Direkt zum Seiteninhalt

Ludwig Steinherr: Judith

Rezensionen/Lesetipp > Rezensionen, Besprechungen


Barbara Zeizinger

Ludwig Steinherr: Judith. Novelle. München (Allitera Verlag) 2024. 112 Seiten. 15,00 Euro.

Plötzlich ist alles anders


Ludwig Steinherr liebt es, in seinen Novellen die Protagonisten, bevorzugt Paare, verreisen und sie dabei ungewöhnliche Verwicklungen erleben zu lassen, die ihr Leben zumindest zeitweise auf den Kopf stellen. So irren in Verona kopfüber Luisa und Konstantin ziellos durch die Stadt, spielen Normalität, obwohl Luisa eine Affäre hat, und das alles endet in Luisas Gedächtnisverlust und Konstantins Unsicherheit, wie sein Leben weitergehen wird. Jn Zweimal Rom begeben sich Christina und Clemens in der Stadt auf eine Tour, die vor zwanzig Jahren zu ihrer Trennung geführt hatte. Da Clemens in Christina nun eine völlig andere Frau sieht, nennt er sie nun Lena.

Die Frage nach der eigenen Identität bildet auch in Ludwigs Steinherrs neuen Novelle Judith den Rahmen der Handlung. Wieder ist es ein Paar, nämlich Johanna und Vincent, beide Ende fünfzig, denen bei ihrer Reise nach Korsika eine ungeheure Begebenheit widerfährt. Die beiden sind dorthin gefahren, um eine lang zurückliegende Jugendreise (und vielleicht die damalige Unbeschwertheit) zu wiederholen. Tatsächlich scheint alles wie früher zu sein, der gleiche Bungalow, der gleiche Feigenbaum, das Meer, dasselbe Licht. Aber gerade diese Wiederholung ruft bei Johanna eine leichte Depression hervor, weil sie das Gefühl hat, ihr Leben sei zu einem Stillstand gekommen und dieser Nostalgie-Trip sei ein Fehler gewesen.

»Im Grunde geschieht nichts Neues. Nichts Neues unter der Sonne … Bis die Glocke schlägt.«
Das Neue und Überraschende geschieht noch am selben Abend in einem Restaurant, als Johanna auf ihre ver-schollene Kusine Nora trifft und die ihr ohne Umschweife eröffnet, dass sie jetzt Judith heiße, weil sie und eben auch Johanna Jüdinnen seien. Ihre gemeinsame Oma sei Jüdin gewesen sei.

Diese Eröffnung bestimmt nun die gesamte Handlung. Vincent verliebt sich in die geheimnisvolle Judith, die mit ihrem Mann Pierre, der für den Neckermann-Tourismus arbeitet und nach Vincents Meinung so gar nicht zu Judith passen würde, während für Johanna der ganze Urlaub daraus besteht, sich mit ihrer neuen Rolle als Jüdin zu befassen.
»Unfassbar«, sagt Johanna. »Wirklich unfassbar.« Auch Vincent stellt sich vor, »wie unfassbar wunderbar es wäre, mit Judith zusammen Hebräisch zu lernen.« Und als die beiden in ein Unwetter geraten, sagt Johanna, die bisher überhaupt nicht religiös war: »Das kommt mir so biblisch vor.« Sie ist mit ihrer neuen Rolle sehr glücklich.

Doch allmählich wird deutlich, dass Judiths Beschäftigung mit ihrem Jüdischsein die Funktion hatte, sie nach einem Fahrradunfall aus einer tiefen Krise zu holen. Entsprechend hingebungsvoll zelebriert sie ihre neue Religion. Ihre Gäste begrüßt sie mit »Schabbat Schalom«, obwohl ein ganz normaler Mittwoch ist. Überhaupt wird Judiths (und dadurch auch Johannas) jüdischer Hintergrund nach und nach etwas fragil. Mehrmals muss Johanna sie bitten, ihr den von Judith angefertigten Stammbaum zu geben, ganz zu schweigen von den angeblichen Briefen ihrer Großmutter. Auch bei den Propheten, die sie in ihrer Werkstatt aus Ton herstellt, nimmt sie es nicht so genau und den eigentlich siebenarmigen Leuchter hat sie mit acht Armen angefertigt. Als Judith auch noch einen Golem herstellt, wird die Juristin Johanna misstrauisch.

»Einen Golem! Ich bitte dich! Judith bedient wirklich sämtliche jüdische Klischees. Dabei weiß sie wahrscheinlich absolut gar nichts über den Golem. Genauso wenig wie über ihr Chai am Hals. Ich habe das Gefühl, das ist alles nur ein Spiel für sie. Sie spielt Jüdin.«

Genauso ist es. Das kommt heraus, als Jerry ein echter aus Amerika stammender in München lebender Jude auftaucht und Judith sich fürchtet, ihm zu begegnen. Als Johanna ihm den Stammbaum mailt, damit er in seiner Datendatei nachforschen kann, stellt sich heraus, dass er keinerlei Angaben über die angebliche jüdische Verwandtschaft findet. Das kann er auch nicht, weil Judith alles erfunden hat.

»Der Stammbaum sollte nur so eine Art Mandala sein. Judentum ist mehr eine Stimmung für mich. Ja, eine Stimmung. Wenn ich in meiner Werkstatt sitze, mit einem Klumpen Ton, dann fühle ich mich so frei…dann kommt mir alles, was ich mache, irgendwie heilig vor … «

Irgendwie seien doch alle Menschen verwandt und irgendwo würde es in ihrem und Johannas Stammbaum bestimmt Juden geben. Ende gut, alles gut. Johanna, die sich erst von Judith betrogen fühlte, ist ihr letztlich dankbar. Sie habe ihr eine neue Perspektive gezeigt, denn sie werde in München Jerry bei dessen Versöhnungsarbeit unterstützen.

Ludwigs Steinherrs Judith ist ein gerade in unseren aufgeregten Zeiten wichtiges Buch. Es erzählt unterhaltsam und kein bisschen belehrend von dem schwierigen Thema, was, unabhängig von unserer Identität wirklich wichtig im Leben ist.


Zurück zum Seiteninhalt