehr Platz einnahm als die Dichtung selbst.


6. Man kann also sagen, dass die « Nicht-Poesie der Nicht-Poeten » heutzutage in Frankreich auf die gleiche Art gefeiert wird wie die Poesie.

Glosse

         Das hätte ich zweifellos präzisieren müssen – das meint die französische Dichtung. Ebenso scheint mir, als würde sich die öffentliche Lyrikkritik wohler fühlen, wenn sie Übersetzungen besprechen kann – als ob dieses Abnabeln eine Grenzziehung berechtigen würde, die französische Lyrik hinfällig macht.


7. Eine solche « Unterscheidung » ist nicht unmöglich; auch wenn die romandominierte Literaturwelt nicht mehr zwischen Schriftstellern « unterscheidet » (die sich devot der Massenkultur unterwerfen). Man muss die Beherrschten der Beherrschten suchen (diejenigen, die sich selbst als Unterworfener der Romankultur darstellen). Sie betreiben die Gattung als Hausierer und Lumpensammler (unter dem Vorwand, dass sie von symbolischem Wert ist) und predigen den « Mut der Dichtung ». Schöne Diskrepanz.

Glosse

         Man wird hier das Bourdieu'sche Argument erkannt haben. Bourdieu hat sich in Die Regeln der Kunst der « Genese des literarischen Feldes » gewidmet. Man täte gut daran, die kulturelle, soziologische und politische Wirklichkeit der zeitgenössischen französischen Dichtung einmal durch die Brille dieser Untersuchung zu betrachten.


8. Ohne Zweifel vollzieht sich hier eine Veränderung jener Frage, die von den analytischen Philosophen gestellt worden ist. Diese Philosophen – darunter Morris Weitz, Arthur Danto, Nelson Goodman und George Dickie in den USA oder Jean-Marie Schaeffer und Gérard Genette in Frankreich –, behaupten seit gut 50 Jahren, dass es unmöglich ist, eine « substanzielle » Definition von Kunst aufzustellen. Die Kunst hätte keine eigene Form oder einen besonderen Inhalt; allein der Kontext – historisch, institutionell und theoretisch – würde es erlauben, sich ihrer Existenz bewusst zu werden. Anstatt sich zu fragen « Was ist Kunst? » haben es sich diese Philosophen auf die Fahnen geschrieben, zu fragen « Wann ist es Kunst? » Und die Beantwortung dieser Frage lässt sofort an Arthur Danto denken, der ein Werk vor allem als ein historisches Produkt sieht, dessen Anerkennung als Kunst von der « Theoretischen Atmosphäre » des Augenblicks abhängt (die künstlerischen Kriterien, die in diesem Moment massgebend sind für die Kunstgeschichte). Wahrscheinlich macht man also in unserer Epoche gar nicht so viel falsch, wenn man die « Nicht-Poesie der Nicht-Poeten » lobt.


Glosse

         a) In Fiktion und Diktion beschreibt Gérard Genette, basierend auf zwei verschiedenen Modellen der « Literarizität », die beiden Modi, in denen ein Text als « literarisch » deklariert werden kann.
         Einerseits gibt es das, was Genette als « konstruktivistische oder essentialistische » Literaturtheorien bezeichnet, die sich auf eine endgültige und allgemein wahrnehmbare Literarizität bestimmter Texte berufen, die sich immanent oder inhärent stets selbst infrage stellen. Das Musterbeispiel ist die aristotelische Poetik, weil das Kriterium der Mimesis der Erzählung inhärent ist, im Gegensatz zu formalen Kriterien, welche die äussere Form zu einem Unterscheidungsmerkmal von Literatur und Nicht-Literatur machen.
         Andererseits unterscheiden sich davon die « konditionalistischen » Theorien, beispielhaft dargestellt von Nelson Goodmans bekannter Frage « Wann ist Kunst? », die nach den Bedingungen fragt, unter welchen ein Text zu einem Werk werden kann und die literarische Texte anhand von Urteilen klassifizieren.

