Leo Trotzki: Stalin. Siebtes Kapitel: Das Jahr 1917
Portraits
Leo Trotzki
Lev Dawidowitsch Bronstein
Stalin
Eine Biographie
(Übersetzung N. N.)
Siebentes Kapitel.
Das Jahr 1917
Es war das
wichtigste Jahr im Leben des Landes und vor allem im Leben jener Generation von
Berufsrevolutionären, der Josef Dschugaschwili angehörte. Es war ein Prüfstein,
an dem Ideen, Parteien und Menschen die Bewährungsprobe abzulegen hatten.
Stalin fand
in Petersburg, nunmehr Petrograd genannt, eine unerwartete Situation vor. Zu
Beginn des Krieges hatte der Bolschewismus in der Arbeiterbewegung, besonders
in der Hauptstadt, vorgeherrscht. Im März 1917 dagegen bildeten die Bolschewiki
in den Sowjets eine unbedeutende Minderheit. Wie hatte das
kommen können? Bedeutende Massen hatten an der Bewegung der Jahre 1911 bis 1914
teilgenommen, sie stellten aber dennoch einen kleinen Teil der Arbeiterklasse
dar. Die Revolution hatte nicht nur mehr Hunderttausende, sondern Millionen auf
die Beine gebracht. Hinzu kam, daß sich die Arbeiterklasse infolge der
Mobilisierung um ungefähr 40 % vergrößert hatte. An der Front hatten die
fortgeschrittenen Arbeiter als revolutionärer Sauerteig gewirkt, in den
Fabriken aber waren ihre Plätze von den frisch vom Lande Zugewanderten
eingenommen worden, von Bauernburschen und Bauernfrauen. Die neuen Schichten
mußten, wenn auch in verkürzter Form, durch dieselben politischen Erfahrungen
hindurch, die die Vorhut schon in der voraufgegangenen Periode gemacht hatte.
Der Februaraufstand in Petrograd wurde von fortgeschrittenen Arbeitern, meist
Bolschewiki geleitet, aber nicht von der bolschewistischen Partei. Die Leitung
des Aufstandes durch bolschewistische Parteimitglieder konnte dem Aufstand den
Sieg sichern, aber nicht der bolschewistischen Partei die politische Macht.
In der
Provinz war die Lage noch ungünstiger. Die Welle der verstiegenen Illusionen
und der allgemeinen Verbrüderung, verbunden mit der Naivität jener Massen, die
erst kürzlich zum politischen Leben erwacht waren, hatte die natürlichen
Vorbedingungen für ein Übergewicht der kleinbürgerlichen Sozialisten
geschaffen, der Menschewiki und der Volkstümler. Die Arbeiter, und nach ihnen
auch die Soldaten, hatten die in die Sowjets gewählt, die zumindest den Worten
nach nicht nur gegen die Monarchie, sondern auch gegen die Bourgeoisie waren.
Menschewiki und Volkstümler, denen fast die ganze Intelligenz folgte, verfügten
über unzählige Agitatoren, die zur Einheit und zur Brüderlichkeit und anderen
gleichermaßen zugkräftigen zivilen Tugenden aufriefen. Die Wortführer der Armee
waren vor allem die Sozialrevolutionäre, traditionelle Hüter des Bauerntums,
und das allein genügte schon, dieser Partei bei den neuen proletarischen
Schichten Autorität zu verleihen. Die Überlegenheit der versöhnlerischen
Parteien schien unerschütterlich, zumindest in ihren eigenen Augen.
Das
Schlimmste aber war, daß die bolschewistische Partei von den Ereignissen überrascht
worden war. Keiner ihrer Führer mit Erfahrung und Autorität befand sich in
Petrograd. Das Büro des Zentralkomitees setzte sich aus zwei Arbeitern,
Schljapnikow und Salutzki, und dem Studenten Molotow
zusammen (die beiden ersten fielen späterhin Säuberungen zum Opfer, der
letztere wurde Regierungschef). Das »Manifest«, das sie im Namen des
Zentralkomitees nach dem Februarsieg herausgaben, rief »die Arbeiter in
Fabriken und Betrieben sowie die aufständischen Truppen« auf, »sofort ihre
Vertreter für die Provisorische Revolutionäre Regierung zu wählen«. Jedoch
legten die Verfasser des »Manifestes« diesem Aufruf keine praktische Bedeutung
bei. Sie stellten sich keineswegs darauf ein, einen selbständigen Kampf um die
Eroberung der Macht zu entfesseln, sondern darauf, für eine ganze Epoche die
Rolle der linken Opposition zu spielen.
Von Anfang
an weigerten sich die Massen, der liberalen Bourgeoisie ihr Vertrauen zu
schenken, und machten keinen Unterschied zwischen dieser und dem Adel und der
Beamtenschaft. So konnte es zum Beispiel nicht vorkommen, daß Arbeiter oder
Soldaten ihre Stimme einem »Kadetten« gaben. Die Macht befand sich vollkommen
in Händen der versöhnlerischen Sozialisten, hinter denen das bewaffnete Volk
stand. Aus Mangel an Vertrauen in sich selbst gaben die Versöhnler jedoch die
Macht freiwillig an die von den Massen gehaßte und politisch isolierte
Bourgeoisie ab. Das ganze Regime gründete sich auf ein quid pro quo. Die
Arbeiter, und nicht nur die Bolschewiki, betrachteten die Provisorische Regierung
als ihren Feind. Auf Betriebsversammlungen wurden die Resolutionen für die
Übertragung der Macht an die Sowjets fast einstimmig angenommen. Der Bolschewik
Dingelstädt, der tätigen Anteil an dieser Agitation nahm – er fiel später einer
Säuberung zum Opfer –, bestätigt das: »Es gab keine einzige
Arbeiterversammlung, die eine in diesem Sinne gehaltene Resolution, falls sie
von uns vorgeschlagen wurde, zurückwies.« Unter dem Druck der Versöhnler machte
das Petrograder Komitee aber dieser Kampagne ein Ende. Die fortgeschrittenen
Arbeiter versuchten mit allen ihren Kräften, sich von der Bevormundung durch
die opportunistischen Spitzen zu befreien, wußten aber nicht, wie sie den
gelehrten Argumenten vom bürgerlichen Charakter der Revolution begegnen sollten.
Die verschiedenen Strömungen innerhalb des Bolschewismus kamen miteinander in
Konflikt, ohne aber die letzten Schlußfolgerungen aus ihren Argumenten zu
ziehen. Die Partei befand sich in abgrundtiefer Verwirrung. »Niemand wußte,
welches die Losungen der Bolschewiki waren«, erinnerte sich später der bekannte Saratower Bolschewik Antonow, »es war ein äußerst
trauriges Schauspiel«.
Die
zweiundzwanzig Tage, die Stalins Ankunft aus Sibirien (am Sonntag, dem 12.
März) von der Ankunft des aus der Schweiz zurückkehrenden Lenin (am 3. April)
trennen, sind wegen des Lichtes, das sie auf die politische Physiognomie
Stalins werfen, von außerordentlicher Bedeutung. Plötzlich eröffnet sich vor
ihm ein weites Betätigungsfeld. Weder Lenin noch Sinowjew sind in Petrograd. Kamenew
ist da – der durch seine Haltung vor Gericht kompromittierte und allgemein für
seine opportunistischen Tendenzen bekannte Kamenew. Swerdlow ist da, der der
Partei wenig bekannt und mehr Organisator als Politiker ist. Der stürmische
Spandarian war nicht mehr – er war in Sibirien gestorben. Wie 1912 war Stalin
nun wieder, wenn nicht der führende, so doch einer der führenden Bolschewiki in
Petrograd. Die desorientierte Partei wartete auf klare Anweisungen. Unmöglich
noch länger zu schweigen. Stalin hatte auf die brennendsten Fragen zu antworten
– über die Sowjets, die Macht, den Krieg, den Boden. Seine Antworten sind
veröffentlicht worden; sie sprechen für sich selbst.
Sobald er in
Petrograd angekommen war, das in jenen Tagen einer einzigen großen Massenversammlung
glich, begab sich Stalin ins bolschewistische Hauptquartier. Die drei
Mitglieder des Büros des Zentralkomitees, von einigen schreibenden
Parteimitgliedern assistiert, hatten das Gesicht der »Prawda« bestimmt. Sie
hatten es tastend getan, obwohl sie die Führung der Partei in der Hand hielten.
Stalin, es anderen überlassend, sich in Arbeiter- und Soldatenversammlungen die
Stimmbänder zu zerreißen, verschanzte sich im Hauptquartier. Mehr als vier
Jahre zuvor, nach der Prager Konferenz, war er ins Zentralkomitee kooptiert
worden. Inzwischen war viel Wasser den Berg hinuntergelaufen. Doch der
Verbannte aus Kureika weiß den Parteiapparat zu handhaben; er hält sein Mandat
für noch immer gültig. Unter Mithilfe von Kamenew und Muranow verdrängt er
zuerst einmal das »linke« Büro des Zentralkomitees und die »Prawda«- Redaktion
aus der Führung. Was er in um so brutalerer Weise tat, als er keinen Widerstand
zu fürchten hatte und darauf brannte zu zeigen, daß er sich als Herr im Hause
fühlte.
»Die
zurückkehrenden Genossen«, schrieb Schljapnikow später, »nahmen zu unserer
Arbeit eine kritische und negative Haltung ein.« Was sie für falsch hielten,
war nicht der Mangel an Geschlossenheit und Entschiedenheit
dieser Arbeit, sondern, im Gegenteil, die ständigen Bemühungen, eine
Trennungslinie zwischen den Bolschewiki und den Kompromißlern zu ziehen. Ebenso
wie Kamenew stand Stalin vielmehr der Mehrheit nahe, die die Sowjets
beherrschte. Schon am 15. März erklärte die neue Redaktion der »Prawda«, daß
die Bolschewiki entschieden die Provisorische Regierung unterstützen würden,
»in dem Maße, wie sie gegen die Reaktion und die Konterrevolution kämpft«. Das
Paradoxe an dieser Erklärung war, daß der einzige wesentliche Agent der
Konterrevolution die Provisorische Regierung selbst war. Von derselben Art
waren die Antworten auf die Kriegsfrage: solange die deutsche Armee ihrem
Kaiser gehorcht, muß der russische Soldat »fest auf seinem Posten bleiben, mit
der Kugel auf die Kugel und mit der Granate auf die Granate antworten«. Als ob
der imperialistische Charakter des Krieges vom Kaiser abhinge! Der Artikel
stammt von Kamenew, aber Stalin machte nicht die mindeste Einwendung. Wenn sich
Stalin in dieser Zeit überhaupt von Kamenew unterschied, so nur durch eine noch
ausweichendere Haltung. »Aller Defätismus«, wurde in der »Prawda« erklärt,
»oder vielmehr das, was eine sich hinter der zaristischen Zensur versteckende
ehrlose Presse unter dieser Bezeichnung verleumdet hat, ist in dem Augenblick
gestorben, wo das erste revolutionäre Regiment in den Straßen von Petrograd
erschienen ist.« Das hieß, sich entschieden von Lenin lossagen, der für den
Defätismus außerhalb der Reichweite der zaristischen Zensur eingetreten war,
und hieß, Kamenews Erklärungen auf dem Prozeß der bolschewistischen Dumafraktion
bestätigen. Diesmal zeichnete Stalin selbst. Was das »erste revolutionäre
Regiment« anbetrifft, so bedeutete sein Erscheinen lediglich einen Schritt von
der byzantinischen Barbarei zur imperialistischen Zivilisation.
»Der Tag, an
dem die umgewandelte ›Prawda‹ erschien«, berichtet Schljapnikow, »war ein Tag
des Triumphes für die ›Verteidiger‹. Das ganze Taurische Palais, von den
Geschäftsleuten aus dem Reichsdumakomitee bis zum Exekutivkomitee, dem Herzen
der revolutionären Demokratie, war mit dieser einen Neuigkeit angefüllt, dem
Sieg der einsichtsvollen und gemäßigten Bolschewiki über die Extremisten. Im
Exekutivkomitee selbst wurden wir mit boshaftem Lächeln empfangen ... Als diese
Nummer der ›Prawda‹ in den Fabriken ankam, rief sie unter den Mitgliedern
unserer Partei und unter den Sympathisierenden Verwirrung
und Empörung hervor und hämische Befriedigung bei unseren Gegnern ... In den
Arbeitervierteln war die Empörung gewaltig, und als die Arbeiter erfuhren, daß
sich drei kürzlich aus Sibirien zurückgekommene ehemalige Redakteure der
›Prawda‹ bemächtigt hatten, verlangten sie deren Ausschluß aus der Partei.«
Schljapnikow
hat seinen Text 1925 geschrieben, zu einer Zeit, wo er ihn unter dem Druck der
»Troika« Stalin, Kamenew, Sinowjew, die damals die Partei beherrschte,
abschwächen mußte. Er gibt dennoch ein ziemlich klares Bild von Stalins ersten
Schritten in die Arena der Revolution und von der Reaktion, die sie bei den
klassenbewußten Arbeitern auslösten. Der lebhafte Protest der Wyborger Arbeiter,
den die »Prawda« alsbald in ihren Spalten abdrucken mußte, zwang die Redaktion
zu größter Vorsicht in den Formulierungen, aber nicht zu einer Änderung ihrer
politischen Linie.
