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Marie T. Martin: Rückruf

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Kristian Kühn

Marie T. Martin. Rückruf. Gedichte. Leipzig (poetenladen Verlag) 2021. 96 Seiten. 18,80 Euro.

Einmal kehrt euch um
 

Helft uns nur den Erdgeist binden,
Lernt den Sinn des Todes fassen
Und das Wort des Lebens finden;
Einmal kehrt euch um.
                           Novalis: Lied der Toten

Wer sich umkehrt, sieht das Totenreich, das Grauen, das Erstarren, aber auch die schlichte Anmut, die zu Tränen rührt. Diese unheimliche Schranke – hin zur Wiese, wo die Seelen zirpend ihren ewigen Aufenthalt haben. Und man möchte meinen, Marie T. Martin sei als lyrischer Hermes oder auch als Eurydike in ihrem Band „Rückruf“ unterwegs, um in die Unterwelt hinein und von dort – wie durch eine Handauflegung des göttlichen Begleiters, nicht weiterzudürfen – wieder herausgeleitet zu werden.

Die Wiese klingt an – die schläfrig anmutende Asphodelos-Wiese – in Form von Gesundheits-pflanzen im ersten Kapitel, das nach dem Buchtitel „Rückruf“ genannt wird, um sich der Zwischenwelt zu nähern.

„Versprich mir wach zu bleiben, versprich
mir eine Rede an die Seele, in einem Gebinde aus
Weißdorn und Wacholder. Versprich mir aufzuwachen,
versprich mir, dich nie zu verlassen.“
(Brief im April, S. 14)
        
Affodile, Grasbaumgewächse, wie die ägyptischen Ankh-Rasseln aussehend – bei Martin sind es Farne, immer wieder Farne, Wurzelrhizome mit samenartigen Sporen – überall ein Geflecht von Fußangeln, das hinunterzieht, unter die Erde, hin zu den eigentlichen Wurzeln.

„Langsam, mit einem Knacken, bricht das Schneckenhaus, weil
du es nicht mehr brauchst.“  (Postkarte, S. 9)

Der Vorteil, ohne Körper zu sein, scheint, über diese Wurzeln kommunizieren zu können. Martin streut von Anfang an Anhaltspunkte zu „Orpheus. Eurydike. Hermes“ von Rainer Maria Rilke in ihre 5 Zyklen ein, diesem großen Gedicht, das mit dem Hades als tiefes Bergwerk beginnt, aus dessen Wurzeln unser Blut entspringt, „das fortgeht zu den Menschen“. Dies scheint Rilkes Begründung zu sein, warum der Rückruf nicht noch einmal zurückgerufen werden kann, wenn man sich umdreht, denn dann würden die Wurzeln nicht bluten – dann bliebe die Tote ohne Lebenskraftzufuhr und vertrocknete wieder zu Wurzelwerk.

„Tränen in den Augen der Ärztin, während du
im weißen Hemd im Krankenzimmer sitzt bereit“
(Bereit?, S.10)

Zärtlichkeit, hohe Achtsamkeit dem Feinstofflichen gegen-über, wenn man Angst davor hat, das Licht gelöscht zu bekommen. Ja selbst im Sterben wachbleiben, den Tod er-leben, das Bewusstsein durch eine tägliche Rückschau, durch Wachsamkeitsübungen, durch Schlaf und Tod überdauernde Energieflüsse der Sprache (zumindest teilweise) retten zu können, ist eines der uralten traditionellen Lebensform-exerzitien auch der Philosophie (von den Pythagoreern, über Marc Aurel und Epiktet dann Hegel bis hin zu Czernin und Agamben und vielen anderen. Martin greift Anklänge dieser Art auf und setzt auf ihrem Weg durch die Zwischenwelt hin zum Styx (Wasser des Grauens) ein Bild vom Ufer als Reich der Binsen, des Vergessens, sie benennt Gründe der Seen, Flocken, Stille, doch das Ich erscheint ihr im Schlaf, um sie zu warnen, als „Verstörung, ein Silberstör, der mit einem / Flossenschlag deine Träume teilt." (Schichten, S. 17)

Wachheit und tiefer Schlaf sind nur zwei Schichten des Bewusstseins – das Ich erscheint als Empörung, als Weckruf, als Seelenführer. Rhythmen werden sichtbar, zu einem fiebrigen Kaleidoskop magischer Wahrnehmungen, die zusammenhanglos sind und doch gebunden (formativ). Ihr ist kalt, sie erwartet jedoch eine spirituelle Hitze oder eine Starre

„ein Körper liegt
bis er kalt wird

dann geht er los“    (Drhom, S. 23) –
     
Und schon hört sie „in den Venen die Ahnen lachen“ (dto., 24), als seien diese Venen eine Weiterführung des Wurzelwerks auf der anderen Seite.

Kurz vorm zweiten Kapitel, dem der Seelenwägung, das sie „Wabenwunsch“ nennt, beginnt die Rückschau, die sich beim Sterben voraussichtlich abspielen wird, ihre Jugend, Kindheitsrufen. Dann ihre Angst, dass alles auf einmal verschwunden sein wird, „dass du eine Täuschung bist oder ein / seltsamer Traum.“

Man ahnt, dass ihre Augen nun geschlossen sind, denn eidetische Strukturen werden beschrieben, bewegtes Wasser und Licht, atmende Härchen.

