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Luis García Montero: Um ein paar Dinge zu erklären

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Luis García Montero
Um ein paar Dinge zu erklären


Mir geht es mit der Dichtung so wie mit dem Alter. Mein Leben halte ich hoch, bin aber nicht stolz auf meine Jahre. Wenn man sich ein Mindestmaß an kritischem Bewusstsein bewahrt, ist es schwer, die eigene Literatur zu genießen. Zu schreiben, geschrieben zu haben und sich die notwendige Zuversicht zu erhalten, um weiter schreiben zu können, ist in Ordnung. Doch Stolz auf das eigene Werk zu empfinden, ist beinahe unmöglich. Jedenfalls ist das der Fall, wenn man sich ein kritisches Bewusstsein bewahrt. Natürlich kenne ich Autoren, bei denen das berauschende Gefühl des Durchbruchs oder die Verbitterung über die eigenen Misserfolge eine selbstzerstörerische Eitelkeit erzeugt haben; eine Unfähigkeit, an der Genialität irgendeines Einfalls oder am Wert eines lächerlichen Geschwafels zu zweifeln. Wenn man sich allerdings nicht nur die Hingabe bewahrt, sondern auch Distanz und Misstrauen, dann ist es schwer, sich selbst aus dem Blickwinkel der Bewunderung zu lesen, und nach jedem Vers oder jeder Seite setzt sich erneut der Blick des Korrektors durch, die Unsicherheit gegenüber dem, was tatsächlich erreicht wurde und dem, was hätte erreicht werden können.

Um die Lektüre genießen zu können, sind Augen der Bewunderung vonnöten. Ich kenne auch Fälle, in denen der professionelle Leser darauf beharrt, dass ihm das Buch, das er in Händen hält, nicht gefällt; entweder, weil er meint, seine Profession bestehe vor allem darin, Schrecklichkeiten aufzuspüren, oder weil er annimmt, dass der eigene Wert auf den Schwächen der Anderen gründet, oder aber, weil er letztlich die Beschäftigung mit der Literatur mit einem Krieg schmutziger Scharmützel verwechselt; mit einem zwangsläufig gegenseitigen Hass unter Fanatikern. Eine der Vorsichtsmaßnahmen, die einem das Alter abverlangt – mir scheint sogar, eine der wichtigsten, wichtiger noch, als mit dem Rauchen oder Trinken aufzuhören – ist das ratsame Verlangen, jenen jugendlichen Leser am Leben zu halten, der wir einst waren; jenen jungen Menschen, der von einem Roman oder einer Reihe von Versen überwältigt wurde und in einer Weise entflammt von dem, was er vor seinen Augen hatte, dass er beschloss, sich der Literatur zu widmen. Den heranwachsenden Leser in uns zu töten, ist so gefährlich wie das kritische Bewusstsein zu verlieren; es entfernt uns von den wirklichen Dimensionen des literarischen Gegenstands, von der Komplizenschaft, die sich zwischen dem Autor und der Person einstellen sollte, die sich seiner ermächtigt, um zu träumen, zu lieben, zu hassen und sich ein Doppelleben vorzustellen. Die wirkliche Herausforderung besteht darin, anspruchsvoll zu sein, immer noch anspruchsvoller; einen guten Wein zu verlangen, ihn aber nicht mit der mathematischen Genauigkeit eines Weinexperten zu goutieren, sondern mit der Seele des Trinkers. Einen Schluck vielleicht, nur einen kleinen Schluck, um nicht dem Alkohol zu verfallen und nicht die Rechnungen des fortschreitenden Alters begleichen zu müssen. Doch in diesem Schluck muss sich unbedingt die Leidenschaft des Trinkers verdichten.