Die Politik
der Sowjets war durch und durch zweideutig und kompromißlerisch. Was die Massen
brauchten, war vor allem jemand, der die Dinge bei ihrem Namen nannte – eben
darin besteht das Wesen der revolutionären Politik. Das tat niemand, aus Angst,
das gebrechliche Gebäude der Doppelherrschaft zu erschüttern.
Der größte
Berg von Lügen wurde um die Kriegsfrage herum angehäuft. Am 14. März legte das
Exekutivkomitee dem Sowjet den Entwurf eines Manifestes »An alle Völker der
Welt« vor. Dieses Dokument rief die Arbeiter Deutschlands und
Österreich-Ungarns auf, sich zu weigern, »als Werkzeug der Eroberung und der
Gewalt in den Händen der Könige, Grundbesitzer und Bankiers zu dienen«. Doch
die Führer des Sowjets selbst zeigten nicht die mindeste Absicht, mit den
Königen von Großbritannien und Belgien, mit dem Kaiser von Japan, mit den Bankiers
und Grundbesitzern, sowohl ihren eigenen als denen der Entente-Länder, zu
brechen. Das Organ Miljukows, Ministers des Auswärtigen, stellte mit
Befriedigung fest, »daß sich der Aufruf in einer Ideologie bewegt, die uns und
unseren Alliierten gemeinsam ist«. Das war durchaus richtig: er entsprach ganz
dem Geiste der französischen sozialistischen Minister seit Ausbruch des
Krieges. Zur gleichen Stunde sandte Lenin über Stockholm einen Brief nach
Petrograd, in dem er schrieb, daß der Revolution die Gefahr drohe, daß die alte
imperialistische Politik mit neuen revolutionären Phrasen bemäntelt werde: »Ich
würde eher die Spaltung, mit wem es auch sei, in unserer
Partei vorziehen, als dem Sozialpatriotismus nachgeben ...« Aber Lenins Ideen
fanden in jenen Tagen nicht einen Verteidiger.
Die
einstimmige Annahme des Manifestes durch den Petrograder Sowjet bedeutete nicht
nur den Sieg des Imperialisten Miljukow über die kleinbürgerliche Demokratie,
sondern auch den Sieg Stalins und Kamenews über die linken Bolschewiki. Alle
beugten die Häupter vor der Disziplin der patriotischen Lüge. »Es ist
unmöglich«, schrieb Stalin in der »Prawda«, »den gestrigen Aufruf des Sowjets
nicht willkommen zu heißen ... Dieser Aufruf, wenn er die breiten Massen
erreicht, wird zweifellos Hunderte und Tausende wieder zurückbringen zu der
vergessenen Losung: ›Proletarier aller Länder, vereinigt euch!‹« In
Wirklichkeit hatte es an solchen Aufrufen im Westen nicht gefehlt, und alles,
was sie bewirkt hatten, war, den herrschenden Klassen zu helfen, das Trugbild
vom Krieg für die Demokratie aufrechtzuerhalten.
Stalins
Artikel über das »Manifest« charakterisiert in ausgezeichneter Weise nicht nur
seine Stellungnahme in dieser konkreten Frage, sondern seine Denkart überhaupt.
Zeit und Umstände zwingen ihn vorübergehend, seinen organischen Opportunismus
hinter abstrakten revolutionären Grundsätzen zu verbergen, in Wirklichkeit aber
macht er mit diesen Grundsätzen kurzen Prozeß. Am Anfang des Artikels
wiederholt der Verfasser fast Wort für Wort Lenins Argumentation, daß der Krieg
russischerseits selbst nach dem Sturz des Zarismus seinen imperialistischen
Charakter beibehalte. Wenn es sich aber darum handelt, praktische
Schlußfolgerungen zu ziehen, begrüßt er, wenn auch mit vieldeutigen
Einschränkungen, nichtsdestoweniger das sozialpatriotische »Manifest«, und
Kamenews Spuren folgend weist er darüber hinaus auch noch die revolutionäre
Mobilisierung der Massen gegen den Krieg zurück. »Vor allem ist es
unzweifelhaft«, schreibt er, »daß die einfache Losung ›Nieder mit dem Krieg!‹
unmöglich praktisch anzuwenden ist.« Und der Weg, den er vorschlägt, ist, man
solle auf die Provisorische Regierung einen Druck ausüben und verlangen, daß
sie sofort Friedensverhandlungen einleitet. Mit Hilfe eines freundschaftlichen
»Drucks« auf die Bourgeoisie, für die in der Eroberung der ganze Sinn des
Krieges liegt, will Stalin zu einem »auf den Grundsätzen des
Selbstbestimmungsrechts der Völker« beruhenden Frieden gelangen. Solch
philisterhaften Utopismus hatte Lenin von Beginn des
Krieges an aufs schärfste bekämpft. Durch »Druck« kann man unmöglich erreichen,
daß die Bourgeoisie aufhört, Bourgeoisie zu sein: sie muß gestürzt werden. Aber
vor dieser Schlußfolgerung schreckt Stalin voller Furcht zurück – genau so wie
die Kompromißler.
Nicht
weniger kennzeichnend war Stalins Artikel: Ȇber die Abschaffung der nationalen
Unterdrückung« (in der »Prawda« vom 25. März 1917). Die Grundidee des
Verfassers, den Propagandabroschüren entnommen, die er noch auf dem Tifliser
Seminar gelesen hatte, ist, daß die nationale Unterdrückung ein Überbleibsel
aus dem Mittelalter sei. Der Imperialismus als Herrschaft der starken über die
schwachen Nationen wird vollständig außer acht gelassen. »Die soziale Basis der
nationalen Unterdrückung,« schreibt er, »die Kraft, die sie inspiriert, ist die
niedergehende Landaristokratie. In England, wo sich der Landadel mit der
Bourgeoisie die Macht teilt ... ist die nationale Unterdrückung schwächer,
weniger unmenschlich, vorausgesetzt natürlich, daß wir nicht den besonderen
Fall in Betracht ziehen, daß im Laufe des Krieges, als die Macht in die Hände
des Landadels überging, die nationale Unterdrückung beträchtlich verstärkt
wurde (Verfolgung der Irländer, der Hindus).« Die extravaganten Behauptungen,
von denen der Artikel voll ist – daß in den Demokratien die Gleichheit der
Nationen und der Rassen gesichert ist, daß in England bei Ausbruch des Krieges
die Macht an den Landadel überging, daß die Überwindung der Feudalaristokratie
die Abschaffung der nationalen Unterdrückung bedeutet –, sind ganz von
vulgär-demokratischem Geiste und von provinzieller Beschränktheit erfüllt.
Nicht ein Wort darüber, daß der Imperialismus die nationale Unterdrückung auf
einen Punkt getrieben hat, wohin sie zu treiben der Feudalismus, sei es auch
nur aus ländlicher Trägheit heraus, absolut unfähig war. Der Verfasser hat auf
dem Gebiete der Theorie seit Beginn des Jahrhunderts keine Fortschritte
gemacht, mehr noch, er scheint seine eigene Arbeit über die nationale Frage,
unter Lenins Diktat Anfang 1913 geschrieben, vollständig vergessen zu haben.
»In dem
Maße, in dem die russische Revolution gesiegt hat«, schließt der Artikel, »hat
sie schon die praktischen Bedingungen für die nationale Freiheit geschaffen,
indem sie die auf die Leibeigenschaft gegründete Feudalmacht gestürzt hat.« Für
unseren Verfasser war die Revolution eine Sache, die bereits vollständig der
Vergangenheit angehörte. Was vor ihm lag, war, ganz im Geiste
Miljukows und Tseretellis, die »Herausarbeitung der Gesetze« und »ihre endgültige
Konsolidierung«. Unterdessen blieb nicht nur die kapitalistische Ausbeutung, an
deren Überwindung Stalin noch nicht einmal dachte, sondern auch der
Grundbesitz, den er selbst als Basis der nationalen Unterdrückung erklärte,
völlig unberührt. Russische Großgrundbesitzer vom Schlage der Rodzjanko und des
Fürsten Lwow saßen in der Regierung. Von solcher Art war – selbst heute ist das
kaum zu glauben! – die historische und politische Konzeption Stalins, zehn Tage
bevor Lenin die Orientierung auf die sozialistische Revolution hin
proklamierte.
Am 28. März,
gleichzeitig mit der Konferenz der Vorsitzenden der wichtigsten Sowjets von
Rußland, wurde in Petrograd die Konferenz der Bolschewiki von ganz Rußland
eröffnet, die vom Büro des Zentralkomitees einberufen worden war. Obwohl ein
Monat seit dem Aufstand vergangen war, herrschte in der Partei vollständige
Verwirrung, eine Verwirrung, die die Leitung in den beiden letzten Wochen nur
noch vertieft hatte. Irgendeine Abgrenzung der politischen Tendenzen hatte noch
nicht stattgefunden. In der Verbannung war dazu die Ankunft Spandarians
notwendig gewesen, jetzt wartete die Partei auf Lenin. Extreme Chauvinisten wie
Woitinsky und Eliava und andere nannten sich weiterhin Bolschewiki und nahmen
an der Parteikonferenz Seite an Seite mit denen teil, die sich als
Internationalisten betrachteten. Die Patrioten drückten sich mit weitaus mehr
Kühnheit und Entschlossenheit aus als die Halbpatrioten, die sich ständig
duckten und rechtfertigten. Die Mehrheit der Delegierten gehörte zum
zentristischen »Sumpf« und fand ihren natürlichen Sprecher in Stalin. »Die
Einstellung zur provisorischen Regierung ist bei allen die gleiche«, sagte der
Delegierte von Saratow, Wassiljew. »In bezug auf die praktischen Schritte
besteht keine Meinungsverschiedenheit zwischen Stalin und Woitinsky«, stellte
Krestinsky mit Befriedigung fest. Woitinsky ging schon am nächsten Tage zu den
Menschewiki über, und sieben Monate später führte er eine Kosakenabteilung
gegen die Bolschewiki.
Kamenews
Haltung auf dem Prozeß schien nicht vergessen worden zu sein. Möglicherweise
wurde unter den Delegierten auch von dem geheimnisvollen Telegramm an den
Großfürsten gesprochen. Vielleicht hat Stalin in seiner tückischen Art an diese
Irrtümer seines Freundes erinnert. Auf jeden Fall wurde das politische
Hauptreferat über die Einstellung zur provisorischen Regierung
nicht Kamenew, sondern dem weniger bekannten Stalin übertragen. Das Protokoll
davon ist aufbewahrt worden und stellt für den Historiker und Biographen ein
Dokument von unschätzbarem Wert dar: es geht um das zentrale Problem der
Revolution, die Beziehungen zwischen den Sowjets, die sich auf die bewaffneten
Arbeiter und Soldaten stützen, und der bürgerlichen Regierung, deren Existenz
nur vom guten Willen der Führer der Sowjets abhängt. »Die Regierungsmacht ist
in zwei Organe aufgeteilt«, sagte Stalin, »von denen keines die volle Macht
hat. In Wirklichkeit hat der Sowjet die Initiative bei den revolutionären
Umänderungen; der Sowjet ist der revolutionäre Führer des aufständischen
Volkes, das Organ, das die Provisorische Regierung kontrolliert. Die
Provisorische Regierung hat in Wirklichkeit die Aufgabe übernommen, die
Eroberungen des revolutionären Volkes zu konsolidieren. Der Sowjet mobilisiert
die Kräfte und übt die Kontrolle aus, die Provisorische Regierung, zögernd und
verwirrt, übernimmt die Rolle, die Eroberungen zu konsolidieren, die das Volk
schon tatsächlich gemacht hat.« Dies Zitat ist ein ganzes Programm wert!
Der Redner
stellt die Beziehungen zwischen den beiden Hauptklassen der Gesellschaft wie
die Arbeitsteilung zwischen zwei »Organen« dar: die Sowjets, das heißt, die
Arbeiter und Soldaten, machen die Revolution; die Regierung, das heißt die
Kapitalisten und liberalen Grundeigentümer, »konsolidieren« sie. In den Jahren
1905 – 1907 hatte Stalin selbst, Lenin wiederholend, mehr als einmal
geschrieben: »Die russische Bourgeoisie ist gegenrevolutionär, sie kann weder
die Triebkraft noch viel weniger die Führerin der Revolution sein; sie ist der
geschworene Feind der Revolution, und gegen sie muß ein hartnäckiger Kampf
geführt werden.« Diese politische Leitidee des Bolschewismus war durch den
Verlauf der Februarrevolution keineswegs widerlegt worden. Miljukow, der Führer
der liberalen Bourgeoisie, hatte einige Tage vor dem Aufstand auf einer
Konferenz seiner Partei erklärt: »Wir spazieren auf einem Vulkan. Wie die
Regierungsmacht auch sein mag – gut oder schlecht –, wir brauchen jetzt mehr
denn je eine starke Regierung.« Nachdem der Aufstand trotz des Widerstandes der
Bourgeoisie ausgebrochen war, blieb den Liberalen nichts anderes mehr übrig,
als sich auf den durch den Sieg des Aufstandes geschaffenen Boden der Tatsachen
zu stellen. Und eben derselbe Miljukow, der noch am Vorabend
erklärt hatte, daß eine Rasputin-Monarchie besser sei als ein Vulkanausbruch,
leitete jetzt die provisorische Regierung, die nach Stalin die Errungenschaften
der Revolution »konsolidieren« sollte, die sie in der Tat aber nur zu ersticken
suchte. Für die aufständischen Massen bedeutete die Revolution die Abschaffung
der alten Eigentumsformen, eben jener Formen, die die provisorische Regierung
verteidigte. Stalin stellte den unversöhnlichen Klassenkampf, der sich allen
Anstrengungen der Versöhnler zum Trotz jeden Tag in einen Bürgerkrieg zu
verwandeln drohte, als eine einfache Arbeitsteilung zwischen zwei Apparaten
dar. Selbst der linke Menschewik Martow ging nicht so weit. Das war Tseretellis
Theorie – und Tseretelli war das Orakel der Kompromißler – in ihrer vulgärsten
Ausdrucksform: auf der Arena der sogenannten Demokratie bewegen sich die
»gemäßigten« und die »entschlosseneren« Kräfte, sie teilen sich die Arbeit, die
einen erobern, die anderen befestigen. Wir haben hier das Schema der
zukünftigen stalinistischen Politik in China (1924-1927) und in Spanien
(1934-1939) sowohl als auch bei allen unglückseligen »Volks-fronten« in fertiger
Form vor uns.
