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Ludwig Steinherr: Nachtgeschichte für die Teetasse

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Jörg Neugebauer

Bin ich das Kännchen?


Zu Ludwig Steinherr, "Nachtgeschichte für die Teetasse"


Das Orphische ist diesem Autor sichtlich vertraut, er schreibt seine Verse geradezu aus dem Orphischen:

Immer öfter treffe ich meine Toten
spät nachts in der U-Bahn

(Hades-Linie)


Die Welten der Lebenden und der Toten sind ihm nicht getrennt, sie gehen ineinander über, Tote und Lebende bewohnen dieselben Landschaften, Städte, Träume und Orte. Auch er selbst oder vielmehr das Ich seiner Gedichte ist nicht nur der Heutige, Hiesige mit einer Biografie, die irgendwann anfängt und endet, auch er ist schon mehrfach, vielfach gewesen, hat existiert in verschiedensten Verkörperungen bis hinunter zum Kieselstein:

Ich war Kiesel in einem Flußbett
dicht am Polarkreis
Die Kälte die ich nicht spürte
war überwältigend
eine mystische Offenbarung -

(Licht)


Das alles kommt aber eher leicht daher, in Form "sehr ernster Scherze", wie ein anderer vor 200 Jahren mal zu eigenen Texten angemerkt hat. Überhaupt Zeit, sie ist weithin übersprungen in diesen Gedichten, das meiste geschieht immer jetzt und zugleich irgendwann früher - mythische Zeit. Doch auch das klingt komplizierter, womöglich hochgestochener, als es sich in den Versen selbst liest:

Schau! Da! Das winzige Café
am Kapitol wo wir
vor einem Jahrtausend Espresso tranken

(Babylonisch)


Es werden oft kleine Geschichten erzählt, freilich nicht im epischen Duktus. Das "Erzählte" wird aus seiner linearen Zeit "verrückt" in eine Sphäre, in der die Schere der Schneiderin wie ein "Fallbeil" anmutet und die Seiten der Bücher, aus denen die Schulkinder lernen sollen, "ganz schwarz" sind.

Was einzig ein bisschen stört, ist, dass eher selten mal ein Text ohne expliziten Verweis auf den Mythos auskommt, der doch eh alles durchwebt in diesen Versen. Da wird dann noch eine passende Gottheit oder ein antiker Mythen-Promi bemüht - das hätten diese Gedichte nicht nötig.

Desto erfrischender eines wie "Null Uhr", das so anfängt:


Die Stretch-Limousine parkt quer
auf dem Gehsteig -
Eine Schar gestylter Mädchenleichen
torkelt mir daraus entgegen
prustend beschwipst
alle am Hals die Bißspuren
ihrer Vampir-Lover -

Du nimmst den Tod viel zu ernst
sage ich mir -

(Null Uhr)


Wie der mit den "sehr ernsten Scherzen", ist auch der Schreiber dieser Texte sichtlich ein Augenmensch: Öfters werden bekannte Gemälde zitiert, die Verse selbst evozieren Bilder, nicht selten eins nach dem andern im selben Gedicht. Zu sagen, das ginge auf Kosten des Rhythmus, wäre zu viel, aber auf der Musikalität der Sprache und auf der lautlichen Seite der Wörter liegt nicht unbedingt der Hauptakzent bei diesen Versen.
Es sind irgendwo auch Reisegedichte - nicht nur weil manche Italien "zum Schauplatz haben", sondern sie lassen den Leser ständig mit unterwegs sein. Wobei die Exklusivität der Orte keine Rolle spielt. "Nachmittags im Archiv" ist es sogar deutlich interessanter als "Venedig im August".

Dass der Band im Titel die "Teetasse" trägt, mag einer zen-buddhistischen Grundhaltung geschuldet sein, die in einer spürbaren Freundlichkeit des Blicks auf die Dinge vielfach angenehm durchscheint. Motivisch kommt das "Weinglas" freilich mindestens ebenso häufig vor. Weder Pathos noch Bitterkeit prägen diese Gedichte, auch kein verbissener Witz oder gewollte Kargheit. Karg sind sie überhaupt nicht. Eine gewisse Frivolität ist ihnen eigen, die nicht jedem geheuer sein mag. So wie in "Notstrom":


Im Universum ist die Heizung ausgefallen -
Die Scheiben des Restaurants
beschlagen wie ein Treibhaus
für Wunderblumen -

Der Chef persönlich bringt uns die Karte
und raunt mir ins Ohr:
Ich bin vor drei Wochen gestorben
und helfe nur aus, Signore!

(Notstrom)


"Herrlicher Augenblick" enthält, wie so manches andere Gedicht, vielleicht das eine oder andere Wort zu viel, doch die zen-buddhistische Nichtigkeit und Leere, als positive empfunden, ist in den Schlussversen deutlich präsent:

Jetzt brüht die Köchin sich
ein Kännchen vom feinsten indischen Tee -

Es brodelt zischt -

Dann ist es wirklich still

So still daß du dich fragst:
Bin ich das Kännchen?

Ist da noch wer im nächtlichen Universum?

(Herrlicher Augenblick)


Die kleinen, vermeintlich unbedeutenden Dinge sind's oft, auf die diese Gedichte den Leser lenken. In "Restaurant MOLOS" sind das die Kapern:

Sooft ich Kapern esse
muß ich an Phryne denken


beginnt das Gedicht, um nach einigem näheren Hinsehen auf "die Edelhure mit der Seele einer Kaper" geradezu loriothaft zu schließen:

Kapern wurden schon immer
sehr unterschätzt



Ludwig Steinherr: Nachtgeschichte für die Teetasse. Gedichte. München (Allitera Verlag - Lyrikedition 2000) 2015. 116 Seiten. 19,90 Euro.

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