Sich selbst zu trinken ist und bleibt ein kannibalischer Akt. Darum ist es normal, der Bewunderung zu entsagen und sich der Mängelsuche zu widmen; zu sagen, nein, das nicht, und das auch nicht. Glücklicherweise bleibt uns die Liebe der anderen zur Literatur. Das Einzige, was mich in der Unsicherheit tröstet, die von mir verfasste Gedichte in mir auslösen, ist die Gewissheit, mich weiterhin einer würdevollen Aufgabe zu widmen. Die Dichtung stellt für mich die Einsamkeit des Menschen dar, der das individuelle Bewusstsein in einer Zeit einklagt, die drauf und dran ist, das Bewusstsein der Individuen auszulöschen. Die Dichtung stellt für mich den Willen des Menschen dar, der sich dagegen wehrt, dass seine Einsamkeit mit Abschottung, Eigensucht, Aggressivität verwechselt wird, und der deshalb öffentliche Orte, seine Gedichte, aufsucht, um einen Bewusstseinsdialog der Individuen herbeizuführen. Die Dichtung stellt für mich die Selbstbeherrschung des Menschen dar, der müde vom hastigen Leben ist, von den Dogmen, die aus der Hast der Anschauungen entstehen, von den Angeboten des schnellen Konsums, und der deshalb die notwendige Zeit einfordert, sich zum Herren seiner eigenen Gedanken zu machen, zu nuancieren, sich in die Gegenposition all der kategorischen Behauptungen oder Ablehnungen zu versetzten; zu entscheiden, was wichtig und was entbehrlich ist. Der Dichter, der einen ganzen Nachmittag der Suche nach einem Wort widmet, stellt für mich den Menschen dar, der bereit ist, die winzigkleinen, unzähligen Schätze der Wirklichkeit zu durchdringen, Verantwortung für die eigene Meinung zu übernehmen und eine ehrliche Art zu ergründen, mit den anderen ins Gespräch zu kommen.

Die Zeiten sind nicht schlecht für die Dichtung. Bedauerlicherweise sind die Zeiten schlecht für die Politik, für kollektive Träumereien, für die Zukunft. Doch in einer Welt, in der eine tiefe Melancholie dem Verlust der Zukunft entspringt, kann man nicht behaupten, dass wir in schlechten Zeiten für die Lyrik leben. Das individuelle Bewusstsein und Worte, die als öffentlicher Raum verstanden werden, sind heute ein lebensnotwendiges Gut. Die Gewissheit, mich in Zeiten der Barbarei weiterhin einer würdevollen Aufgabe zu widmen, tröstet mich also zugegebenermaßen in der Unsicherheit angesichts meiner eigenen Gedichte, denen ich mich mit den Augen des Korrektors, nicht des Lesers nähere.

Mit bereits mehr als 60 Jahren habe ich jetzt das Gefühl, dass jede Anthologie eine Übung des Bewusstseins ist; ein durch meine Gedichte auf mich gerichteter Blick. Ich suche in ihnen eine gastfreundliche Wärme. Um meinetwillen bitte ich Sie nicht um Anerkennung, aber schon um ein wenig Muße beim Lesen im Privaten oder in der Öffentlichkeit. Von den vielen hundert Gedichten, die ich geschrieben habe und die in zwölf Büchern und dem einen oder anderen Heftchen veröffentlicht wurden, sehe ich mit Gelassenheit auf diese von André Bastian ausgewählten Gedichte; ich stecke in ihnen, spreche sowohl mit Ihnen als auch mit mir selbst. Ebenso bin ich mir bewusst, dass die Unsicherheit den Irrtum fördert: möglicherweise empfindet man jeden Tag beim Aufstehen das Bedürfnis, eine andere Auswahl vorzunehmen, in den Spiegel zu schauen, zu murmeln und in anderen Papieren oder in Dingen unter Verschluss Trost zu suchen. Ich habe Ihnen bereits erklärt, dass es mir mit der Dichtung ebenso geht wie mit dem Alter. Mein Leben halte ich hoch, bin aber nicht stolz auf meine Jahre. Ich versuche also, Ihnen etwas vorzustellen, auf das ich nicht stolz bin, vor dem ich aber auch keine Angst habe. Etwas, das in jedem Fall unvermeidbar ein Teil von mir ist.

Ebenso wie der Regen sind die Worte dazu verurteilt, sich im Geäst zu verlieren. Sie befeuchten uns, sie trocknen uns, sie verflüchtigen sich, sie nähren unsere Kultur. Wenn ihre Bedeutungen auch noch so genau sind, weiß doch niemand, was in einem Wort schlummern oder erwachen kann. Wir Menschen sind aus Zeit und Worten gemacht. Das poetische Schreiben ist eine Form, die Worte anzuschauen so wie der Körper seinen Dialog mit einem Spiegel betrachtet. Die Spur der Zeit verwandelt sich in Bewusstsein; das Grübeln und die Erinnerung sind unvermeidbar. Auf dem Congreso Internacional de La Lengua Española [Internationaler Kongress zur Spanischen Sprache], abgehalten 1997 in Zacatecas, gestand Octavio Paz einmal das Folgende: „Jedes Wort sagt und verschweigt zur gleichen Zeit etwas. Das zu wissen, unterscheidet den Dichter von den Philologen und Grammatikern, von den Rednern und von all jenen, die der Kunst des Gesprächs nachgehen.“