»Es liegt
nicht in unserem Vorteil, jetzt den Verlauf der Ereignisse voranzutreiben«,
fuhr der Redner fort, »und die Aufspaltung der bürgerlichen Schichten zu
fördern ... Wir müssen Zeit gewinnen, indem wir die Aufspaltung der mittleren
Schichten der Bourgeoisie bremsen, um uns auf den Kampf gegen die Provisorische
Regierung vorzubereiten.« Die Delegierten nahmen diese Argumente mit einer
gewissen Unruhe auf. »Nicht die Bourgeoisie erschrecken«, das war immer das
Losungswort Plechanows und im Kaukasus das Jordanias gewesen. Der Bolschewismus
war im heftigsten Kampf gegen diese Strömung gewachsen. »Die Aufspaltung der
Bourgeoisie bremsen«, das ist nur möglich, wenn man den Klassenkampf des
Proletariats bremst; das sind im Grunde nur die beiden Seiten eines und
desselben Prozesses. »Wenn man davon sprach, nicht die Bourgeoisie zu
erschrecken«, hatte Stalin selbst im Jahre 1913, kurze Zeit vor seiner
Verhaftung geschrieben, »rief man nur ein Lächeln hervor, denn es war klar, daß
sich die Sozialdemokratie anschickte, diese Bourgeoisie nicht nur zu
›erschrecken‹, sondern sie in der Person ihrer Anwälte, der Kadetten, zu
vertreiben.« Es ist allerdings schwer zu verstehen, wieso ein alter Bolschewik
die vierzehn Jahre lange Geschichte seiner Fraktion so weit vergessen konnte, daß er im kritischsten Augenblick zu den schlimmsten
menschewistischen Formeln griff. Die Erklärung ist in Stalins Mentalität zu
suchen: er ist für allgemeine Ideen unempfänglich, und sein Gedächtnis hält sie
nicht zurück. Er bedient sich ihrer je nach Bedarf, von Fall zu Fall, und wirft
sie ohne Bedauern und fast automatisch beiseite. In dem Artikel aus dem Jahre
1913 ging es um die Dumawahlen. »Die Bourgeoisie aus ihren Stellungen zu
vertreiben« bedeutete einfach, den Liberalen Mandate abzujagen. Jetzt handelte
es sich um die revolutionäre Überwältigung der Bourgeoisie. Diese Aufgabe
verwies Stalin in eine ferne Zukunft. Im gegenwärtigen Augenblick hielt er es
ganz wie die Menschewiki für notwendig, »sie nicht zu erschrecken«.
Nach der
Verlesung der Resolution des Zentralkomitees, die er selbst mit ausgearbeitet
hatte, erklärte Stalin unerwarteterweise, daß er »mit ihr nicht ganz
einverstanden sei und die vom Krasnojarsker Sowjet eingebrachte Resolution
unterstützen werde«. Was sich da hinter den Kulissen abgespielt hat, ist nicht
klar. Stalin kann auf seinem Rückweg von Sibirien selbst an der Abfassung der
Resolution des Krasnojarsker Sowjets beteiligt gewesen sein. Möglich ist, daß
er jetzt, nachdem er den Geisteszustand der Delegierten kennengelernt hatte,
versuchte, sich von Kamenew etwas abzugrenzen. Jedoch steht die Krasnojarsker
Resolution auf einem noch tieferen Niveau als das Petrograder Dokument. »... es
vollständig klarzumachen, daß die einzige Quelle der Macht und der Autorität
der Provisorischen Regierung der Volkswille ist, dem die Provisorische
Regierung vollständig zu gehorchen hat, und die Provisorische Regierung nur in
dem Maße zu unterstützen ... wie sie es unternimmt, die Forderungen der
Arbeiterklasse und der revolutionären Bauernschaft zu erfüllen.« Das aus
Sibirien herbeigebrachte Geheimmittel stellte sich als ganz einfach heraus: die
Bourgeoisie hat dem Volke »vollständig zu gehorchen« und die Forderungen der
Arbeiter und Bauern »zu erfüllen«. In einigen Wochen sollte die Formel von der
Unterstützung der Bourgeoisie »in dem Maße, wie ...« zum allgemeinen Gespött
werden. Indes protestieren schon jetzt einige Delegierte gegen die
Unterstützung der Regierung des Fürsten Lwow: diese Idee stand allzusehr im
Widerspruch mit der ganzen Tradition des Bolschewismus. Am nächsten Tage war
der Sozialdemokrat Steklow, selbst Anhänger der Formel »in dem Maße, wie«, aber
als Mitglied der »Kontaktkommission« gut darüber informiert, was innerhalb der
Rechten vorging, so unvorsichtig, auf der Sowjetkonferenz
ein derartiges Bild von der Tätigkeit der Provisorischen Regierung zu entwerfen
– Opposition gegen die sozialen Reformen, Kampf für die Monarchie, Kampf für
Annexionen –, daß die lebhaft beunruhigte bolschewistische Konferenz die
Unterstützungsformel fallen ließ. »Es ist klar, daß es nun nicht um die Frage
der Unterstützung geht«, erklärte der gemäßigte Nogin, der die Auffassung der
meisten übrigen ausdrückte, »sondern um Opposition.« Dieselbe Auffassung
vertrat der Delegierte Skrypnik, der dem linken Flügel angehörte: »Seit der
gestrigen Rede Stalins hat sich viel geändert ... Die Provisorische Regierung
bereitet ein Komplott gegen die Revolution und das Volk vor ... und die
Resolution spricht von Unterstützung.« Entmutigt, schlägt Stalin, dessen
Einschätzung der Situation nicht vierundzwanzig Stunden lang der Probe
standgehalten hatte, vor, »eine Kommission zur Abänderung der
Unterstützungsklausel zu ernennen«. Die Konferenz geht darüber hinaus: »Die
Mehrheit beschließt gegen vier Stimmen, daß die Klausel über die Unterstützung
aus der Resolution zu streichen ist.«
Man sollte
meinen, daß das ganze Schema unseres Redners über die Arbeitsteilung zwischen
Proletariat und Bourgeoisie in Vergessenheit geraten wäre. In Wirklichkeit
wurde aus der Resolution nur ein Satz herausgenommen, nicht aber die Idee. Die
Furcht, »die Bourgeoisie zu erschrecken«, blieb. Die Resolution lief im
wesentlichen darauf hinaus, die Provisorische Regierung »zum energischsten
Kampf für die vollständige Beseitigung des alten Regimes« aufzufordern, indes
diese Regierung den »energischsten Kampf« für die Wiederherstellung der
Monarchie führte. Die Konferenz kam nicht über einen freundschaftlichen Druck
auf die Liberalen hinaus. Von einem selbständigen Kampf für die Eroberung der Macht,
sei es auch nur im Namen der demokratischen Aufgaben, war keine Rede. Wie um
den wirklichen Inhalt der angenommenen Entschließungen noch klarer
herauszuschälen, erklärte Kamenew auf der Sowjetkonferenz, die zu gleicher Zeit
abgehalten wurde, daß er in bezug auf die Frage der Macht »glücklich« sei, die
Stimme der Bolschewiki für die offizielle, von dem Führer der rechten
Menschewiki, Dan, eingebrachte und verteidigte Resolution abgeben zu können. Im
Lichte dieser Tatsachen mußte die Spaltung von 1903, die auf der Prager
Konferenz von 1913 noch vertieft worden war, wie ein Mißverständnis erscheinen.
Es ist also kein Zufall, daß auf der bolschewistischen
Konferenz am nächsten Tage über den Vorschlag verhandelt wurde, die beiden
Parteien zu vereinigen – ein Vorschlag, der von Tseretelli, einem anderen
Führer der rechten Menschewiki, ausgegangen war. Stalin nahm diesem Vorschlag
gegenüber eine äußerst zustimmende Haltung ein: »Wir müssen annehmen. Wir
müssen unsere Vorschläge über die Linie der Vereinigung festlegen. Die
Vereinigung ist auf der Linie Zimmerwald-Kienthal möglich.« Das war die »Linie«
der beiden sozialistischen Tagungen, die in der Schweiz stattgefunden und auf
denen die gemäßigten Pazifisten überwogen hatten. Molotow, der zwei Wochen
zuvor gestraft worden war, weil er zu links gewesen war, machte schüchterne
Einwendungen: »Tseretelli will voneinander verschiedene Elemente vereinigen ...
Die Vereinigung auf dieser Linie ist falsch ...« Salutzki, eins der zukünftigen
Opfer der Säuberungen, protestierte entschiedener: »Von dem bloßen Wunsch der
Vereinigung ausgehen, das kann ein Träumer tun, aber nicht ein Sozialdemokrat
... Es ist unmöglich, sich auf der Basis eines oberflächlichen
Einverständnisses mit Zimmerwald-Kienthal zu vereinigen ... Es ist notwendig,
eine genaue Plattform aufzustellen.« Doch der zum Träumer erklärte Stalin blieb
der Ansicht: »Wir dürfen nicht vorgreifen und Meinungsverschiedenheiten
vorwegnehmen. Ohne Meinungsverschiedenheiten gibt es kein Leben in der Partei.
Innerhalb der Partei werden wir diese geringen Meinungsverschiedenheiten schon
beilegen.« Man traut seinen Augen nicht: die Gegensätze zu Tseretelli, dem
leitenden Kopf der Sowjetmehrheit, werden von Stalin zu »geringen
Meinungsverschiedenheiten« erklärt, die innerhalb der Partei »beigelegt« werden
könnten. Diese Debatte fand am 1. April statt. Drei Tage später erklärte Lenin
Tseretelli den Krieg auf Leben und Tod. Zwei Monate später entwaffnete und
verhaftete Tseretelli die Bolschewiki.
Die
Konferenz vom März 1917 ist höchst bedeutend für die Beurteilung der Mentalität
der führenden Schichten der bolschewistischen Partei unmittelbar nach der
Februarrevolution – und ganz besonders für die Beurteilung des Geisteszustandes
von Stalin nach seiner Rückkehr aus Sibirien, wo er vier Jahre lang auf sich
selbst angewiesen war. Aus den Seiten des dünnen Protokolls ersteht er vor uns
als ein plebejischer Demokrat und beschränkter Provinzler, der, dem Zuge der
Zeit folgend, marxistisch geschminkt ist. Seine Artikel und Reden aus jenen
Wochen werfen ein helles Licht auf seine Einstellung
während der Kriegsjahre: hätte er sich in Sibirien Lenins Ideen auch nur um
einen Schritt genähert, wie es die zwanzig Jahre später geschriebenen Memoiren
wollen, dann hätte er nicht im März 1917 so tief im Morast des Opportunismus
versinken können. Lenins Abwesenheit und Kamenews Einfluß ermöglichten ihm,
sich am Vorabend der Revolution so zu zeigen, wie er wirklich war, und seine
zutiefst eingewurzelten Züge hervorzukehren: Mißtrauen gegen die Massen, Mangel
an Einbildungskraft, Kurzsichtigkeit, Neigung, der Linie des geringsten
Widerstandes zu folgen. Diese Charakteristiken werden wir in späteren Jahren
jedesmal wieder beobachten, wenn Stalin bei wichtigen Ereignissen eine führende
Rolle spielt. Kein Wunder, daß die Märzkonferenz, auf der sich Stalin als
Politiker so klar enthüllte, jetzt aus der Geschichte der Partei ausradiert ist
und die Protokolle darüber hinter Schloß und Riegel gehalten werden. Im Jahre
1923 wurden drei Abschriften davon insgeheim für die Mitglieder der »Troika«
angefertigt, für Stalin, Sinowjew, Kamenew. Erst 1926, als Sinowjew und Kamenew
zu Stalin in Opposition traten, erhielt ich von ihnen dieses bemerkenswerte
Dokument und war so später in der Lage, es im Ausland zu veröffentlichen.