         b) Der Opposition von essentialistischer und konditionalistischer Poetik fehlt es an Dialektik.
         Einerseits gibt es keine essentialistische Poetik, die nicht von ideologischen Zwängen determiniert wäre, die bestimmen, was Literatur hier und da ist. Auf dieselbe Art hängt auch die konditionalistische Poetik von einer ganzen Reihe zeitgenössischer historischer Phänomene ab, die darauf zielen, den Begriff der Literatur, des Werkes, des Kanons und der symbolischen Hegemonie in Frage zu stellen.
         Andererseits: Kann man Konditionalist sein ohne Essentialist zu sein? Ich erkläre mich: Wenn man bestimmt « unter diesen Bedingungen ist dieses oder jenes Werk poetisch » – kann man das machen, ohne zu glauben, dass es essentiell ist? Die Denkweise dieses Arguments erinnert stark an die Kritik der Urteilskraft: Man weiss, dass das Urteil des « Schönen » die Beziehung zwischen Subjekt und Objekt bestimmt, aber so, als ob das Schöne dem Objekt eingeschrieben wäre. Der Konditionalist will glauben, dass ein Text unter bestimmten Bedingungen poetisch ist, aber er kann nicht bewirken, dass der Text nicht poetisch ist, wenn ihm diese Eigenschaft schon eingeschrieben ist.
         Mit anderen Worten, es gibt konditionalistische Bestimmungen über eine essentialistische Poetik und einen essentialistischen Zug in jeder konditionalistischen Poetik.

         c) Anstatt die dialektischen Poetiken zu verabschieden, weil sich ihre Ambitionen in den braven Kompromissen und Synthesen schlecht entfalten, hätte man ihr deskriptives Potential durchaus wertvoller nutzen können. In der Hinsicht und unter Betracht seines Hegelianismus bleibt die Ästhetische Thoerie von Adorno nur ein Modell.


9. Fehlt noch, dass sich diese Angelegenheit um eine weitere Drehung verkompliziert: Die zeitgenössischen Dichter lehnen es oft ab, dass man sie « Dichter » nennt, und dass man ihre Texte als Gedichte bezeichnet. 2011 erschien in der Edition La Fabrique ein kleines Manifest mit dem Namen Mais toi aussi tu as des armes. Poésie et politique (dt.: Auch Du hast Waffen. Poesie und Politik). Das Buch beginnt mit den Worten: « dieses Buch versammelt Schriftsteller, die nicht als Dichter behandelt werden wollen. Sie legen auch keinen Wert darauf, dass man ihre Schreibarbeit als Dichtung qualifiziert. » Und dennoch heisst das Buch im Untertitel « Poesie und Politik ». Es gibt also auch eine nichtpoetische Poesie von nichtpoetischen Poeten.

Glosse

         Unter dem doppelten Einfluss von Francis Ponge und Denis Roche ordnet Jean-Marie Gleize das Schreiben einem Anspruch der « Literalität » unter, die sich rein aus der Nacktheit speist (Anm.: Nacktheit ist hier im Sinne von Jean-Marie Gleize Begrifflichkeit der nudité gemeint).
¹⁹ Nach Kant könne das Prinzip der vollständigen Nacktheit zum Noumenon selbst führen. Es ist so, dass der Literarismus (sag nichts, was es nicht zu sagen gibt), der Objektivismus (an der Oberfläche einer Sache), und die Nacktheit (die Sprache muss verstummen, um der Realität Platz zu machen) verlangen, mit der Poesie zu brechen: « Der Poesie wird aufgekündigt. »²⁰  Was sind die theoretischen, historischen und stilistischen Auswege (und Sackgassen) in so einer Situation?
         Sie zwingen zur Unterscheidung von « Poesie », « Re-poesie », « Neopoesie » und « Postpoesie ».
²¹ Letzteres ist gekennzeichnet durch eine Reihe von hier wichtigen Charakterzügen: Die Postpoesie bietet keine Gedichte, sondern « textliche Objekte », die nicht mit der genialen Subjektivität und der persönlichen Erfahrung arbeiten; sie schliesst alle expressiven Dimensionen aus; sie hat « keine partikuläre ästhetische Absicht » ; ihre « Gegenstände sind streng gebunden an ihren objektiven Produktions- und Reproduktionsmodus » ; ihre « Gegenstände sind reflexiv, metatechnisch, metadiskursiv » ; « ihre Gegenstände charakterisieren sich schliesslich (...) durch die Dispositive, die sie verwirklicht » : nicht nur, dass die Dichtung den Gedichten nichts mehr sagt, vielmehr, ist sie auch noch kontaminiert von Bildern, Tönen, der Interlinguistik, der Choreographie. Mehr und mehr schaut die Poesie bald nach gar nichts mehr aus.
         Man könnte unsere Unterscheidung diesbezüglich in eine klare Form giessen: Der Materialismus der Nacktheit widersetzt sich den Forderungen eines neuen lyrischen Formalismus. Ein Formalismus der Form und nicht der Formel.