Meine Worte verlieren sich im Geäst, doch sprechen sie logischerweise von mir. Wir sind ein Dialog, ein Gespräch zwischen dem Ich und der Welt, eine Art lyrischer Kreuzung. Meine Dichtung traf die Entscheidung, sich auf die Treue zur unabhängigen Vertrautheit mit dem eigenen Bewusstsein und die Anerkennung der unvermeidbar gesellschaftlichen Dimension dieser Vertrautheit zu stützen. Gefühle sind ebenso historisch wie Gesetze, wie politische Auseinander-setzungen, wie wissenschaftliche Entdeckungen. Nach der Freiheit zu suchen, verändert immer die Art zu fühlen; beinhaltet immer eine Emanzipation des Herzens oder der Vernunft, des Wohnzimmers oder des öffentlichen Platzes. Dass ein Dichter der Sprache etwas von sich mitgibt, sollte niemanden verwundern; ebenso wenig wie die Tatsache, dass das Verlangen nach einer eigenen Persönlichkeit sich auf die Bewunderung gründet, auf das Erbe der Ältesten. Wir machen die Sprache und herrschen über sie, ebenso wie sie uns macht.

Antonio Machado, einer der spanischen Dichter, die ich am meisten bewundere, stellte sich mit diesen Versen in seinem “Retrato” [Porträt] vor:

[Hay en mis venas gotas de sangre jacobina,
pero mi verso brota de manantial sereno;
y, más que un hombre al uso que sabe su doctrina,
soy, en el buen sentido de la palabra, bueno.

Adoro la hermosura, y en la moderna estética
corté las viejas rosas del huerto de Ronsard;
mas no amo los afeites de la actual cosmética,
ni soy un ave de esas del nuevo gay-trinar.

Desdeño las romanzas de los tenores huecos
y el coro de los grillos que cantan a la luna.
A distinguir me paro las voces de los ecos,
y escucho solamente, entre las voces, una.]

In meinen Adern fließen Tropfen Jakobinerbluts,
Doch mein Vers entspringt einer gelassenen Quelle,
Und mehr als ein gemeiner Mann, der seine Lehre kennt,
bin ich in des Wortes gutem Sinne gut.

Ich bewundere die Schönheit, und in der Ästhetik der Moderne
Schnitt ich die alten Rosen aus dem Garten von Ronsard;
Doch lieb ich keinesfalls die Öle heutiger Kosmetik,
Noch gehöre ich zu jenem Vogelvieh, das fröhlich tiriliert.

Ich verachte die Romanzen aufgeblasener Tenöre
Und den Chor der Grillen, die den Mond ansingen.
Mich zu unterscheiden, schenk ich mir die Echostimmen
und höre unter all den Stimmen nur einer einzigen zu.

Die wirkliche Spannung ist für mich nicht jene, die zwischen Jakobinismus, Gelassenheit und Güte herrscht, sondern jene zwischen der politischen ersten Person Plural, wir, die den Staat repräsentiert, und der Einzelstimme des individuellen Bewusstseins. Ein demokratischer Gesellschaftsvertrag sollte das allgemeine Interesse der öffentlichen Räume des Zusammenlebens und das individuelle Bewusstsein bzw. die Identität jeder einzelnen Person und jedes Haushalts miteinander verbinden. In dieser Spannung residiert mit all seinen Nuancen der Kompromiss politischer Überlegungen in der Demokratie.

Und ebenfalls das Grübeln über das poetische Wort. Die eigene Persönlichkeit zeigen; bedeutet das, im Namen der Irrationalität, der Lücke oder des fröhlichen Tirilierens jugendlicher Innovationen, gleichgesetzt mit dem Willen zur Avantgarde, mit der Sprache des Stammes zu brechen oder auf die gemeinsame Stimme, das gemeinsame Wort zu verzichten, oder auf die gemeinschaftliche Kommunikation? Oder im Gegenteil, bedeutet es, sich im Chor der Grillen aufzulösen, wenn man am Zusammenleben des Stammes teilnimmt?

Diese Zweifel brachten Machado dazu, sich von den aufkommenden Avantgarden ebenso zu distanzieren, wie er sich bereits zuvor von der symbolistischen Andeutung distanziert hatte, welche die Echos beerbte, die Eindrücke, die heimlichen Anmerkungen, die Einflüsterungen. Viel-mehr bevorzugte er die Stimmen, um darin seine eigene Stimme zu verfolgen, seine Welt in der Welt, sein Bewusstsein in der Wirklichkeit. Die poetische Arbeit ist schwierig, wenn man die Spannungen zwischen dem eigenen Bewusstsein und der staatsbürgerlichen Dimension ernstnimmt. Es reicht nämlich nicht aus, sich im Chor aufzulösen, und ebenfalls nicht, sich mit Raritätenschnäppchen, die die verschiedenen Geschlechter professioneller Phrasendrescher und Heiligsprecher verbergen, selbst zu täuschen.