Schließlich
und endlich unterscheiden sich aber die Protokolle nicht wesentlich von den
»Prawda«-Artikeln und vervollständigen sie nur. Es bleibt aus jenen Tagen keine
Erklärung, kein Vorschlag, kein Protest, in denen Stalin in mehr oder weniger
klarer Weise den bolschewistischen Gesichtspunkt gegen die
kleinbürgerlich-demokratische Politik geltend gemacht hätte. Einer der
Historiker dieser Periode, der linke Menschewik Suchanow, Verfasser des oben
erwähnten Aufrufs »An die Werktätigen der ganzen Welt«, schreibt in seinen
unersetzlichen »Randbemerkungen zur Revolution«: »Außer Kamenew hatten die
Bolschewiki damals Stalin im Exekutivkomitee ... Während der Zeit seiner
bescheidenen Tätigkeit ... machte er – und nicht nur auf mich allein – den
Eindruck eines grauen Flecks, der gelegentlich auftaucht und dann wieder
verschwindet. Mehr ist wirklich nicht über ihn zu sagen.« Suchanow hat seine
Weigerung, mehr zu sagen, später mit dem Leben bezahlt.
Am 3. April
kamen, nachdem sie das mit Rußland im Krieg liegende Deutschland durchquert
hatten, Lenin, die Krupskaja, Sinowjew und andere auf dem Finnländischen
Bahnhof in Petrograd an ... Eine von Kamenew geführte Gruppe von Bolschewiki war Lenin nach Finnland entgegengefahren. Stalin war nicht dabei,
und diese unscheinbare Tatsache zeigt besser als alles andere, daß von nichts,
was auch nur entfernt nach einer persönlichen Beziehung zwischen Lenin und
Stalin aussah, die Rede sein konnte. »Kaum war er zurückgekommen und hatte sich
auf den Diwan gesetzt«, erzählt Raskolnikow, Marineoffizier und späterer
Sowjetdiplomat, »als Wladimir Iljitsch schon Kamenew anging: ›Was schreibt ihr
da in der Prawda? Wir haben einige Nummern gesehen und haben uns sehr über euch
geärgert‹ ...« Kamenew war, nach Jahren gemeinsamer Arbeit im Ausland, an
solche kalten Duschen gewöhnt. Sie minderten seine Liebe und Bewunderung für
Lenin nicht, für den ganzen Lenin, seine Leidenschaft, seine Tiefe, seine
Einfachheit, seine witzigen Bemerkungen, über die Kamenew lachte, bevor sie
ausgesprochen waren, seine Handschrift, die er unfreiwillig imitierte. Viele
Jahre später entsann sich jemand, daß Lenin unterwegs nach Stalin gefragt
hatte. Diese ganz natürliche Frage – Lenin hatte sich sicherlich nach allen
Mitgliedern des alten bolschewistischen Generalstabs erkundigt – diente später
als Vorwurf für einen sowjetischen Film.
Ein
aufmerksamer und gewissenhafter Beobachter schreibt über das erste öffentliche
Auftreten Lenins in einer bolschewistischen Versammlung: »Nie werde ich diese donnernde
Rede vergessen, die nicht nur mich, den zufällig gekommenen Häretiker,
aufwühlte und erschütterte, sondern auch alle gläubigen Bolschewiki. Ganz
sicher hatte niemand etwas Ähnliches erwartet.« Es handelte sich nicht um
oratorische Donnerschläge, mit denen Lenin sparsam umging, sondern um die ganze
Richtung seines Denkens. »Was wir brauchen, ist keine parlamentarische
Republik, was wir brauchen, ist nicht eine bürgerliche Demokratie, was wir
brauchen, das ist keine andere Regierung als der Sowjet der
Arbeiterdeputierten, der Soldaten und der armen Bauern!« In der Koalition der
Sozialisten mit der liberalen Bourgeoisie, das heißt in der »Volksfront« von
damals, sah Lenin nur Volksverrat. Die übliche Formel von der »revolutionären
Demokratie«, die die Arbeiter und die Kleinbürger, die Volkstümler, die
Menschewiki und die Bolschewiki in einen Topf warf, überschüttete er mit
beißendem Spott. In den versöhnlerischen Parteien, die die Sowjets
beherrschten, sah er nicht Verbündete, sondern unversöhnliche Feinde. »Dies
allein reichte in jenen Tagen aus«, bemerkt Suchanow, »um zu bewirken, daß den
Zuhörern schwindlig zu werden begann.«
Die Partei wurde von Lenin ebensosehr überrascht wie
von der Februarrevolution. All die Kriterien, die Losungen und Redewendungen,
die sich in den fünf Revolutionswochen herausgebildet hatten, waren zunichte
gemacht. »Er griff die Taktik, die die leitenden Parteigruppen und einzelne
Genossen vor seiner Ankunft befolgt hatten, scharf an«, schreibt Raskolnikow.
Das betraf in erster Linie Stalin und Kamenew. »Die verantwortlichsten
Parteiarbeiter waren anwesend. Aber auch für sie war Iljitschs Rede etwas
vollständig Neues.« Eine Diskussion fand nicht statt. Alle waren wie betäubt.
Niemand wollte sich den Schlägen dieses schrecklichen Führers aussetzen. Unter,
sich, in den Ecken, flüsterten sie, daß Iljitsch zu lange im Ausland gewesen
wäre, daß er die Verbindung mit Rußland verloren hätte, daß er die Situation
nicht überschaue, schlimmer noch, daß er auf die Position des Trotzkismus übergegangen
wäre. Stalin, gestern noch Hauptreferent auf der Parteikonferenz, hüllte sich
in Schweigen. Er erfaßte, daß er eine fürchterliche Dummheit begangen hatte,
viel folgenschwerer als die auf dem Stockholmer Parteitag, als er die
Landaufteilung propagierte, oder die vom Jahr darauf, als er für kurze Zeit
Boykottist gewesen war. Es war entschieden besser, jetzt im Schatten zu
bleiben. Niemand sorgte sich darum, was Stalin über die Sache dachte. Niemand
erinnerte sich später in seinen Memoiren daran, was Stalin in den folgenden
Wochen tat.
Lenin blieb
inzwischen nicht müßig: er beobachtete die Lage mit scharfen Augen, marterte
seine Freunde mit Fragen, forschte die Arbeiter aus. Schon einen Tag nach
seiner Rede legte er der Partei eine kurze Zusammenfassung seiner
Gesichtspunkte vor. Sie wurde unter der Bezeichnung »Thesen vom Vierten April«
das bedeutendste Dokument der Revolution. Lenin wagte nicht nur die Liberalen
»zu erschrecken«, sondern auch die Mitglieder des bolschewistischen
Zentralkomitees. Er spielte mit den anmaßenden Leitern der Sowjetparteien nicht
Versteck, sondern deckte die Logik des Klassenkampfes auf. Nachdem er die
schüchterne und ohnmächtige Formel »in dem Maße, wie ...« ausgeschaltet hatte,
zeigte er der Partei die Aufgabe, die vor ihr stand: die Macht zu erobern. Aber
zuerst und vor allem war es nötig festzustellen, wer der Feind ist. Die
monarchistischen »Schwarzen Hundert«, die sich in die Winkel verkrochen hatten,
waren bedeutungslos. Der Generalstab der bürgerlichen Konterrevolution war das
Zentralkomitee der Kadettenpartei und die von diesem inspirierte
Provisorische Regierung. Letztere aber hält sich nur dank den
Sozialrevolutionären und den Menschewiki, die sich ihrerseits auf die
Leichtgläubigkeit der Massen stützen. Unter diesen Umständen konnte keine Rede
davon sein, revolutionäre Gewalt anzuwenden. Zuerst mußten die Massen gewonnen
werden. Anstatt sich mit den Volkstümlern und Menschewiki zu vereinigen und zu
verbrüdern, mußte man sie vor den Arbeitern, Soldaten und Bauern als Agenten
der Bourgeoisie bloßstellen. »Die wirkliche Regierung ist der Sowjet der
Arbeiterdeputierten ... Unsere Partei befindet sich im Sowjet in der Minderheit
... Da ist nichts zu machen! Wir müssen sie aufklären – geduldig, beharrlich,
systematisch aufklären – über den Irrtum ihrer Taktik. Solange wir in der
Minderheit sind, besteht unsere Arbeit in der Kritik, um die Massen
aufzuklären.« Alles war einfach und verständlich an diesem Programm, und jeder
Nagel war auf dem richtigen Fleck eingeschlagen. Die »Thesen« trugen nur eine
Unterschrift: »Lenin«. Weder das Zentralkomitee noch die »Prawda«-Redaktion
wollten dieses explosive Dokument gegenzeichnen.
Am selben 4.
April erschien Lenin auf der Parteikonferenz, auf der Stalin seine Theorie von
der friedlichen Arbeitsteilung zwischen der Provisorischen Regierung und den
Sowjets dargelegt hatte. Welch grausamer Kontrast! Um ihn abzuschwächen, nahm
Lenin gegen seine Gewohnheit keine Analyse der schon angenommenen Resolutionen
vor, sondern drehte ihnen einfach den Rücken. Er hob die Konferenz auf ein
höheres Niveau. Er zwang sie, alles in einer neuen Perspektive zu sehen, einer
Perspektive, von der die behelfsmäßigen Führer überhaupt nichts geahnt hatten.
»Warum hat man nicht die Macht übernommen?«, fragte der neue Hauptredner und
zählte die üblichen Erklärungen auf: die Revolution sei bürgerlich, sie befinde
sich noch in ihrer ersten Etappe, der Krieg schaffe besondere Schwierigkeiten
usw. »Das ist alles Unsinn. Tatsache ist, daß das Proletariat sich seiner Aufgabe
nicht bewußt genug und nicht genügend organisiert ist. Das muß eingesehen
werden. Die materielle Kraft ist in den Händen des Proletariats, aber die
Bourgeoisie ist aufmerksam und vorbereitet.« Aus der Sphäre der
Pseudo-Objektivität heraus, in der Stalin, Kamenew und andere den Aufgaben der
Revolution auszuweichen versuchten, trug Lenin das Problem in die Sphäre des
Bewußtseins und der Aktion. Das Proletariat hat im Februar die Macht nicht
übernommen, nicht, weil die Soziologie das verbot, sondern
weil es sich von den Kompromißlern im Interesse der Bourgeoisie täuschen lassen
hat – und das ist alles! »Selbst unsere Bolschewiki«, fuhr er fort, ohne noch
jemand namentlich zu nennen, »schenken der Regierung Vertrauen. Das kann man
nur mit dem Rausch erklären, den die Revolution erzeugt hat. Das ist der Ruin
des Sozialismus ... Wenn es so ist, dann gehen wir nicht denselben Weg. Lieber
will ich in der Minderheit bleiben ...« Stalin und Kamenew konnten unschwer
feststellen, daß es sich um sie handelte. Die ganze Konferenz verstand, um wen
es ging. Die Delegierten wußten, daß Lenin nicht spaßte, wenn er mit der
Spaltung drohte. Wie weit war das alles von »in dem Maße, wie ...« und
überhaupt von der alltäglichen Politik der voraufgegangenen Tage entfernt!
In der
Kriegsfrage wurde die Achse mit nicht weniger Entschiedenheit verlagert.
Nikolaus Romanow ist gestürzt. Die Provisorische Regierung hat halb und halb
die Republik versprochen. Hat sich dadurch der Charakter des Krieges verändert?
In Frankreich gibt es seit langem eine Republik, und zwar nicht zum ersten
Male; der Krieg, den dieses Land führt, ist nichtsdestoweniger ein
imperialistischer Krieg. Der Charakter des Krieges wird von dem Charakter der
herrschenden Klasse bestimmt. »Wenn die Massen erklären, daß sie keine
Eroberungen wollen, dann glaube ich ihnen. Wenn Gutschkow und Lwow sagen, daß
sie keine Eroberungen wollen, dann lügen sie.« Dieses einfache Kriterium ist
tief wissenschaftlich und zugleich jedem Soldaten in den Schützengräben
zugänglich. Dann führte Lenin einen Streich gegen die »Prawda«, die er bei
ihrem Namen nannte: »Von der Regierung der Kapitalisten verlangen, daß sie auf
Annexionen verzichte, das ist Unsinn, das sind schlechte Scherze ...« Diese
Worte waren direkt auf Stalin gemünzt. »Den Krieg durch einen Frieden beenden,
der nicht auf Gewalt beruht, das ist unmöglich, ohne das Kapital zu stürzen!«
Die Kompromißler aber unterstützen das Kapital und die »Prawda« unterstützt die
Kompromißler. »Der Aufruf des Sowjets enthält nicht ein Wort, das von
Klassenbewußtsein durchdrungen wäre. Nichts als Phrasen!« Es handelt sich um
denselben Aufruf, den Stalin als eine Stimme des Internationalismus begrüßt
hatte. »Solange noch die alten Bündnisse bestehen, die alten Verträge, die
alten Kriegsziele, solange sind die pazifistischen Phrasen nur ein Mittel, um
die Massen zu täuschen. Wodurch sich Rußland auszeichnet,
das ist der außerordentlich geschwinde Übergang von wilder Gewalt zu feinster
Täuschung.« Drei Tage vorher hatte sich Stalin zur Vereinigung mit der Partei
Tseretellis bereiterklärt. »Ich höre«, sagte Lenin, »daß es in Rußland eine
Vereinheitlichungstendenz gibt; die Vereinigung mit den Verteidigern ist Verrat
am Sozialismus. Ich glaube, daß es besser ist, allein zu bleiben wie
Liebknecht. Einer gegen Hundertzehn!« Es ist sogar nicht länger möglich,
denselben Namen zu tragen wie die Menschewiki, den Namen »Sozialdemokraten«.