„Ist das Jetzt jetzt?“ (oder immer)
(Ciel, S. 33)

Was ist mit den Rändern, den Umgrenzungen, den Wänden? – Kann sie sich ihnen nähern, ohne dass der Raum sich faltet und sie verschlingt? Die Feder der ägyptischen Maat, der thrakischen Eurydike (= der weithin Richtenden) fällt auf die Waagschale

„fällt oder wie alles anfängt
und aufhört zugleich“   
(Atem & Amsel, 40)

„Gestern gibt es nicht,
das ist nur ein seltsames Tier,
das mir und dir davonläuft.“
(Elle, Vermessung, S. 44)
       
Ein Schauen auf das, was noch nicht ist:

„Silbermoos. Hierin können wir liegen, kühlgrünes
Licht trinken und wissen: es gibt diese Orte
an denen du ich bist und wir alle Sinne.“  
(Wuchs, 49)

Unter dem Namen „Zauderfell“ beginnt das dritte Kapitel und damit eine Art Überfahrt mit Charon. Sie erwähnt den alten „Anmährhaken“ der Flößerei, Edenkoben als Ort des Ankuschelns, und jenseits davon am Fuß des Höllentors, wo sie sich den Dämonen zu stellen hat, die Angst vor der Stille, „wenn die Ahnen nicht schlafen können“ (Blocksatz, 59) Schutzsuche, Zweifel, innerer Widerstand.

„Aus welchem Grund kommst du
wurzellos hierher? …“
(Augenblick, S. 56)

Damit ist das Grab schon geschaufelt, die Seele mit ihrem Bewusstsein vom Körper getrennt. Es beginnt im Kapitel 4 („Heidelbeere, Zweifelrede“) ein mentaler Abstand zu sich selbst, achtsam, weil man den Übergang nicht üben könne. Weil man herausfinden muss, „wie es geht, man selbst zu werden?“ (o.T. 63 – die Gedichte in dieser Passage haben keine Titel). Sie ist sich selbst teilnehmende Beobachterin.

„Vergiss / nicht, dass du über die Milchstraße zurück musst.“
(o.T. 71)

Das Ende, Kapitel 5 (Blaufeld), geht über eine Grotte in der Antarktis, dem Gegenpol, zurück auf die Erde.

„Bis der erste

Lichtstrahl trifft und wir uns sehen können:
Ein Gebilde aus Kalk und singender Milch   
(Antarktis, 75)
       
Man könnte das fünfte Kapitel als eine Art Reinkarnation verstehen, zurück in die Grotte der Nymphen, und damit zurück in die physische Geburt. Quasi nach dem Vergessen, nach dem Ende des vorherigen Bewusstseinsstroms.

„Nichts kann dir Augen
und Ohren verschließen, du musst sie öffnen und sehen, aufstehen und
hinausgehen. Wirst du, kannst du es tun?“
(Was gab es?, S.76)

Doch immer klingt auch gleichzeitig – wie bei großen Gedichten üblich – ein Teil von Zuversicht an, und von plötzlicher Genesung. Wie in einer Parallelwelt. Zugleich aber schwingt auch Rilkes Verwurzelung der Eurydike an, derweil Orpheus sich wie im Furor umdreht.

„wenn wir still sind hören wir unter der gefrorenen Erde
Verbindungen wachsen von Buche zu Buche sehen Wunden
nicht heilen aber vernarben wenn wir weitergehen sind
die toten Hummeln wieder lebendig“
(Alemannische Mangos, S. 83)

Wie ein Rückruf aus der alten Welt, nähert sich das blaue Reich der Romantik  mit einem doppelten Boden, in einer sozusagen doppelten Welt. Sie führen ins fluide Feinstoffliche, wie Farne verschlingen sie sich doch zugleich auch im Boden, ihre Spur suchend. Tom Schulz sagt in seinem Nachwort: „Marie T. Martins Gedichte sind vollendet und schön.“ Carsten Otte nennt das Buch im Tagesspiegel ein lyrisches Testament, Nico Bleutge im Deutschlandfunk Kultur, dass eine Hoffnung auf eine zweite Welt besteht, die neben den Dingen da ist; und Nadja Küchenmeister in der FAZ, dass zwischen zwei Welten doppelt unterschieden wird, sowohl zwei des Lebens wie zwei des Todes. Wer also sind die Toten, wir, die wir hier leben? Oder schlafen? Oder jene auf dem Friedhof? (Ovid Metam. X 40 ff.: „Sie sind nicht weit entfernt vom Rand der oberen Welt“)

Das Sterbenlernen als philosophische Übung beginnt mit genau dieser geistig vorgenommenen Trennung von Seele bzw. Bewusstsein und Körper.

„Und wird nicht das eben die Reinigung sein, (…) dass man die Seele möglichst vom Leibe absondere und sie gewöhne, sich von allen Seiten her aus dem Leibe für sich zu sammeln und zusammenzuziehen und soviel als möglich, sowohl gegenwärtig wie hernach, für sich allein zu bestehen, befreit wie von Banden von dem Leibe?“ (Platon: Phaidon 67 c)

Diese geistige Übung im Sterben besteht für Platon darin, die Perspektive zu wechseln, sprich in einer Umkehr (metastrophe), die sich unter der Beteiligung der ganzen Seele (als schlichte Anmut des Todes) verwirklicht.

„Sie war in sich. Und ihr Gestorbensein
erfüllte sie wie Fülle.
(Rilke: Orpheus. Eurydike. Hermes.)


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