Die ausgesprochene Verachtung des Malditismus gegenüber den Normen geht Hand in Hand mit der Verachtung der Formen menschlichen und gesellschaftlichen Anstands, die der abwertende Gebrauch des Wortes Gut-menschentum beinhaltet. Wir sollten uns nicht dazu herablassen zu behaupten, dass der Anstand – sei er professionell oder politisch – eine Form der Naivität ist.

Im Laufe dieser Überlegungen sprechen wir vom wirklichen Kern der Dichtung: dem Wort Wahrheit, der Suche nach einem Gefühl, das imstande ist, für einen Augenblick, in ein paar Worten, die innere und äußere Welt zusammenzubringen. Darum geht es in der Dichtung. Es handelt sich um eine schwierige Aufgabe, eine andauernde Bewusstseinsübung gegen die Lüge, den Betrug und den Selbstbetrug, etwas, das sich dem gezähmten Narzissmus, der unsere heutige Gesellschaft regiert, entgegenstellt.

Bisweilen habe ich die Notwendigkeit dieses Bewusstseins auf der Hut in dem Gedanken zusammengefasst, dass poetisches Schreiben darin besteht, sich die Dinge dreimal zu überlegen. Das Erstbeste, was uns einfällt, zu sagen, bedeutet fast immer, wie Papageien nachzuplappern, was in der Luft liegt. Überlegt man sich die Dinge zum zweiten Mal, läuft man Gefahr, das zu sagen, was einem nutzt, um einen guten Eindruck zu hinterlassen; eine Gewohnheit, die all die praktizieren, die etwas verkaufen wollen, oder die, die sich selbst sehr gefallen und ohne Zweifel und aus der Lust heraus, sich selbst zu hören, von ihrer Reinheit und Vollkommenheit reden. Sich die Dinge dreimal zu überlegen, enthält die nötige Anstrengung, uns unserer Worte zu bemächtigen, während wir zugleich unseren Ort in der Schrift finden.

Was ist ein Leser? Wollen wir uns der alltäglichen Wirklichkeit nähern, dann ist ein Leser heute jemand, der permanent das Display seines Mobiltelefons konsultiert, um Nachrichten zu empfangen oder abzuschicken, die Homepage beispielsweise einer Institution oder eines Nahverkehrsmittels zu konsultieren und schnell die Informationen zu überfliegen, mit denen Zeitungen und soziale Medien aufwarten. Und es geht hier nicht nur darum, dass die Kommunikation die Information ersetzt hat; es geht auch darum, dass die Gewohnheit derer, die sich informieren möchten, dazu führt, dass sie immer genau die Nachrichten suchen, die sie besonders interessieren (egal, ob zu einer politischen Frage, einem Sportthema oder einem Stierkampf), und das in einer Reihe von Medien, die von vornherein ausgewählt werden, weil sie uns recht geben werden. Die Filter der verschiedenen Netzwerke erstellen unsere individuelle Kundenkarte. Darum dienen sie nicht dazu, unsere Bedürfnisse zu erfüllen, sondern vielmehr weitere Nachfrage zu erzeugen. Sie schüren beim Einzelnen einen Narzissmus, der die gezähmte Dynamik desjenigen markiert, der auf das Werbespektakel reagiert, das ihn selbst beherrscht. In dieser Welt sagen wir oft, was wir denken, ohne zu bedenken, was wir sagen. Ohne Besonnenheit machen wir es uns in der Einladung zur Beleidigung bequem, in Worten der Irritation und in der Lüge.

Gedichte zu schreiben bedeutet, eine andere Art von Leser zu suchen, eine andere Einladung auszusprechen. Wir brauchen hier eher die Hilfe des alten Epikur, als uns jenem vergifteten und gefälligen Identitätshedonismus zu übergeben. Eben das macht für mich die Lyrik zu einem Genre, das es vermag, auf den Dialog im Grenzgebiet zwischen Privatem und Öffentlichem, dem rasanten Aktionsrahmen der sozialen Medien, mit einer menschlichen Würde zu antworten, die sich auf die Überlegung, die Gelassenheit und das Wissen um alles, oder fast alles, was in einem Wort Platz findet, stützt – auf das, was gesagt oder verschwiegen wird.