»Mein persönlicher Vorschlag ist, den Namen der Partei zu ändern und sie
Kommunistische Partei zu nennen.« Nicht ein einziger Konferenzteilnehmer,
selbst nicht der mit Lenin zusammen angelangte Sinowjew, unterstützte diesen
Vorschlag, der ein frevelhafter Bruch mit der eigenen Vergangenheit zu sein
schien.
Die
»Prawda«, die weiterhin von Kamenew und Stalin geleitet wurde, erklärte, daß
die Thesen Lenins seine persönliche Meinung wären, daß das Büro des
Zentralkomitees diese Meinung nicht teile und daß die »Prawda« an ihrer alten
Politik festhalte. Die Erklärung war von Kamenew geschrieben. Stalin schwieg.
Er sollte jetzt für lange Zeit schweigen müssen. Lenins Ideen schienen ihm die
Phantasmagorien eines Emigranten zu sein, aber er wartete ab, wie der
Parteiapparat reagieren würde. »Man muß offen zugeben«, schrieb später der
Bolschewik Angarski, der dieselbe Entwicklung wie die andern durchmachte, »daß
eine große Anzahl von alten Bolschewiki ... in der Frage des Charakters der
Revolution von 1917 die alten bolschewistischen Konzeptionen von 1905
beibehielt und daß es nicht leicht war, diese Konzeptionen als überholt
anzuerkennen und sich von ihnen loszumachen.« In Wirklichkeit handelte es sich
nicht um »eine große Anzahl von alten Bolschewiki«, sondern um alle ohne
Ausnahme. Auf der Märzkonferenz, auf der die Kader der Partei des ganzen Landes
versammelt gewesen waren, hatte sich nicht eine einzige Stimme zugunsten des
Kampfes für die Sowjetmacht erhoben. Alle mußten sich umstellen. Von den
sechzehn Mitgliedern des Petrograder Komitees bekannten sich nur zwei zu den
Thesen, und auch sie nicht sogleich. »Viele Genossen gaben vor«, berichtet
Tsichon, »daß Lenin den Kontakt mit Rußland verloren habe, daß er die
gegenwärtigen Bedingungen nicht in Betracht zöge usf.« Ein Bolschewik aus der
Provinz, Lebedew, erzählt, wie Lenins Tätigkeit von den Bolschewiki anfänglich
verurteilt wurde: »sie stellte sich als utopisch heraus und erklärte sich durch die lange Trennung vom russischen Leben.« Einer der
Einflüsterer dieses Urteils war zweifellos Stalin, der immer schon die
»Ausländer« von oben herab behandelt hatte. Einige Jahre später erinnerte sich
Raskolnikow des folgenden: »Wladimir Iljitschs Ankunft rief eine völlige
Umstellung in der Taktik unserer Partei hervor. Offen gestanden, herrschte vor
seiner Ankunft ziemlich große Verwirrung in der Partei ... Die Aufgabe der
Machtergreifung war als ein fernes Ideal dargestellt worden ... Es wurde als
ausreichend betrachtet, die Provisorische Regierung mit diesen oder jenen
Einschränkungen zu unterstützen ... Die Partei verfügte über keinen Führer, der
genügend Autorität besessen hätte, sie zu einem Block zusammenzuschweißen und
sie hinter sich her zu führen.« Im Jahre 1922 konnte es Raskolnikow nicht in
den Sinn kommen, in Stalin einen »Führer mit genügender Autorität« zu sehen.
»Unsere Führer«, schreibt ein Arbeiter aus dem Ural, Markow, den die Revolution
an der Drehbank angetroffen hatte, »tappten vor der Ankunft Wladimir Iljitschs
im Finstern ... die Stellung unserer Partei klärte sich mit dem Erscheinen
seiner berühmten Thesen.« »Erinnert euch daran, welche Aufnahme die Aprilthesen
Wladimir Iljitschs fanden«, sagte Bucharin kurze Zeit nach Lenins Tod, »als ein
Teil unserer eigenen Organisation sie als nichts anderes denn einen Verrat an
der allgemein anerkannten marxistischen Ideologie betrachtete.« Dieser »Teil
unserer eigenen Organisation« – das war ausnahmslos ihre ganze führende Schicht
gewesen. »Mit Lenins Ankunft in Rußland 1917«, schrieb Molotow im Jahre 1924,
»fühlte unsere Partei festen Boden unter ihren Füßen ... Vor diesem Augenblick
suchte die Partei tastend ihren Weg, schwächlich und unentschieden ... Es
fehlte der Partei an der Klarheit und Entschlossenheit, die die revolutionären
Umstände erforderten ...« Vor allen anderen und am genauesten und klarsten hat
Ludmilla Stahl den Umschwung beschrieben: »Vor Lenins Ankunft irrten alle Genossen
in der Finsternis«, schreibt sie am 14. April 1917, im Augenblick der
schwersten Krise in der Partei. »Wir sahen die schöpferische Initiative des
Volkes, aber wir wußten sie nicht in Rechnung zu stellen ... Unsere Genossen
beschränkten sich auf die Vorbereitungen für die Konstituante mit Hilfe
parlamentarischer Methoden und faßten nicht einmal die Möglichkeit ins Auge,
weiter zu gehen. Indem wir Lenins Losungen übernehmen, werden wir das tun, was
das Leben selbst von uns zu tun verlangt.«
Für Stalins persönliches Prestige war der
Aprilumschwung in der Partei ein harter Schlag. Er war aus Sibirien mit der
Autorität des alten Bolschewiken zurückgekommen, mit dem Titel eines Mitglieds
des Zentralkomitees, mit der Unterstützung Kamenews und Muranows. Auch er hatte
mit einer »Umstellung« eigener Fabrikation begonnen, indem er die Politik der
örtlichen Leiter als zu radikal abgelehnt und sich mit einer Artikelserie in
der »Prawda«, einer Konferenzrede und seiner Zustimmung zur Krasnojarsker
Resolution bloßgestellt hatte. Mitten in dieser Aktivität, die ihrer ganzen Art
nach die eines Leiters war, erschien Lenin. Er kam auf die Konferenz wie ein
Schulinspektor in die Klasse und, nachdem er einige Sätze aufgefangen hatte,
drehte er dem Lehrer den Rücken zu und wischte dessen hinfälliges Gekritzel mit
dem nassen Schwamm von der Tafel. Das Gefühl der Verblüffung und Empörung, das
zuerst unter den Delegierten vorherrschte, schlug in Bewunderung um. Stalin
empfand keine Bewunderung; er fühlte sich tief verletzt, verspürte nur
Hilflosigkeit und scheelen Neid. Er war vor der ganzen Partei viel härter
gedemütigt worden als nach der unglückseligen Periode, in der er die »Prawda«
geleitet hatte, auf der Krakauer Konferenz mit ihrer beschränkten
Teilnehmerzahl. Den Kampf aufzunehmen, wäre unnütz gewesen: auch er sah jetzt
neue Horizonte, deren Existenz er gestern noch nicht geahnt hatte. Da blieb
nur, die Zähne zusammenzubeißen und zu schweigen. Die Erinnerung an die von
Lenin im April 1917 bewerkstelligte Umwälzung drang für immer in sein
Bewußtsein und stak darin wie ein brennender Pfahl im Fleisch. Er bemächtigte
sich später aller Protokolle der Märzkonferenz und versuchte, sie vor der
Partei und der Geschichte zu verbergen. Doch das allein genügte nicht. In den
Bibliotheken blieben noch die Sammelbände der »Prawda« von 1917. Manche Nummern
der »Prawda« wurden sogar auch noch in einem Sammelwerk nachgedruckt – und
Stalins Artikel sprachen für sich selbst. In den ersten Jahren der Revolution
erschienen in den historischen Zeitschriften und den Jubiläumsnummern der
Zeitungen zahlreiche Erinnerungen an die Aprilkrise. All das mußte nach und
nach aus dem Verkehr gezogen, gefälscht, ersetzt werden. Sogar der Ausdruck
»Umrüstung« der Partei, den ich im Jahre 1922 gelegentlich verwandte, wurde
später ein Gegenstand immer heftigerer Attacken Stalins und seiner
Geschichtsschreiber.
Gewiß, 1924 schien es auch Stalin noch klüger, bei
aller Nachsicht gegen sich selbst den Irrtum seiner Stellungnahme am Anfang der
Revolution zuzugeben. »Die Partei«, so schrieb er, »hatte eine Politik
akzeptiert, nach der die Sowjets auf die Provisorische Regierung in der
Friedensfrage einen Druck ausüben sollten, und sie entschied sich nicht mit
einem Schlage, einen Schritt vorwärts zu machen ... bis es zu der neuen Losung
von der Sowjetmacht kam. Das war eine ganz irrtümliche Position, denn sie
verbreitete pazifistische Illusionen, trug Wasser auf die Mühle der Verteidiger
und behinderte die revolutionäre Erziehung der Massen. Diese irrtümliche
Einstellung teilte ich mit anderen Genossen der Partei und sagte mich erst
Mitte April vollständig davon los, als ich die Thesen Lenins annahm.« Dieses
öffentliche Eingeständnis, das als notwendige Rückendeckung in dem damals
beginnenden Kampfe gegen den Trotzkismus dienen sollte, stellte sich schon zwei
Jahre später als allzu belastend heraus. Im Jahre 1926 leugnete Stalin
kategorisch den opportunistischen Charakter seiner Politik vom März 1917: »Das
ist nicht wahr, Genossen, das ist Geschwätz!« Und er gab lediglich »gewisse
Schwankungen« zu: »Aber wer unter uns hat nicht mal vorübergehend geschwankt?«
Vier Jahre später wurde Jaroslawsky, der als Historiker die Tatsache erwähnt
hatte, daß Stalin am Anfang der Revolution eine »irrtümliche Stellungnahme«
bezogen hatte, von allen Seiten her angegriffen. Es war nun nicht mehr erlaubt,
auch nur die »vorübergehenden Schwankungen« zu erwähnen, denn das Prestige ist
ein gefräßiges Untier. Schließlich und endlich schreibt sich Stalin in der von
ihm selbst veröffentlichten »Geschichte« der Partei Lenins Position zu und
überläßt seine eigenen damaligen Auffassungen seinen Feinden. »Kamenew und
gewisse Parteiarbeiter der Moskauer Organisation, wie zum Beispiel Rykow,
Bubnow und Nogin«, proklamiert diese seltsame Geschichte, »nahmen die
halbmenschewistische Position der bedingten Unterstützung der Provisorischen
Regierung und der Verteidigungspolitik ein. Stalin, der aus der Verbannung
zurückkehrte, Molotow und andere verteidigten mit der Mehrheit der Partei die
Politik, die darin bestand, der Provisorischen Regierung nicht das Vertrauen
auszusprechen; sie intervenierten gegen die Verteidigungspolitik« usw. ... So
wurde mit gradueller Veränderung der Fakten in eine Fiktion Schwarz in Weiß
verwandelt. Dieser Methode, die Kamenew »Dosierung der Lüge« nannte, begegnen
wir im ganzen Leben Stalins wieder; sie fand ihren höchsten
Ausdruck in den Moskauer Prozessen, in denen sie aber auch in sich selbst
zusammenstürzte.
Mit der
Analyse der grundlegenden Ideen der beiden Fraktionen der Sozialdemokratie im
Jahre 1909 beschäftigt, schrieb der Verfasser des vorliegenden Buches: »Die
antirevolutionären Aspekte des Menschewismus sind schon jetzt in ihrer ganzen
Stärke offensichtlich, die antirevolutionären Züge des Bolschewismus drohen,
eine furchtbare Gefahr erst nach dem revolutionären Siege zu werden.« Nach dem
Sturz des Zarismus, im März 1917, brachten die alten Kader der Partei diese
antirevolutionären Züge des Bolschewismus extrem zum Ausdruck: selbst die
Demarkationslinie zwischen Bolschewismus und Menschewismus schien ausgelöscht.
Eine radikale Umrüstung der Partei war notwendig geworden, die Lenin, der
einzige, der dieser Sache gewachsen war, im Laufe des Monats April vornahm.
Stalin trat offenbar kein einziges Mal öffentlich gegen Lenin auf, aber auch
nicht für ihn. Lautlos wandte er sich von Kamenew ab, so wie er zehn Jahre
zuvor von den Boykottisten desertiert war, so wie er auf der Krakauer Konferenz
schweigend die Versöhnler ihrem Schicksal überlassen hatte. Es gehörte nicht zu
seinen Gewohnheiten, eine Auffassung zu verteidigen, die keinen unmittelbaren
Erfolg versprach. Vom 14. bis 22. April wurde eine Konferenz der Petrograder
Parteiorganisation abgehalten. Lenins Einfluß war schon vorherrschend, doch gab
es noch scharfe Diskussionen. Unter den Teilnehmern begegnen wir Sinowjew,
Kamenew, Tomski, Molotow und anderen bekannten Bolschewiki. Stalin zeigte sich
überhaupt nicht. Offensichtlich wollte er für eine Weile vergessen werden.