10. Sinnlos ist diese Debatte nicht. Sie ermöglicht es, wieder an die Poesie von Dichtern zu erinnern, für die das Schreiben von Gedichten von einem höheren Kunstanspruch bestimmt wird. Aber die « seltsame, unkontrollierbare Bezeichnung » (Aragon) für Dichter wird gar nicht mehr gesucht oder verweigert – man kann sich auf eine Formel von Michel Deguy berufen und sich als « Sein suchenden Dichter » präsentieren.

Glosse

         Falls man die Kritik versteht, die hier an den Dichter gerichtet ist (und diese Kritik wäre die gleiche für die moderne Lyrik), versteht man nur schwer, warum der Name Dichter verweigert oder negiert wird, wenn er einen Arbeitsbereich definiert, der – wie die Sprache selbst – den Versuch wagt, die Realität auszudrücken.
         Niemand kann sich selbst zum Dichter bekehren. Aber « der Dichter, der ich versuche zu sein » ist asymptotisch und angewiesen auf eine Veröffentlichung dementsprechender Gedichte. « Nenn mich nicht länger Dichter » oder « Nenn mich Dichter, der eine Seinsart sucht. » Eine schöne Übung für eine undefinierte Definition.


11. In einer Hommage an Pier Paolo Pasolini fragt sich Zanzotto: « Ist es gerecht, Pasolini als Dichter zu bezeichnen, bei all dem, was er geschrieben und auf verschiedensten Tätigkeitsfeldern geleistet hat? Ja, das ist es, die peinlichste und sogar altmodischste Bedeutung (imbarazzante e persino desueta), die der Begriff tragen kann. » Ohne Zweifel, es ist schwierig sich zwischen den Bedeutungen zu entscheiden, die diesem Begriff anheften und man hat gute Gründe bestimmte Masken abzulegen. Aber diese Schwierigkeit sollte die Sein suchenden Dichter nicht daran hindern, die Dichtung zu verteidigen. Ansonsten gehen wir das Risiko ein, als jene Generation zu gelten, welche die Poesie verschleudert hat.

Glosse

         a) Die Worte, die Zanzotto 1980 an Pasolini richtete, zählen für ihn selbst sicher mehr – für den Dichter, der Zanzotto ist, mit seiner wunderbaren Prosa, die sich aus Eindrücken und Erinnerungen speist (er kann die grössten Schwierigkeiten der Existenz in einem einzigen Satz geschmeidig, aufreibend und differenziert verarbeiten; stets spirituell, im Sinne von inspiriert); für den Dichter, der Zanzotto ist, wenn er kritisch ist (und seine kritische Produktion füllt zwei starke Bände, wo er an die Dichter, die Maler und die Romanschriftsteller erinnert, die für ihn gezählt haben); für den Dichter, der Zanzotto ist, wenn er fürs Kino arbeitet (unvergesslich seine Arbeit mit Fellini); für den Dichter, der Zanzotto ist, weil er die Dichtung von neuem erfindet, die ihn verfolgt und nie loslässt.
         Zanzotto hatte absolutes Vertrauen in die Poesie. Mehr noch: er war Poesie und sprach in ihrem Namen. Er liess nicht ab von dem Begriff und nahm alle Bedeutungen, Auswirkungen und Komplikationen auf sich.


12. Man gewinnt nicht immer, wenn man sich erklärt. Man verliert nicht automatisch, wenn man es tut.


Aus dem Französischen von WF Schmid



 Aufzurufen unter: lyrikkritik.de - inzestbude.