Wir sprechen hier von unserer Beziehung, oder der Beziehung unserer Worte, zur Wahrheit. Im Buch Las palabras rotas [Die gebrochenen Worte] stellte ich einen Dialog mit meinen weltlichen Heiligen her, mit Bezügen, die mir geholfen hatten, gestützt auf ein Bewusstsein auf der Hut, zwischen der Wirklichkeit und dem heiligen Territorium des poetischen Schreibens zu verhandeln. Die Dichtung ist für mich als Nichtgläubigen der persönliche Raum der Heiligkeit, der Ort, an dem ich mir die Frage nach meiner Beziehung zur Wahrheit stelle. Antonio Machado, einer dieser weltlichen Heiligen, wies bereits zu Beginn seines Juan de Mairena auf den Argwohn hin, der gegenüber dem Wort Wahrheit in einer Welt geboten ist, in der die Macht ihre Interessen dadurch legitimiert, dass sie den gesunden Menschenverstand, die Moral und jene Ideologie anführt, welche ihr als natürliche Form, die Wahrheit zu sehen, am genehmsten ist. Die Wahrheit der Macht lehrt uns, dass die Herrschaft nicht existiert, sondern nur eine Wirklichkeit, die genau so ist und nicht anders sein kann. Juan de Mairena, dieser gelassene und ethische Skeptiker, verstand sofort, dass die Wahrheit des Königs Agamemnon nicht dieselbe war wie die seines Schweinehirten.

Nietzsche, Marx, Freud, das antikoloniale Denken, die feministische Theorie, die Verteidigung der Vermischung gegenüber dem Rassismus haben uns alle mit gutem Grund gelehrt, vor unverrückbaren sozialen Wahrheiten auf der Hut zu sein, eingeschrieben in unsere Gefühle; jene Wahrheiten, die geschmiedet wurden, um verschiedene Formen der Macht zu legitimieren. Das Problem ist nun aber, dass die Trägheit des Misstrauens, die Gewohnheit, es sich im Nein und an den Rändern bequem zu machen, die der Protestkultur gegen das System zueigen sind, zu einer merkwürdigen und lautstarken Verschwisterung mit dem neoliberalen Zynismus geführt hat; einem Zynismus, der versucht, die Institutionen des Staates und den konstitutionellen Rahmen des Zusammenlebens aufzulösen, um zum Recht des Stärkeren des 19. Jahrhunderts zurückzukehren. Für jene, die wie ich denken, dass jenseits der Institutionen vor allem die rohe Gewalt und die antidemokratische Trägheit als Gewinner hervortreten können, gibt der Verzicht auf das institutionelle Leben und das Bezweifeln irgendeiner Wahrheit Anlass zur Sorge.

Zweifellos kann man nicht zur Verteidigung einer unumstößlichen Wahrheit zurückkehren, noch sollte man an die essentiellen Werte der Dinge in einer Weise glauben, dass man die Individuen und sozialen Realitäten im Namen einer abgeschlossenen Identität aus den historischen Prozessen herausnimmt. Es ist aber möglich, sich für eine verhandelbare Wahrheit einzusetzen, eine Reihe von Werten, die dem emanzipatorischen Denken und der demokratischen Vernunft ihren Optimismus zurückgeben; die Verpflichtung auf eine institutionelle Wirklichkeit, die verbessert, aber niemals abgeschafft werden darf. Ein anderer dieser weltlichen Heiligen, Albert Camus, definierte seine journalistische Ethik in der Feststellung, dass es sich nicht darum handele, im Besitz der unumstößlichen Wahrheit zu sein, sondern sich zu verpflichten, nicht zu lügen.

Und dafür mag es nützlich sein, für sich den Zweifel und die ehrliche Suche zu akzeptieren. Die Leidenschaften laden zur Fülle, zur Perfektion und in Paradiese ein, welche die Zeit anzuhalten vermöchten. Wenn man von der Zukunft als Eigentum und nicht als Sorge spricht, scheint es unvermeidbar, die Verpflichtung, nicht zu lügen, um des Besitzes der unumstößlichen Wahrheit Willen aufzugeben. Das Ergebnis ist in der Regel katastrophal.

Die Worte Katastrophe und Natur lösen eine tiefe Unruhe aus und fordern die wissenschaftliche Verpflichtung ein, über den ökologischen Verfall nachzudenken. Der menschliche Hochmut erbaut Städte in Erdbebengebieten, zieht Siedlungen in ehemaligen Klammen hoch, brennt Wälder ab und regt sich hinterher darüber auf, dass die Natur nach ihren Gesetzmäßigkeiten handelt und Leid über uns bringt. Als Dichter, aufgrund meines eigenen Werdegangs, musste ich mich bald einem umsichtigen Respekt gegenüber dem Anrecht der Natur stellen. Und ich werde erzählen, warum. Überzeugt davon, dass die Gefühle historisch sind, ein Feld, das man im Namen der Freiheit und Emanzipation untersuchen muss, sorgte ich mich darum, dass die Verpflichtung zur Suche nach einer anderen Empfindsamkeit mit der stalinistischen Idee des neuen Menschen verwechselt werden könnte. Zu denken, dass Bildung das Bewusstsein rekonstruieren, formen und bezwingen sollte, zeugt von einem mangelnden Respekt gegenüber der menschlichen Natur, die dennoch so einfach Katastrophen heraufbeschwört wie die kapitalistische Verbauung von Klammen.