Am 24. April
wurde in Petrograd die Konferenz der bolschewistischen Partei von ganz Rußland
eröffnet. Sie war dazu bestimmt, endgültig mit allen Überbleibseln der
Märzkonferenz aufzuräumen. Ungefähr 150 Delegierte vertraten 79 000
Parteimitglieder, wovon 15 000 in der Hauptstadt lebten. Das waren keine
schlechten Ziffern für eine eben aus der Illegalität aufgetauchte
antipatriotische Partei. Lenins Sieg zeigte sich schon bei der Wahl der fünf
Mitglieder des Präsidiums, in das weder Kamenew noch Stalin, die die
Verantwortung für die opportunistische Märzpolitik trugen, gewählt wurden.
Kamenew hatte wenigstens die Courage zu verlangen, daß er ein Gegenreferat
halten dürfe. »Angesichts der Tatsache, daß der klassische Überrest des
Feudalismus, der Großgrundbesitz, der Form und dem Inhalt
nach noch nicht liquidiert worden ist ... ist es verfrüht zu sagen, daß die
bürgerliche Demokratie alle ihre Möglichkeiten erschöpft habe.« Das war die
grundlegende Auffassung Kamenews und seiner Anhänger Rykow, Nogin,
Dzerschinsky, Angarski und anderer. »Der Impuls für die sozialistische
Revolution«, sagte Rykow, »muß vom Westen ausgehen.« »Die demokratische
Revolution ist nicht vollendet«: darauf bestanden die Oppositionsredner, die
Kamenew unterstützten. Das war richtig. Aber die Mission der Provisorischen
Regierung war keineswegs, die Revolution zu vollenden, sondern vielmehr ihren
Lauf zurückzulenken. Daraus folgte, daß die bürgerliche Revolution nur unter
der Herrschaft der Arbeiterklasse vollendet werden konnte. Die Diskussion nahm
einen lebhaften Charakter an, blieb aber friedlich; im Grunde war die
Entscheidung schon gefallen, und Lenin tat alles, um seinen Gegnern den Rückzug
zu erleichtern.
Stalin nahm
an den Debatten mit einer kurzen Erwiderung an seine gestrigen Verbündeten
teil. Wenn wir nicht zum unmittelbaren Sturz der Provisorischen Regierung
aufrufen, hatte Kamenew in seinem Korreferat gesagt, dann müssen wir die
Kontrolle verlangen, sonst werden uns die Massen nicht verstehen. Lenin
entgegnete, daß die »Kontrolle« des Proletariats über die bürgerliche Regierung
unter den gegenwärtigen revolutionären Bedingungen entweder rein fiktiven
Charakters sei oder aber auf eine Zusammenarbeit hinauslaufe. Stalin hielt den
Augenblick für gekommen zu erklären, daß er mit Kamenew nicht übereinstimme. Um
seinem Stellungswechsel den Anschein guter Begründung zu verleihen, bediente er
sich einer Note Miljukows, des Ministers des Auswärtigen, vom 19. April, deren
ungeschminkter äußerster Imperialismus die Soldaten buchstäblich auf die Straße
getrieben und eine Regierungskrise hervorgerufen hatte. Die leninistische
Auffassung von der Revolution ging von den Beziehungen der Klassen zueinander
aus und nicht von irgendwelchen einzelnen diplomatischen Noten, die sich
äußerst wenig von anderen Regierungshandlungen unterschieden. Aber allgemeine Ideen
interessierten Stalin nicht. Was er brauchte, war eine Gelegenheit, die ihm
erlaubte, seinen Stellungswechsel mit möglichst wenig Schaden für seine
Eigenliebe vorzunehmen. Er »dosierte« seinen Rückzug. In der ersten Periode der
Revolution war es, wie er sich ausdrückte, »der Sowjet, der das Programm
vorschrieb, aber jetzt ist es die Provisorische Regierung, die das Programm vorschreibt«. Nach Miljukows Note »geht die Regierung
zur Offensive gegen den Sowjet über, der Sowjet weicht zurück. Danach noch von
Kontrolle zu reden, heißt ins Blaue hinein reden«. Das alles klang künstlich
und falsch. Aber das unmittelbare Ziel war erreicht: es war ihm gelungen, sich
beizeiten von der Opposition abzugrenzen, die bei den Wahlen nur sieben Stimmen
auf sich vereinigen konnte.
In seinem
Bericht über die Frage der nationalen Minderheiten tat er, was er konnte, um
eine Brücke zwischen seiner Rede vom März, die die Quelle der nationalen
Unterdrückung ausschließlich in der Grundaristokratie gesehen hatte, und der
neuen Stellungnahme der Partei zu schlagen, die er zu der seinigen gemacht
hatte. »Die nationale Unterdrückung«, sagte er, indem er ohne es einzugestehen
gegen sich selbst polemisierte, »wird nicht nur durch den Großgrundbesitz
aufrechterhalten, sondern auch durch andere Kräfte, nämlich die
imperialistischen Gruppierungen, die die Methoden der nationalen Unterdrückung,
die sie in den Kolonien angewendet haben, in das Innere ihres eigenen Landes
übertragen.« Außerdem folgen der Großbourgeoisie »das Kleinbürgertum, ein Teil
der Intelligenz, ein Teil der Arbeiteraristokratie, die ebenfalls von der Beute
zehren«. Das ist das Thema, das Lenin während der Kriegsjahre beständig
entwickelt hatte. »So bildet sich«, fährt der Redner fort, »ein ganzer Chor
sozialer Kräfte, der die nationale Unterdrückung unterstützt.« Um mit der
Unterdrückung Schluß zu machen, »muß dieser Chor von der politischen Bühne
beseitigt werden«. Indem sie die imperialistische Bourgeoisie an die Macht
gebracht hatte, hatte die Februarrevolution noch keinesfalls die Bedingungen
für die nationale Freiheit geschaffen. So stemmte sich zum Beispiel die
Provisorische Regierung mit aller Kraft gegen die Ausdehnung der Autonomie auf
Finnland. »Auf welche Seite müssen wir uns stellen? Natürlich auf die Seite des
finnischen Volkes.« Der Ukrainer Pjatakow und der Pole Dzerschinsky traten
gegen das Programm der nationalen Selbstbestimmung auf, das sie für utopisch
und reaktionär erklärten. »Wir müssen nicht die nationale Frage herausstellen«,
sagte naiverweise Dzerschinsky, »das schiebt den Augenblick der sozialen
Revolution hinaus. Deshalb würde ich vorschlagen, die Resolution über die
Unabhängigkeit Polens zurückzuziehen.« »Insoweit die Sozialdemokratie«,
antwortete Stalin, »an ihrer Orientierung auf die sozialistische Revolution
festhält, muß sie die gegen den Imperialismus gerichtete revolutionäre
Bewegung der Völker unterstützen.« Hier erwähnt Stalin zum erstenmal in seinem
Leben die »Orientierung auf die sozialistische Revolution«. Das Blatt des
Julianischen Kalenders trägt das Datum des 29. April 1917.
Nachdem sich
die Konferenz die Befugnisse eines Parteitags zuerkannt hatte, wählte sie ein
neues Zentralkomitee, in das Lenin, Sinowjew, Kamenew, Miljutin, Nogin,
Swerdlow, Smilga, Stalin, Fedorow und als Stellvertreter Theodorowitsch,
Bubnow, Glebow-Awilow und Prawdin eintraten. Von 133 Delegierten mit
beschließender Stimme nahmen aus irgendeinem Grunde nur 109 an der geheimen
Abstimmung teil – vielleicht war ein Teil der Delegierten schon abgefahren.
Lenin erhielt 104 Stimmen (gehörte Stalin zu den fünf Delegierten, die Lenin
ihre Stimme verweigerten?), Sinowjew 101, Stalin 97, Kamenew 95. Zum erstenmal
war Stalin von einer normalen Parteiversammlung ins Zentralkomitee gewählt
worden. Er ging auf sein achtunddreißigstes Lebensjahr zu. Rykow, Sinowjew und
Kamenew waren dreiundzwanzig oder vierundzwanzig Jahre alt, als sie zum
erstenmal in den bolschewistischen Generalstab gewählt wurden.
Auf der
Konferenz wurde der Versuch gemacht, Swerdlow nicht mit ins Zentralkomitee
aufzunehmen. Nach dem Tode des ersten Präsidenten der Sowjetrepublik sprach
Lenin über diesen Zwischenfall und sagte, daß er da einen schreienden Irrtum
begangen habe. »Glücklicherweise sind wir von unten korrigiert worden.« Lenin
selbst hatte wohl kaum einen Grund, sich Swerdlows Kandidatur zu widersetzen,
den er von der Korrespondenz her, die er mit ihm geführt hatte, als einen
unermüdlichen Berufsrevolutionär kannte. Höchstwahrscheinlich ging der
Widerstand von Stalin aus, der nicht vergessen hatte, daß Swerdlow nach ihm in
Petersburg den Kampf für die Reorganisierung der »Prawda« durchgefochten hatte;
das gemeinschaftliche Leben in Kureika hatte seine feindseligen Gefühle gegen
Swerdlow nur noch verstärkt. Stalin vergab nie. Auf der Konferenz versuchte er
anscheinend, Rache zu nehmen, wobei er sich Lenins Unterstützung zu sichern
wußte – auf welche Weise, darüber sind wir auf Hypothesen angewiesen. Sein
Versuch schlug aber fehl. Wenn Lenin im Jahre 1912 auf den Widerstand der
Delegierten stieß, als er Stalin ins Zentralkomitee hineinbringen wollte, so
begegnete er jetzt nicht geringerem Widerstand bei dem Versuch, Swerdlow
draußen zu lassen. Von allen Mitgliedern dieses auf der Aprilkonferenz
gewählten Zentralkomitees ist es nur Lenin und Swerdlow
gelungen, beizeiten eines natürlichen Todes zu sterben. Mit Ausnahme natürlich
von Stalin selbst fielen alle anderen, auch die vier Stellvertreter, in Ungnade
und wurden entweder offiziell erschossen oder verschwanden auf geheimnisvolle
Weise von der Bildfläche.
Ohne Lenin
wußte sich niemand in einer neuen Situation zurechtzufinden, alle blieben
Gefangene der alten Formeln. Sich jetzt aber noch auf die Losung von der
demokratischen Diktatur beschränken, hieß, wie Lenin schrieb, »in der Tat zum
Kleinbürgertum übergehen«. Was Stalin den anderen voraus hatte, war zweifellos
die Tatsache, daß er vor diesem Übergang nicht zurückschreckte und sich auf
eine Annäherung an die Versöhnler und eine Vereinigung mit den Menschewiki
orientierte. Er war keineswegs vom Respekt vor alten Formeln geleitet.
Ideenfetischismus war ihm fremd: deshalb konnte er ohne die geringsten
Gewissensbisse die seit langem als gültig anerkannte Theorie von der
konterrevolutionären Rolle der russischen Bourgeoisie fallen lassen. Wie immer
ging er empirisch vor, unter dem Einfluß seines organischen Opportunismus, der
ihn stets auf die Linie des geringsten Widerstandes trieb. Aber er war nicht
allein gewesen; in den drei Wochen vor Lenins Ankunft hatte er den heimlichen
Überzeugungen so gut wie aller »alten Bolschewiki« Ausdruck gegeben.
Vergessen
wir nicht, daß der bolschewistische Parteiapparat von der Intelligenz
beherrscht wurde, kleinbürgerlich ihren sozialen Ursprüngen und ihrer
Lebensweise, marxistisch ihren Ideen und ihrer Bindung an das Proletariat nach.
Die Arbeiter, die Berufsrevolutionäre wurden, traten mit Eifer in dieses Milieu
ein und unterschieden sich bald nicht mehr von ihm. Die besondere soziale
Zusammensetzung des Apparats und seine Autorität über das Proletariat (die eine
wie die andere waren keine Zufallsprodukte, sondern entsprachen einer eisernen
historischen Notwendigkeit) wurden öfter als einmal zur Ursache von
Schwankungen der Partei und schließlich zur Quelle ihres Niedergangs. Die
marxistische Doktrin, auf die sich die Partei stützte, drückte die
geschichtlichen Interessen des Proletariats in seiner Gesamtheit aus; aber die
Menschen, aus denen sich der Apparat zusammensetzte, assimilierten immer nur
die ihrer eigenen persönlichen, also beschränkten Erfahrung entsprechenden Teile
dieser Doktrin. Oft genug, wie Lenin klagte, eigneten sie sich nur die fertigen
Formeln an und schlossen die Augen vor dem Wechsel in der
Situation. In der Mehrzahl der Fälle fehlte ihnen sowohl das Verständnis für
den historischen Prozeß wie die tägliche unmittelbare Verbindung mit den
Arbeitermassen. Infolgedessen blieben sie dem Einfluß anderer Klassen
unterworfen. Während des Krieges wurden die Spitzen der Partei in erheblichem
Ausmaß von der Atmosphäre der Versöhnung ergriffen, die von den bürgerlichen
Kreisen ausging – zum Unterschied von den einfachen bolschewistischen
Arbeitern, die der patriotischen Welle viel besser standhielten.
