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Louise Glück: Die sinnliche Welt

Gedichte > Münchner Anthologie
Louise Glück

Die sinnliche Welt
 
Ich rufe dir über einen gewaltigen Fluß oder Abgrund zu,
daß du auf dich achtgibst, daß du dich vorbereitest.
 
Die Erde wird dich verführen, langsam, unmerklich,
subtil, um nicht zu sagen, in heimlichem Einverständnis.

Ich war nicht vorbereitet: Ich stand in der Küche meiner Großmutter
und streckte mein Glas hin. Pflaumenkompott, Aprikosenkompott –

der Saft eingegossen in das eiskalte Glas.
Dann Wasser hinzugefügt, geduldig, in kleinen Schritten,

die vielen Cousinen unterschieden, schmeckten
bei jeder Hinzufügung ab –

Aroma der Sommerfrucht, Intensität der Konzentration:
die farbige Flüssigkeit wurde allmählich heller, leuchtender,

mehr Licht strömte hindurch.
Genuß, dann Trost. Meine Großmutter wartete,

ob noch mehr verlangt wurde. Trost, dann tiefes Versenken.
Nichts liebte ich mehr: tiefe Intimität des sinnlichen Lebens,

das Selbst verschwindet darin oder ist untrennbar davon,
irgendwie aufgehoben, fließend, seine Bedürfnisse

völlig entblößt, erwacht, völlig lebendig –
Tiefes Versenken, und mit ihm eine

rätselhafte Gewißheit. In der Ferne leuchteten die Früchte in Glasschalen.
Draußen vor der Küche versank die Sonne.

Ich war nicht vorbereitet: Sonnenuntergang, Sommerende. Beweise
für die Zeit als Kontinuum, als etwas, das endet,

nicht als Aufschub; die Sinne beschützten mich nicht.
Ich warne dich, wie ich nie gewarnt wurde:

Du wirst niemals loslassen, du wirst nie satt sein.
Du wirst verwundet und vernarbt sein, du wirst weiterhin hungern.
 
Dein Körper wird altern, du wirst weiterhin Bedürfnisse haben.
Du willst die Erde und dann mehr von der Erde –
Erhaben, gleichgültig ist sie da, sie wird nicht antworten.
Sie ist umfassend, sie wird sich nicht kümmern.

Sinn, er wird dich nähren, er wird dich zerreißen,
er wird dich nicht am Leben halten.


Deutsch von Jürgen Brôcan
(aus: Louise Glück, »The Seven Ages«, 2001)
Jürgen Brôcan

Rufe über den Abgrund


Louise Glücks neunter Gedichtband »The Seven Ages« aus dem Jahr 2001 umkreist drei ineinander verschränkte Motivkomplexe: die Kindheit, den Sommer und den Traum bzw. die Erinnerung. Ihnen gemeinsam ist das Vergehen der Zeit, einer Zeit, die sich vor allem an der eigenen Lebenszeit bemißt. Daraus entsteht eine Distanz zwischen dem wahrnehmenden Ich und den Dingen der Umgebung, so als sei sie ein hochwirksames Lösungsmittel. Aber die Wahrnehmung der Dinge intensiviert sich wiederum durch das Bewußtsein ihrer Nicht-Dauerhaftigkeit, ja, fast scheint es, sie bezögen erst im Nachhinein, in und aus der Erinnerung ihre volle Kraft.

Als Motto hat Glück dem Band die Worte »Thou earth, thou, Speak« (»Du Erdkloß, sprich!«) aus William Shakespeares »Sturm« vorangestellt. Die »Wandelbare Erde«, so ein Titel aus dem Vorgängerbuch »Vita Nova«, ist es, der Louise Glück eine Stimme gibt, sie ist ebenso fragil wie die menschliche Natur in ihrem Bestreben nach Freiheit und Selbsterkenntnis. In zahllosen kleinen und kleinsten, oft scheinbar banalen Beobachtungen des Alltags entsteht das Spektrum einer sinnlich wahrnehmbaren Welt, auf die die Dichterin selbst »nicht vorbereitet war«. Ihre Gedichte versteht sie als solche Vorbereitungen für die Leser: »Du wirst verwundet und vernarbt sein, du wirst weiterhin hungern. / Dein Körper wird altern, du wirst weiterhin Bedürfnisse habe. / Du willst die Erde und dann mehr von der Erde«, summiert sie nüchtern und gefaßt.