¹ Im Sinne von Jean-Marie Schaeffer, der von einer «Theorie der spekulativen Kunst» spricht (vgl. L’Art de l’âge moderne, Paris, Gallimard, 1992).
²  Charles L. Stevenson, «Interpretation and Evaluation in Aesthetics», in Max Black (éd.), Philosophical Analysis (1950), Englewood Cliffs, Prentice Hall, 1963.
³  «Persuasive Definitions», Mind, 47, 1938.
Theodor W. Adorno: Ästhetische Theorie. Suhrkamp 1970, S. 258.
 Vgl. Monroe Beardsley, Aesthetics: Problems in the Philosophy of Criticism, (1958), Indianapolis, Hacket, 1981.
Aristoteles, Topik, 1. Buch, 5. Kapitel.
 Theodor W. Adorno: Ästhetische Theorie. Suhrkamp 1970, S. 273.
 Theodor W. Adorno: Ästhetische Theorie. Suhrkamp 1970, S. 276.
Theodor W. Adorno: Ästhetische Theorie. Suhrkamp 1970, S. 278.
¹⁰ Vgl. Laurent Jenny, La vie esthétique, stases et flux, Lagrasse, Verdier, 2013.
¹¹ William Marx, L’Adieu à la littérature, Paris, Gallimard, 2005, pp. 123-143.
¹² Die Herausgeber wollten diese Anthologie unter dem Titel Il pubblico della poesia, trent’anni dopo republizieren. Diese Geste bekräftigt unsere These. Die Anthologie von 1975 begann mit einer Einführung von A. Berardelli gefolgt von einer Umfrage mit 10 Items: 1. Was sind die Lektüren, die dich geprägt haben? 2. Kannst Du die Entwicklung deiner Idee des «Lyriker-Seins« beschreiben? 3. Wie siehst du das eines Lyrikers zu anderen Schriftstellern und zu anderen intellektuellen Aktivitäten und Interessen? 5. Welche allgemeinen und theoretischen Hypothesen über das Schreiben von Dichtung und über die heutige Welt im Allgemeinen würdest du aufstellen? 6. Was ist im Augenblick die Öffentlichkeit für dich? 7. Was bedeutet der kulturelle Markt, die Veröffentlichungsindustrie? 8. Welches Verhältnis unterhältst du mit anderen Schriftstellern oder Kritikern deiner Generation? 9. Was sind heutzutage deine Vorstellungen und Intentionen, Lyrik zu schreiben? 10. Wie sieht deine Situation als «Lyriker« aus?
¹³  L. Anceschi, «ariazioni su alcuni equilibri della poesia che san di essere precari», Il verri, 1976, n°5, p. 5
¹⁴  Agathe Novak-Lechevalier, « Là où ça compte », préface à Non réconcilié, p. 7.
¹⁵  Le livre récent de Frédérique Toudoire-Surlapierre, Oui/Non, Paris, Minuit, 2013, n’apporte rien à cette histoire.
¹⁶  J. Marouzeau, « Dire ‘non’ », Mélanges de linguistique offerts à Charles Bally, Genève, 1939, pp. 415-420.
¹⁷  J. Marouzeau, « Dire ‘non’ », article cité, p. 416.
¹⁸  Eugenio De Signoribus: Ronde des convers, Paris, Verdier, 2008. Einführung von Yves Bonnefoy, Übersetzung, Anmerkung und Nachwort von Martin Rueff.
¹⁹  Vgl. Jean-Marie Gleize: A noir, poésie et littéralité, Le Seuil, 1992.
²⁰  Jean-Marie Gleize: Sorties, Al Dante, 2009, p. 30.
²¹  Jean-Marie Gleize: Sorties, Al Dante, 2009, p. 55-61.

Martin Rueff, geboren 1968 in Calgary (Canada), ist Übersetzer, Lyriker und Philosoph. Nach Stationen an der Université Paris VII – Diderot und an der Università di Bologna ist er Professor für französische Literatur-wissenschaft an der Université de Genève. Rueff ist Herausgeber der « Werke » von Cesare Pavese und Mitherausgeber der Werke von Claude Lévi-Strauss (beide Gallimard). Als Lyriker erschien von ihm zuletzt 2008 « Icare crie dans un ciel de craie » (Ikarus kreischt im Kreidehimmel).

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