Die Versuchungen des neuen Menschen waren nicht nur vonseiten des Stalinismus in die Dichtung eingeflossen, sondern auch seitens der Wissenschaftsgläubigkeit des Marxismus, der sich entschieden hatte, die Kenntnis der Geschichte mit der Präzision der exakten Wissenschaft zu verwechseln. Wer jedoch davon ausgeht, dass sich sein Denken in einem präzisen epistemo-logischen Moment dank eines Bruchs mit der Ideologie in Wissenschaft verwandelt, ist davon überzeugt, dass er im Namen der Geschichte aus der Geschichte heraustreten kann, und glaubt sich im Besitz des absoluten Rechts, zwischen Gut und Böse zu entscheiden, zwischen dem Bürgerlichen und dem Marxistischen, dem Irrtum und dem Materialismus. Die moralischen Möglichkeiten sind vielfältig, wenn man versucht, einen neuen Menschen aus dieser Perspektive zu begründen, doch bewegen sie sich in der Regel zwischen provinzieller Dummheit und der reaktionärsten Spielart des Stalinismus. Ich, als Marxist, musste mich aus Scham und Liebe gegen diese Versuchungen wehren, weil ich niemals zuvor eine Wissenschaft mit so vielen Irrtümern und Katastrophen gesehen hatte, wie jene der wissenschaftsgläubigen Marxisten. Was Aberglauben und Religionen angeht, habe ich genug mit denen des Feindes zu tun.

Diese Sorge angesichts des epistemologischen Bruchs und des neuen Menschen bewirkte, dass mein Bewusstsein auf der Hut versuchte, den Glauben an soziale Paradise zu vermeiden. Sich bewusst zu werden, dass der Mensch historisch ist, erlaubt einem, sich einerseits nicht im Recht zu fühlen, die menschliche Natur auszulöschen und, andererseits, die Wirklichkeit der eigenen historischen Erfahrung nicht zu verleugnen. Auch hier ist der Konflikt für gewöhnlich fruchtbarer als die Versuchung geschlossener Identitäten. Einige Freundinnen sagen mir zurecht, dass meine Gedichte, wenn sie von der Liebe oder der Geschichte sprechen, die Würde des Vergänglichen über jedwede Ewigkeitsbeteuerung stellen. Ich glaube, das ist wahr und dass das Zeitbewusstsein – weil es sich in der Haut materialisiert – der große Protagonist jener Gedichte ist, die versuchen, die Freiheit und das Zusammenleben in einer geteilten Ordnung zu vereinen.

Die Worte brechen, wenn die Beziehung zu unserer Muttersprache, die unsere Beziehung zur Freiheit, zur Gleichheit, zur Gerechtigkeit, zur Güte, zur Wahrheit, zur Einsamkeit, zur Zeit, zur Politik, zur Liebe und sogar zum eigenen Bewusstsein prägt, einem von der Lüge manipulierten Standardisierungsprozess unterzogen wird. Die Mutter des demokratischen Weins stützt sich auf jenes Vokabular, das der Zynismus des Alles-ist-erlaubt und des Da-ist-nichts-zumachen versucht zu ruinieren. Wenn sich die Worte Freiheit und Gleichheit von der Brüderlichkeit trennen, ist das demokratische Zusammenleben zu einer innerlichen Degradierung und einer schädlichen Verschmutzung des öffentlichen Raumes verurteilt.

Die poetische Tradition wird von vielen Quellen gespeist; fällt durch verschiedene Schneisen ein. Ihre Freiheit und Widerspenstigkeit sind untrennbar mit dem Reichtum ihrer Vielfalt verbunden. Von allen Traditionen kann man lernen, alle kann man genießen. Doch im Augenblick des Schreibens muss man eine eigene Welt erschaffen. Der Dichter darf sich nie im Besitz der Wahrheit fühlen, aber er muss sich verpflichten, nicht zu lügen und in einem heiligen Raum über seine Motive und Gefühle Nachforschungen anzustellen.