Die
Revolution eröffnete der Demokratie ein weites Betätigungsfeld und gewährte den
»Berufsrevolutionären« aller Parteien unendlich mehr Befriedigung als den
Soldaten in den Schützengräben, den Bauern in ihren Dörfern, den Arbeitern in
den Rüstungsbetrieben. Die obskuren Illegalen von gestern wurden plötzlich
führende politische Figuren. An Stelle der Parlamente hatten sie die Sowjets,
in denen sie ungehindert diskutieren und ihre Entscheidungen treffen konnten.
In ihren Augen schmolzen die Klassengegensätze, die die Revolution
hervorgerufen hatten, unter den Strahlen der demokratischen Sonne. Das Resultat
war, daß sich Bolschewiki und Menschewiki fast überall im Lande vereinigten und
daß dort, wo sie, wie in Petersburg, getrennt blieben, eine Tendenz für die
Vereinigung in beiden Organisationen starken Widerhall fand. Unterdes nahm der
chronische Antagonismus in den Schützengräben, in Dörfern und Fabriken einen
immer zugespitzteren und heftigeren Charakter an, was nicht die Einheit,
sondern den Bürgerkrieg voraussehen ließ. Die in Bewegung geratenen Klassen
gerieten mit den Interessen der Parteiapparate wie so oft in scharfen
Widerspruch. Selbst die Kader der bolschewistischen Partei, die eine ganz
außergewöhnliche revolutionäre Schule durchgemacht hatten, zeigten am Tage nach
der Überwindung der Monarchie offen die Tendenz, sich von der Masse abzusondern
und das Sonderinteresse des Apparats mit den Interessen der Arbeiterklasse zu
identifizieren. Auf was mußte man sich gefaßt machen, wenn diese Kader zur
allmächtigen Staatsbürokratie würden? Es ist unwahrscheinlich, daß diese
Materie Stalins Gedanken beschäftigte. Er war Fleisch vom Fleische des Apparats
und dessen festes Rückgrat.
Doch worin
bestand das Wunder, das es Lenin ermöglichte, die Partei in ein paar Wochen in
eine neue Bahn zu lenken? Die Antwort darauf muß in zwei Richtungen zugleich
gesucht werden: in den persönlichen Qualitäten Lenins und
in der objektiven Situation. Lenin war stark, nicht nur weil er die Gesetze des
Klassenkampfes verstand, sondern auch deshalb, weil er den in lebendigster
Bewegung befindlichen Massen ständig sein Ohr zu leihen wußte. Er repräsentierte
nicht so sehr den Parteiapparat als vielmehr die Vorhut des Proletariats. Er
war entschieden davon überzeugt, daß sich in der Schicht der Arbeiterklasse,
die die illegale Partei unterstützt hatte. Tausende von Arbeitern fänden, die
ihn, Lenin, unterstützen würden. Die Massen waren jetzt in höherem Maße
revolutionär als die Partei, und die Partei war revolutionärer als der Apparat.
Schon im März war die wirkliche Einstellung der Arbeiter und Soldaten in
zahlreichen Fällen stürmisch zum Durchbruch gekommen, und sie stand in
schreiendem Widerspruch zu den Instruktionen, die von den Parteien, mit
Einschluß der bolschewistischen Partei, ausgingen. Lenins Autorität war nicht
absolut, aber sie war groß, denn sie stützte sich auf die ganze vergangene
Erfahrung. Andererseits war die Autorität des Apparats, wie auch dessen
Konservatismus, erst in Bildung begriffen. Lenins heftiger Angriff war nicht
seinem individuellen Temperament entsprungen, sondern aus dem Druck
hervorgegangen, den die Klasse auf die Partei und die Partei auf den Apparat
ausübte. Wer unter solchen Umständen Opposition machen wollte, fühlte bald, wie
ihm der Boden unter den Füßen wegrutschte. Die Zögernden reihten sich hinter
die Fortgeschrittensten ein, die Vorsichtigsten stießen zur Mehrheit. Auf diese
Weise gelang es Lenin unter verhältnismäßig geringen Verlusten, das Steuer der
Partei herumzuwerfen und sie für eine neue Revolution vorzubereiten.
Aber hier
taucht eine neue Schwierigkeit auf. Immer wenn die bolschewistische Leitung
allein, ohne Lenin, handeln muß, verfällt sie in Fehler, und zwar neigt sie
zumeist nach rechts. Lenin erscheint wie ein deus ex machina und zeigt
den richtigen Weg. Heißt das, daß in der bolschewistischen Partei Lenin alles
ist und die anderen nichts? Diese in demokratischen Kreisen ziemlich
weitverbreitete Anschauung ist äußerst einseitig, also falsch. Genau so könnte
man von der Wissenschaft sagen: die Mechanik ohne Newton, die Biologie ohne
Darwin waren lange Jahre hindurch nichts. Das ist richtig und falsch. Es bedurfte
der Arbeit von Tausenden einfacher Wissenschaftler, um die Tatsachen zu
sammeln, sie zu klassifizieren, das Problem zu stellen und den Boden für die
umfassenden Lösungen Newtons und Darwins vorzubereiten.
Diese Lösung ihrerseits wies Tausenden von neuen einfachen Forschern den Weg.
Das Genie schafft die Wissenschaft nicht aus sich selbst heraus, es
beschleunigt vielmehr nur den kollektiven Denkprozeß. Die bolschewistische
Partei hatte einen genialen Führer. Das war kein Zufall. Ein Revolutionär von der
Kraft und Größe Lenins konnte nur der Führer der furchtlosesten Partei sein,
einer Partei, imstande, in Gedanke und Tat bis zur letzten Konsequenz zu gehen.
Doch ist das Genie selbst eine seltene Ausnahme. Der geniale Führer orientiert
sich schneller, dringt tiefer in die Situation ein, sieht weiter. Aber zwischen
dem genialen Führer und seinen nächsten Mitarbeitern lag unvermeidlicherweise
eine tiefe Kluft. Es mag zugegeben werden, daß Lenins Geisteskraft die
selbständige Entwicklung seiner Mitarbeiter bis zu einem gewissen Grade hemmte.
Das heißt aber nicht, daß Lenin »alles« und die Partei »nichts« war. Ohne die
Partei wäre Lenin ohnmächtig gewesen, wie Newton und Darwin ohne die kollektive
wissenschaftliche Betätigung ohnmächtig gewesen wären. Die Konsequenz daraus
ist, daß es sich hier nicht um Sünden des Bolschewismus an sich handelt,
angeblich durch die Zentralisierung, die Disziplin und dergleichen verschuldet,
sondern um das Problem der Rolle des Genies im geschichtlichen Prozeß.
Schriftsteller, die versuchen, den Bolschewismus herunterzumachen, weil die
bolschewistische Partei das Glück hatte, einen genialen Führer zu finden,
zeigen nur ihre intellektuelle Vulgarität.
Ohne Lenin
hätte die bolschewistische Leitung ihren Weg nur nach und nach gefunden, um den
Preis innerer Kämpfe und Zusammenstöße. Der Klassenkonflikt hätte weiter
gewirkt und die inadäquaten Losungen der »alten Bolschewiki« diskreditiert und
ausgeschaltet. Stalin, Kamenew und andere zweitrangige Figuren hätten entweder
den in der proletarischen Vorhut vorherrschenden Strömungen ihren
entsprechenden Ausdruck verleihen oder einfach auf die andere Seite der
Barrikade übergehen müssen. Vergessen wir nicht, daß Schljapnikow, Salutzki und
Molotow vom Beginn der Revolution an einen linkeren Kurs einzuschlagen
versuchten.
Das heißt
aber nicht, daß der richtige Weg auf alle Fälle gefunden worden wäre. Der
Faktor Zeit spielt in der Politik, vor allem während einer Revolution, eine
entscheidende Rolle. Der Klassenkampf läßt der politischen Führung durchaus
nicht unbegrenzte Zeit, um die richtige Linie zu entdecken. Die Bedeutung eines genialen Führers liegt gerade darin, daß er die von der
Erfahrung erteilten Lektionen abkürzt und so der Partei die Möglichkeit gibt,
im gegebenen Augenblick in die Ereignisse einzugreifen. Wäre Lenin Anfang April
nicht gekommen, so hätte die Partei sicherlich nur zögernd den Weg gefunden,
den Lenin in seinen »Thesen« aufzeigte. Aber hätten dann nicht andere Führer
die Partei rechtzeitig auf die Oktober-Lösung vorbereiten können? Auf diese
Frage kategorisch zu antworten, ist nicht möglich. Eins kann mit Sicherheit
gesagt werden: in dieser Situation, die genügende Kühnheit verlangte, um dem
verknöcherten Parteiapparat lebendige Massen und Ideen gegenüberzustellen, hätte
Stalin keine schöpferische Initiative bewiesen und wäre eher Hemmschuh als
treibender Motor gewesen. Seine Stärke beginnt erst von dem Augenblick an
wirksam zu werden, wo er die Massen mit Hilfe des Parteiapparats bezwingen
kann.
Stalins
Tätigkeit im Laufe der beiden nächsten Monate läßt sich nur schwer verfolgen.
Er sah sich plötzlich in den dritten Rang versetzt. Jetzt leitete Lenin die
Redaktion der »Prawda«, und zwar in eigener Person und jeden Tag und nicht mehr
von ferne wie vor dem Krieg. Und die »Prawda« gibt den Ton an für die ganze
Partei. Auf dem Felde der Agitation herrscht Sinowjew. Ebensowenig wie früher
erscheint Stalin auf öffentlichen Versammlungen. Kamenew, mit der neuen Politik
halb versöhnt, vertritt die Partei im Zentralen Exekutivkomitee des Sowjets und
im Sowjet selbst. Stalin ist praktisch von der Bildfläche verschwunden und ward
kaum jemals im Smolny gesehen. Die Leitung der organisatorischen Arbeit ist in
Swerdlows Händen konzentriert; er stellt die Parteiarbeiter an ihre Plätze, empfängt
die aus der Provinz Kommenden, schlichtet Konflikte. Außer seiner üblichen
Beschäftigung auf der »Prawda« und seiner Teilnahme an den Sitzungen des
Zentralkomitees werden Stalin nur gelegentlich verwaltungsmäßige, technische
oder diplomatische Aufgaben übertragen. Sie sind nicht zahlreich. Stalin ist
von Natur aus faul. Wenn nicht seine persönlichen Interessen direkt im Spiel
sind, ist er unfähig, mit Volldampf zu arbeiten. Er zieht es dann vor, die
Pfeife zu rauchen und seine Zeit abzuwarten. Er machte jetzt eine sehr
unbehagliche Periode durch. Auf allen Gebieten war er von bedeutenderen und
begabteren Leuten überflügelt worden. März und April ließen ihm die Erinnerung
an eine Zeit zurück, in der seine Eigenliebe schwer verletzt worden war. Er tat
sich Gewalt an und lenkte seine Gedanken in eine andere
Richtung, doch gelang ihm das nur halb.
Während der
stürmischen »Apriltage«, als die Soldaten auf die Straße gingen, um gegen
Miljukows imperialistische Note zu protestieren, waren die Kompromißler wie
immer damit beschäftigt, an die Regierung flehentliche Bitten und an die Massen
besänftigende Versprechungen zu richten. Am Einundzwanzigsten sandte das
Zentrale Exekutivkomitee eins seiner Bitt-Telegramme, von Tschcheidse
gezeichnet, an Kronstadt und die andern Garnisonen: gewiß, Miljukows
bellizistischer Note wird nicht zugestimmt, aber »Verhandlungen zwischen dem
Exekutivkomitee und der Provisorischen Regierung haben begonnen, die noch nicht
beendet sind« (Verhandlungen solcher Art endeten nie); »das Exekutivkomitee
weist euch auf den Schaden hin, den ihm solche verstreut auftauchenden und
unorganisierten öffentlichen Kundgebungen zufügen und ersucht euch um
Zurückhaltung« usw. In den offiziellen Protokollen stellen wir nicht ohne
Überraschung fest, daß der Text des Telegramms von einer aus zwei Versöhnlern
und einem Bolschewiken zusammengesetzten Kommission redigiert worden ist – und
daß der Bolschewik Stalin war. Eine Episode, die nicht sehr wesentlich – solche
finden sich in dieser Zeit nicht –, aber charakteristisch ist. Das
Beruhigungstelegramm ist das klassische Modell für jene »Kontrolle«, die einen
notwendigen Bestandteil des Mechanismus der Doppelherrschaft bildet. Lenin
geißelte mit ganz besonderer Schärfe die mindeste Teilnahme von Bolschewiki an
dieser Politik der Ohnmacht. Wenn die Kundgebung der Kronstädter Matrosen
unangebracht war, mußte man es ihnen im Namen der Partei und in deren Sprache
sagen, aber man durfte keine Verantwortung für die »Verhandlungen« zwischen
Tschcheidse und dem Fürsten Lwow auf sich nehmen. Die Versöhnler nahmen Stalin
in die Kommission hinein, weil nur die Bolschewiki in Kronstadt über einige
Autorität verfügten. Ein Grund mehr, die Teilnahme zu verweigern. Aber Stalin
verweigerte die Teilnahme nicht. Drei Tage nach dem Beruhigungstelegramm
intervenierte er auf der Parteikonferenz gegen Kamenew und wählte ausgerechnet
den Konflikt wegen der Miljukowschen Note als besonders klaren Beweis für die
Absurdität der »Kontrolle«. Logische Widersprüche haben diesen Empiriker niemals
geschreckt.
