Direkt zum Seiteninhalt

Linda Vilhjálmsdóttir: Stillleben

Werkstatt/Reihen > Reihen > Wortlaut Island

0
Foto: Studio Gassi
LINDA VILHJÁLMSDÓTTIR
Stillleben
 
(Auszug aus dem Gedicht-Zyklus kirralífsmyndir / stillleben, Mál og menning, Reykjavík 2020)
 
Aus dem Isländischen von Jón Thor Gíslason und Wolfgang Schiffer

die quecksilbersäule
des fieberthermometers ist gebrochen

und nun bewegt sich das fieber
weder oberhalb noch unterhalb
der achtunddreißig grad

*

ich ging die anhöhe hinauf
und von dort hinunter zum meer

traf einen herrn mittleren alters
der auf einem fahrrad im kreis
um die kirche fuhr

eine vornehme dame mit chirurgischer maske
nahe dem gesundheitsamt

und schlug an der Sæbraut einen großen bogen
um einen freundlichen alten Mann
mit stock

grüßte keinen

*

ich lasse die augen
über die gänge zwischen den regalen gleiten
ausschau halten nach anderen menschen
in der lebensmittelabteilung des ladens

schieße sodann wie ein dieb
mit der einkaufsliste
zwischen den regalfächern umher
und schaufle die waren in meinen korb

die kassiererin und ich
schauen uns misstrauisch an
während wir in gedanken den abstand
zwischen uns schätzen

sie trägt blaue latexhandschuhe
ich weiße

*

die raben lassen sich treiben
im sturm

und der austernfischer stolziert
soeben erst heimgekehrt die flutmarke entlang

weiter draußen am horizont
lässt sich ein küstenwachschiff erahnen

und auf dem gräulichen himmel
segeln islandblaue wolken

im sand sind fußspuren zu sehen
doch weit und breit kaum ein mensch

*

ein
kleines gedicht der ewigkeit

in gehöriger entfernung
das dennoch die menschenkinder

berührt

*

die luft
so klar
in diesen tagen

dass die atemwolke des mannes
der mir
entgegen kommt

das wort
klimakatastrophe
heraufbeschwört

*

der frühling
hält sich in den höheren lüften zurück
wie ein unerhörter kindheitstraum

ein goldregenpfeifer
erfreut unsere herzen

im schneeregen


Linda Vilhjálmsdóttir, geb. 1958 in Reykjavík / Island, arbeitete für viele Jahre als Krankenpflegerin. Nach verschiedenen Veröffentlichungen in Zeitungen und Literaturzeit-schriften erfolgte 1990 mit Bláþráður / Dünner Faden die Publikation ihres ersten Gedicht-bands, dem bislang sieben weitere folgten. Früh erschienen auch diverse deutschsprachige Veröffentlichungen ihrer Lyrik, vor allem in der Literaturzeitschrift die horen, sowie 2011 die Übersetzung ihrer Gedichtbände Öll fallegu orðin / Alle schönen Worte und Frost-fiðrildin / Frostschmetterlinge im Verlag Kleinheinrich und 2018 der Gedichtzyklus frelsi / freiheit im ELIF VERLAG. Letzte Buchpublikationen der mit vielen Preisen und Ehrungen ausgezeichneten Autorin: smáa letrið, Gedichte, Reykjavík 2018 (das kleingedruckte, ELIF VERLAG 2021), kirralífsmyndir / stillleben, ein Gedichtzyklus zur Corona-Situation, Reykjavík 2020, humm, Gedichte, Reykjavik 2023. Ende 2024 sind mit Safnið / Die Sammlung alle ihre Gedichte in einem Band erschienen. Dem Band kirralífsmyndir / still-leben ist der hier veröffentlichte Auszug entnommen.

0
Zurück zum Seiteninhalt