Ich fing an, Ende der 1970er Jahre zu schreiben und Anfang der 1980er Jahre zu veröffentlichen. Meine Beziehung zum Schreiben stützt sich zugegebenermaßen auf eine unvermeidbare politische Qualität. Ich glaube an die politische Dimension der Worte, der Sprache, des Schreibens und der Dichtung. Meine poetische Berufung ist untrennbar mit einer Erbfolge, einer Tradition von Autoren verbunden, die vom Franquismus ermordet oder verfolgt wurden; Autoren, die gegen die Militärdiktatur gekämpft hatten. Ihrem Kampf hatte ich mich während meines letzten Schuljahrs und des ersten Jahrs meines Studiums angeschlossen.

Politische Überlegungen zu den Worten sind nicht auf die Programme oder Parolen bestimmter Parteien beschränkt. Diese Versuchung war schon immer eine schwere Krankheit des kreativen Bewusstseins. Mir erschien es schon immer wichtiger, Überlegungen zum Gesellschaftsvertrag, der mit dem sprachlichen Zeichen verschmolzen ist, anzustellen; zur Bedeutung der Sprache als öffentliches Gut, zur ehrlichen Bewunderung, welche Autoren verdienen, die eine wirkliche Institution in der Geographie der Lyrik sind: Garcilaso, Heine, Leopardi, Rosalía de Castro, Baudelaire, García Lorca, Eliot, Sor Juana, Borges o San Juan de la Cruz.

1980 herrschte bereits eine neoliberale Dynamik, die eine Schwächung des Staates und der Sozialdemokratie in einem Europa anstrebte, dem sich Spanien versuchte anzuschließen, um seinen Aufbruch aus der Diktatur zu institutionalisieren. Deshalb erforschte ich in einen Teil meiner Doktorarbeit die Entwicklung der zeitgenössischen Dichtung und der sozialen Dimension von Sprache und des sprachlichen Zeichens als Gesellschaftsvertrag. Daraus entstand das Buch Poesía, cuartel de invierno [Die Dichtung als Winterquartier], das mir half, meine Beziehung zur Tradition, meine Distanz gegenüber dem Kulturalismus und dem Experimentalismus, der für die vorangegangene Generation charakteristisch war, zu verstehen. Das gleichfalls gelassene und jakobinische Blut meiner poetischen Berufung verstand meine Beziehung zur Sprache als Staatsaffäre. Mehr als ein von den Göttern Auserwählter, ein Bohemien oder ein Erleuchteter der Ränder wollte ich ein staatsbürgerliches Gewissen sein, das fähig war, seiner Arbeit nachzugehen, mit dem selbstverdienten Geld Schlafstatt und Brot zu bezahlen und die Blumen im Garten von Ronsard, einer literarischen Institution, zu schneiden, statt der Kosmetik des Bruchs und des Tirilierens nachzugehen. Das ist meine Art, von den Worten her dem wuchernden Neoliberalismus und dem Chor der Grillen, die sich der Gesellschaft bemächtigt haben, und nun der sozialen Medien, zu antworten.

Und auf diesem Weg, ohne den Anspruch, im Besitz der Wahrheit zu sein, aber darauf verpflichtet, mich und andere nicht zu belügen, mich in jedem Gedicht zu sagen, habe ich meine Bücher geschrieben, befallen von der optimistischen Melancholie desjenigen, der die Klarheit nicht aufgibt, um nicht doch noch im Pessimismus aufzugehen; oder desjenigen, der versucht, den Bruch zwischen Vernunft und Gefühl, der einen Großteil der zeitgenössischen sozialen Abdrift geprägt hat, zu überwinden. Im Laufe der Jahre bin ich in dieser Überzeugung bestärkt worden. Die sozialen Projekte, die versucht haben, eine zukünftige Gleichheit zu errichten, ohne die Gegenwart eines demokratischen Staates zu achten, sind ein ums andere Mal in die Katastrophe der gewalttätigen Unterdrückung der Gefühle und Motive, die die gemeinsamen Bedürfnisse der Menschen und ihrer Werte unterstützen, gemündet. Doch die Projekte, welche bis heute die Demokratie und den wirtschaftlichen Fortschritt außerhalb des Staates verteidigen wollen, sind ebenso ein ums andere Mal im Gesetz des Stärkeren und der gierigen Vorherrschaft roher Gewalt aufgegangen. Es sind genau jene Mächte, gegen die sich ein demokratischer Staat verteidigen muss, wenn sie sich ihm auf der Suche nach Korruption und Gefälligkeitshändeln nähern. Das wirtschaftliche Wachstum, das gleichzeitig einen Zuwachs an Hilflosigkeit und Ungleichheit nach sich zieht, scheint mir dem alten Experimentalismus des Geldes ähnlich, einem elitistischen Willen, der die gemeinschaftliche Bedeutung aufgibt.

