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Marilia Jöhnk: Poetik des Kolibris

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Jan Kuhlbrodt

Marilia Jöhnk: Poetik des Kolibris. Lateinamerikanische Reiseprosa bei Gabriela Mistral, Mário de Andrade und Henri Michaux. Bielefeld ([transcript] Verlag) 2021. 340 Seiten. 49,00 Euro.

Zu: Marilia Jöhnk: Poetik des Kolibris


Lange Zeit war und ist es so, dass Lesen mir das Reisen ersetzt hat. In den siebziger und achtziger Jahren, als ich ummauert in der DDR gesessen, sah ich in den Fotografien, die die Berichte illustrierten, den Beweis, dass da draußen eine Welt war, in der es hohe Berge, Baumgrenzen gab und Ozeane, in denen sich Delphine tummelten.
      Einmal, in einem Bulgarienurlaub, erblickte ich die Rückenflosse eines Tümmlers und wusste, dass die Bücher nicht lügen. Später dann war meine Reisetätigkeit aus finanziellen Gründen eingeschränkt, heute aus gesundheitlichen. Reisen ist und bleibt ein Traum mit kleinen Wirklichkeitseinschlüssen.
      Vor ein paar Jahren war ich tatsächlich einmal bei einem Festival in Rio, das Lyrik und zeitgenössische Musik vorstellte. Das Coolste war, neben den Gesprächen mit den brasilianischen Kolleginnen und Kollegen, der Flug, diese 12 Stunden über den Atlantik, die mir die Weite der Reise erfahrbar machten. Und die nächtliche Begegnung mit einem Gürteltier, das mir irgendwie im Fremden eine Vertrautheit vermittelte.

Die Literaturwissenschaftlerin Marilia Jöhnk, die derzeit an der Goethe Universität Frankfurt forscht und lehrt, hat nun vor einiger Zeit im [transkript] Verlag in der Reihe Lettre ein Buch mit dem Titel „Poetik des Kolibris“ vorgelegt. Es handelt sich um eine Abhandlung über Lateinamerikanische Reiseprosa bei Gabriela Mistral, Mario de Andrade und Henri Michaux.
     Es klingt vielleicht paradox, aber gerade durch meine Ortsgebundenheit waren mir die Autorin und die Autoren, um die sich das Buch dreht, bereits bekannt, denn ich saugte, zumindest eine Zeitlang alles auf, was an Fernen in den Bücherschränken meiner Umgebung zu finden war, und das waren unter anderem eben Gedichte von Mistral und Michaux. Von de Andrade steht irgendwo im Regal ein Roman.

Kontinental gesehen, war der Belgier Michaux natürlich nicht ganz so fern, aber er hat eben auch gezeichnet und gemalt, und seine gestrichelten Arbeiten, die Gebilde zwischen Letter und Körper über die Seiten stolzieren lassen, fallen und kriechen, hatten mich vom ersten Augenblick an begeistert. In jedem Fernen scheint sich etwas Vertrautes, eine Art Gürteltier, zu verbergen. Oder eben ein Kolibri.

Michaux, de Andrade und Mistral jedenfalls unternahmen in der ersten Hälfte des Zwanzigsten Jahrhunderts ausgedehnte Reisen durch Südamerika und entwickelten jeweils für sich spezielle literarische Formen, um diesen Reisen gerecht zu werden. Und, das macht Jöhnk in ihrem Buch deutlich, sie entreißen das Genre der Reiseprosa dem bis dahin vorherrschenden kolonialen Gestus, in einer Zeit, da zum Beispiel der Anthropologe Claude Levi-Strauß versuchte, den kolonialen europäischen Blick zu dekonstruieren.
         Und natürlich ergibt sich aus der Tätigkeit außerhalb des Reisens eine Spezifik des Blicks bei dem Musikwissenschaftler de Andrade und bei der Pädagogin und Diplomatin Mistral.
       Es beginnt jeweils mit Tagebuchprosa, sowohl bei Levi-Strauß, als auch bei den drei im Buch angeführten Reisenden. Aber aus dieser heraus hat sich jeweils entsprechend dem Temperament und der jeweiligen Reiseroute eine Spezifik kristallisiert, die Jöhnk in diesem Buch herausarbeitet und darstellt. So ergibt sich eine Art Reiseprosa 2.0, sozusagen ein Reisen durch die Reisen. Und Jöhnk übersetzt, da sie nicht auf vorliegende Übersetzungen zurückgreifen kann, große Teile der von ihr angeführten Literatur. Es liegen also damit wesentliche Texte lateinamerikanischer Selbstvergewisserung, wofür der Brasilianer de Andrade und die Chilenin Mistral stehen, auf Deutsch vor.

Der Verlag übrigens stellt das Buch als kostenlosen Download zur Verfügung. Mir schien es aber notwendig, auch wegen der abgedruckten Karten, das Buch als gedrucktes Exemplar zu bestellen.



Kostenloser Download unter:
https://www.transcript-verlag.de/978-3-8376-5864-4/poetik-des-kolibris/?number=978-3-8394-5864-8&fbclid=IwAR2fhZbAu-GwP2s26iE09MGu_HnvB4om4C3Msf_vkjjSWneROEE3SaCRugI


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