Melancholie ist die vorherrschende Stimmung von Glücks Gedichten, die sie stets zu buchlangen Zyklen bündelt, doch liegt darin eine Bezauberung, die ihresgleichen in der amerikanischen Lyrik sucht. »Kindheit: Krankheit« lautet lapidar eine Zeile des Gedichts »Time«, die Kindheit wird hier also nicht, wie so häufig, verklärt als ein wieder-äzuerlangendes Paradies, sie ist vielmehr jene Epoche, in der das unaufhaltsame Vergehen von Zeit durch Einbrüche der Vergänglichkeit geprobt wird. »Wir träumen; wir erinnern uns nicht«, konstatiert demzufolge das Gedicht »Mother and Child«, ebenfalls aus »The Seven Ages«, nur um dann zu dem Schluß zu kommen, daß wir hier sind, um Fragen zu stellen, Fragen, wer wir sind – und das erfahren wir offenbar paradoxerweise am besten im Traum und in der Erinnerung.

Es gibt natürlich die Augenblicke des vollen Genusses. Aber sie enden unerwartet, unvorbereitet. Andererseits vergleicht Louise Glück die Früchte in der Schale mit der untergehenden Sonne und dem Ende des Sommers – Dinge, die eigentlich mit der Präzision eines Naturgesetzes eintreffen und somit keine Überraschung sein dürften. Umso stärker ist dennoch gerade für das naive, unvorbereitete Kind der Abschied von der Illusion der zeitweiligen Idyllen. »Ich war gesund, dann war ich erwachsen«, heißt es in dem Gedicht »Time«, und dieses Erwachsensein schließt die Reflektion über die Sterblichkeit der Dinge ein. Erkenntnis und Genuß werden von der Erde sparsam vergeben: »Wir hatten nur ein paar Tage, doch sie waren sehr lang, / das Licht veränderte sich ständig. / Ein paar Tage, verteilt über mehrere Jahre, / über den Lauf eines Jahrzehnts«, sagt Glück in »The Destination«, einem Gedicht, das wohl absichtlich nicht sehr weit entfernt von »Die sinnliche Welt« in dem Band steht.

Glücks dauerndes Rekurrieren auf antike Mythen in ihren Büchern soll die Stetigkeit der Bedingungen illustrieren, unter denen wir alle leben. Und dazu gehört vor allem, daß die Dinge unbeständig sind. Auch, daß die Welt sich nicht um unser Glück schert, daß sie wie das blinde Schicksal der Antike agiert. Es geht der Autorin um die menschlichen Angelegenheiten, deshalb sprechen Glücks Gedichte vom Menschen zu den Menschen, und deshalb ist ihre Sprache klar und verständlich, sind ihr formale Experimente fremd und die freirhythmischen Zeilen musikalisch genug. Auch wenn Glück die weibliche Perspektive einnimmt, begreift sie das individuelle Dasein exemplarisch für alle Menschen jeden Geschlechts. Die Distanz – »Ich rufe dir über einen gewaltigen Fluß oder Abgrund zu« – ist letztlich überwindbar, und es ist nicht nur die Distanz zu den Lesern, sondern auch zum eigenen Ich, das ebenfalls mitangerufen wird. Das ist tröstlich über alle Verstörungen hinaus. Und noch tröstlicher kann es sein, das, was uns alltäglich begegnet, was sogar als klischeehaft und sentimental gilt, in dem reinen poetischen Licht von Glücks Lyrik noch einmal ganz genau zu betrachten.
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