Um ganz ehrlich zu sein, möchte ich eine letzte Sorge äußern. Poetische Krisen kann man von verschiedenen Blickpunkten aus erleben. Zum Beispiel von einer Melancholie aus, die ich optimistisch nenne; zugegebenermaßen werde ich immer melancholischer und weniger opti-mistisch. Die größten Dichter meiner Tradition – Machado, Juan Ramón Jiménez, Federico García Lorca, Rafael Alberti, jeder auf seine Weise – waren fähig, einen ehrlichen Dialog mit der Wahrheit der Volkskultur herzustellen, wenn sie auf ihre Zweifel angesichts der Macht und der Konventionen der Eliten antworteten. Im Zuge der anthropologischen Mutation, die der Konsum in den Gesellschaften des fortgeschrittenen Kapitalismus und der sehr mächtigen Kontrollmedien des Bewusstseins in einer digitalen Wirklichkeit durchgesetzt hat, in einer Zeit also, in der die virtuellen Welten die historischen Erfahrungen ersetzten und Bildung und moralische Vorstellungskraft dem Trash-TV und ordinärer Unterhaltung unterworfen wurden, ist es allerdings problematisch geworden, weiterhin an die Wahrheit einer Volksweisheit zu glauben. Die Gesellschaft des Spektakels lässt uns an der Zurschaustellung unserer eigenen Lächerlichkeit teilnehmen.

Diese Melancholie, die einem demokratischen Winter zueigen ist, und dieser ehrliche Zweifel gegenüber dem Volkstümlichen sind unumgängliche Sorgen, Anlässe zum Nachdenken für das Bewusstsein auf der Hut dessen, der nicht dem Elitismus verfallen will, und vor allem dessen, der davon überzeugt ist, dass jedweder Verzicht auf Demokratie und Gleichheit nur in eine neue moralische Katastrophe münden können. Doch mittlerweile melancholischer als optimistisch frage ich mich, wie ich mir die Wörter, den Dialog mit dem Leser und meine politische Verpflichtung vorstellen soll? Zwei meiner Lehrer, Antonio Machado und Ángel González, helfen mir dabei, um ein Hilfsmittel in der Gegenwart zu suchen. Der andalusische Dichter definierte sich einst als ein Skeptiker mit Glaubenssätzen und der asturianische Dichter wählte folgendes Geständnis als Titel eines seiner Bücher: Sin esperanza, con convencimiento [Ohne Hoffnung, mit Überzeugung]. Ein Mangel an Optimismus verpflichtet einen nicht dazu, die Überzeugungen des demokratischen Bewusstseins aufzu-geben. Das Schreiben verhält sich so wie man erwartet, dass es sich zu verhalten hat, und erzeugt seine eigenen Krisen, um die notwendigen Antworten zu provozieren. Ich schrieb eine Balada en la muerte de la poesía [Ballade an den Tod der Dichtung], mich selbst zu versichern, dass ich, nachdem ich ihrer Beerdigung beigewohnt, keinen anderen Ausweg hätte, als mich zu meinen alten Lehrern zu setzen und Gedichte zu schreiben. Nach der neoliberalen Demontage der demokratischen Institutionen und der öffentlichen Orte bleibt mir keine andere Illusion als ihre Verteidigung gegenüber der rohen Gewalt.

So verspüre ich nicht allzu viel Leidenschaft, doch auch keinen Mangel an Liebe, und setze weiter auf den Staat und die Worte als Eigentum einer Gemeinschaft, die sich untereinander verständigen muss, obwohl sie sich bisweilen hin- und hergezogen fühlt zwischen dem Verlangen nach perfekter Kommunikation und den Antworten der Stille. Ebenso wenig interessiert mich die Komplizenschaft der Nymphe Echo, eine Dynamik, die, wohlüberlegt, mit dem gezähmten Narzissmus des gegenwärtigen Konsums und der Banalisierung der Gesellschaft des Spektakels zusammenhängt.

Meine Worte beobachten auf langsame Weise die Disziplinen eines Bewusstseins auf der Hut, das mir als Gepäck auf meinen Streifzügen durch die Identität, die Gesellschaft und die Sprache dient.

(Übersetzung: André Bastian)


Als Vorwort in Luis García Montero: Die Zeit ist kein Fluss. 63 Gedichte. Spanisch / deutsch. Aus dem Spanischen von André Bastian. München (APHAIA Verlag) 2021. 251 Seiten. 19,00 Euro.
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