Auf der
Konferenz der bolschewistischen Militärorganisation im Juni berichtete Stalin,
nach den Reden Lenins und Sinowjews über die allgemeine
politische Lage, über die »nationale Bewegung und die nationalen Regimenter«.
Unter dem Einfluß der erwachenden unterdrückten Nationalitäten hatten Einheiten
der aktiven Armee spontan begonnen, sich ihrer Nationalität nach zu formieren:
ukrainische, muselmanische, polnische usw. Regimenter waren aufgetaucht. Die
Provisorische Regierung hatte den Kampf gegen diese »Desorganisierung der
Armee« eröffnet; die Bolschewiki übernahmen auch auf diesem Gebiet die
Verteidigung der unterdrückten Nationen. Stalins Bericht ist nicht aufbewahrt
worden, doch dürfte er kaum etwas Neues gebracht haben.
Der erste
allrussische Sowjetkongreß wurde am 3. Juni eröffnet und dauerte fast drei
Wochen. Einige Dutzend aus der Provinz gekommener bolschewistischer
Delegierten, die in der Masse der Versöhnler untergingen, bildeten eine wenig
einheitliche Gruppe, die noch längst nicht die Mentalität des Monats März
abgestreift hatte und die zu dirigieren nicht so einfach war. Eben hierauf
bezieht sich die interessante Bemerkung eines uns schon bekannten Volkstümlers,
den wir seinerzeit mit Koba zusammen im Gefängnis beobachtet haben. »Ich wollte
um jeden Preis Stalins und Swerdlows Rolle in der bolschewistischen Partei
kennenlernen«, schrieb Wereschtschak im Jahre 1928. »Während Kamenew, Sinowjew,
Nogin und Krylenko am Tisch des Kongreßbüros saßen und Lenin, Sinowjew und Kamenew
als Redner auftraten, leiteten Swerdlow und Stalin stillschweigend die
bolschewistische Fraktion. Sie waren taktische Kräfte. Hier spürte ich zum
erstenmal die ganze Bedeutung dieser Männer.« Wereschtschak hat sich nicht
getäuscht. Bei der Vorbereitung der Fraktion auf die Abstimmungen, die sich
hinter den Kulissen abspielte, war Stalin von größtem Wert. Er berief sich
nicht immer auf grundsätzliche Argumente, aber er hatte die Gabe, die
durchschnittlichen, besonders die aus der Provinz stammenden Parteiführer zu
überzeugen. Doch auch bei dieser Arbeit nahm Swerdlow als ständiger
Vorsitzender der bolschewistischen Kongreßfraktion den ersten Platz ein.
Inzwischen
wurde die Armee der »moralischen« Vorbereitung für die Offensive unterworfen,
einer Vorbereitung, die sowohl die Massen an der Front als auch im Hinterland
nervös machte. Die bolschewistische Fraktion protestierte entschieden gegen das
militärische Abenteuer, das eine Katastrophe voraussehen ließ. Die
Kongreßmehrheit unterstützte Kerensky. Die Bolschewiki versuchten
darauf mit einer Straßenkundgebung zu antworten. Als diese Frage diskutiert
wurde, tauchten Meinungsverschiedenheiten auf. Wolodarsky, der Wortführer des
Petrograder Komitees, war nicht sicher, daß die Arbeiter auf die Straße gehen
würden. Die Vorsitzenden der Militärorganisation behaupteten, daß die Arbeiter
nicht ohne Waffen demonstrieren würden. Stalin glaubte, daß »die Gärung unter
den Soldaten eine Tatsache ist, bei den Arbeitern aber nicht ganz derselbe
Geist herrscht«; doch meinte er, daß es trotzdem notwendig sei, der Regierung
Widerstand zu leisten. Schließlich wurde die Kundgebung auf Sonntag, den 10.
Juni, festgelegt. Die Kompromißler regten sich auf und untersagten die
Kundgebung im Namen des Kongresses. Die Bolschewiki unterwarfen sich. Von dem
Eindruck erschreckt, den das Verbot bei den Massen hervorgerufen hatte, setzte
der Kongreß jedoch selbst für den 18. Juni eine allgemeine Kundgebung an. Das
Ergebnis war überraschend: alle Fabriken und alle Regimenter erschienen mit bolschewistischen
Plakaten. Der Autorität des Kongresses war ein nicht wieder gutzumachender
Schlag versetzt worden. Die Arbeiter und Soldaten der Hauptstadt spürten ihre
Kraft. Zwei Wochen später versuchten sie, sie anzuwenden. So kam es zu den
»Julitagen«, dieser wichtigsten Trennungslinie zwischen den zwei Revolutionen.
Am 4. Mai
schrieb Stalin in der »Prawda«: »Die Revolution wächst in die Breite und in die
Tiefe ... Die Provinz marschiert an der Spitze der Bewegung. In den ersten
Revolutionstagen marschierte Petrograd voraus, jetzt fängt es an, sich
überholen zu lassen.« Genau zwei Monate später offenbarten die »Julitage«, daß
die Provinz weit hinter Petrograd zurück war. Stalin hatte bei seiner
Einschätzung der Situation nicht die Massen gesehen, sondern die
Organisationen. »Die Sowjets der Hauptstadt«, bemerkte Lenin schon auf der
Aprilkonferenz, »sind politisch in stärkerem Maße von der bürgerlichen
Zentralregierung abhängig als die Sowjets der Provinz.« Während das Zentrale
Exekutivkomitee mit allen Kräften versuchte, die Macht in den Händen der
Regierung zu konzentrieren, hatten sich die ihrer Zusammensetzung nach
menschewistischen oder Sozialrevolutionären Provinzsowjets oft, sozusagen gegen
ihren Willen, selbst der Regierungsgewalt bemächtigt und versuchten sogar, das
wirtschaftliche Leben zu regeln. Doch kam die »Rückständigkeit« des
hauptstädtischen Sowjets auf das Konto der Tatsache, daß das
Petrograder Proletariat schon so weit vorausgegangen war, daß es die
kleinbürgerliche Demokratie durch den Radikalismus seiner Forderungen
erschreckte. Als im Zentralkomitee die Frage der Julikundgebung erörtert wurde,
glaubte Stalin, daß die Arbeiter kaum Lust verspüren würden, sich zu schlagen.
Auch diese Behauptung wurde in den Julitagen widerlegt: trotz des Verbots der
Kompromißler und sogar trotz der Warnung der bolschewistischen Partei strömte
das Proletariat auf die Straßen, Schulter an Schulter mit der Garnison. Beide
Irrtümer Stalins sind charakteristisch für ihn: er atmete nicht die Luft der
Arbeiterversammlungen, hatte keinen Kontakt mit den Massen und vertraute ihnen
nicht. Die Informationen, über die er verfügte, erhielt er durch den Apparat.
Doch waren die Massen unvergleichlich revolutionärer als die Partei, die
ihrerseits revolutionärer als die Mitglieder ihrer Komitees war. Wie bei
anderen Gelegenheiten drückte Stalin auch hier die konservative Tendenz des
Parteiapparates aus und nicht die dynamische Kraft der Massen.
Anfang Juli
war Petrograd schon vollständig auf Seiten der Bolschewiki. Um den neuen
französischen Botschafter mit der Lage in der Hauptstadt bekanntzumachen,
zeigte ihm der Journalist Claude Anet auf dem gegenüberliegenden Ufer der Newa
die Vorstadt Wyborg, in der sich die größten Fabriken befinden: »Dort drüben,
da herrschen Lenin und Trotzky.« Die Regimenter der Garnison waren
bolschewistisch oder sympathisierten mit den Bolschewiki. »Wenn Lenin und
Trotzky Petrograd nehmen wollen, wer kann sie daran hindern?« Das war eine
richtige Einschätzung der Situation. Jedoch war es noch nicht möglich, die
Macht zu übernehmen; im Gegensatz zu dem, was Stalin im Mai geschrieben hatte,
war die Provinz noch weit hinter der Hauptstadt zurück.
Auf der
Petrograder Stadtkonferenz der Bolschewiki am 2. Juli, auf der Stalin das
Zentralkomitee vertrat, erschienen zwei sehr erregte Maschinengewehrschützen
mit der Erklärung, daß ihr Regiment entschlossen sei, sofort mit der Waffe in
der Hand auf die Straße zu gehen. Die Konferenz war gegen diese Manifestation.
Im Namen des Zentralkomitees bestätigte Stalin die Entscheidung der Konferenz.
Pestkowsky, reuiger Oppositioneller und Mitarbeiter Stalins, beschrieb dreizehn
Jahre später die Konferenz: »Hier sah ich Stalin zum erstenmal. Der Raum, in
dem die Konferenz abgehalten wurde, hatte nicht alle Teilnehmer
aufnehmen können; ein Teil der Anwesenden folgte den Debatten durch die offene
Tür hindurch vom Korridor aus. Ich gehörte zu diesem Teil des Publikums und
konnte deshalb die Reden nicht sehr gut verstehen ... Stalin sprach im Namen
des Zentralkomitees. Da er nicht sehr laut sprach, hörte ich vom Korridor aus
nicht viel. Eins aber fiel mir auf: jeder Satz Stalins war scharf und
schneidend, was er sagte, zeichnete sich durch die Klarheit der Formulierungen
aus ...«
Die
Konferenzteilnehmer gingen in ihre Regimenter und Fabriken zurück, um die
Massen von Kundgebungen abzuhalten. »Um 5 Uhr«, berichtete Stalin nach den
Ereignissen, »auf der Sitzung des Zentralen Exekutivkomitees, erklärte ich
offiziell im Namen des Zentralkomitees und der Konferenz, daß wir beschlossen
hatten, nicht auf die Straße zu gehen.« Nichtsdestoweniger begannen die
Kundgebungen gegen 6 Uhr. »Hatte die Partei das Recht, die Hände zu ringen ...
und beiseite zu bleiben? ... Als die Partei des Proletariats hatten wir die
Pflicht, an der Manifestation teilzunehmen und ihr einen friedlichen und
organisierten Charakter zu geben, ohne zum Ziel zu haben, mit der Waffe in der
Hand die Macht zu ergreifen.« Einige Zeit darauf erklärte Stalin vor dem
Parteitag zu den Juliereignissen: »Die Partei wollte die Kundgebungen nicht,
die Partei wollte warten, bis die Politik der Offensive an der Front
diskreditiert war. Trotzdem fand eine spontane Kundgebung statt, provoziert
durch das Chaos im Lande, die Befehle Kerenskys, die Verschickung von Soldaten
an die Front.« Das Zentralkomitee beschloß, der Demonstration einen friedlichen
Charakter zu verleihen. »Auf die Frage der Soldaten, ob es erwünscht sei,
Waffen mitzunehmen, antwortete das Zentralkomitee, daß keine Waffen mitgenommen
werden sollten. Die Soldaten sagten aber, daß es unmöglich sei, ohne Waffen auf
die Straße zu gehen ... und daß sie die Waffen zur Selbstverteidigung mitnehmen
würden.«
An diesem
Punkte stoßen wir nun aber auf eine rätselhafte Bekundung Demjan Bjednys. In
sehr vorsichtigem Ton erzählte der lorbeergekrönte Dichter im Jahre 1929, wie
Stalin in den Räumen der »Prawda« von Kronstadt aus telephonisch angerufen
wurde und wie er als Antwort auf die ihm gestellte Frage, ob man mit oder ohne
Waffen demonstrieren sollte, sagte: »Gewehre? ... Das wißt ihr doch besser als
wir, Genossen! ... Wir Schreiberseelen haben immer unsere Waffen bei uns,
Bleistifte ... Was eure Waffen angeht, so wißt ihr das doch selbst am besten!« Die Geschichte ist wahrscheinlich stilisiert, doch
fühlt man, daß ein Körnchen Wahrheit in ihr steckt. Stalin neigte im
allgemeinen dazu, die Kampfbereitschaft der Arbeiter und Soldaten zu
unterschätzen, er war den Massen gegenüber immer mißtrauisch. Doch dort, wo der
Kampf einmal losging, sei es auf einem Platz in Tiflis, in einem Gefängnis in
Baku oder auf den Straßen Petrograds, tat er immer alles, um ihm einen
möglichst scharfen Charakter zu geben. Die Entscheidung des Zentralkomitees?
Die konnte man mit einer Parabel vom Bleistift umgehen. Man muß sich aber
hüten, diesem Geschichtchen zu große Bedeutung beizumessen. Die Frage ging
allem Anschein nach vom Kronstädter Parteikomitee aus. Und die Matrosen hätten
auf alle Fälle ihre Waffen mitgenommen.
Ohne bis zum
Aufstand zu gehen, überschritten die Julitage doch den Rahmen einer
Manifestation. Von Provokateuren abgefeuerte Schüsse zertrümmerten
Fensterscheiben und Dächer. Es kam zu bewaffneten Zusammenstößen, die weder
überlegt worden waren noch irgendein Ziel verfolgten, aber viele Tote und
Verwundete kosteten. Die Peter-und-Pauls-Festung wurde vorübergehend von den
Kronstädter Matrosen eingenommen, das Taurische Palais war belagert worden. Die
Bolschewiki beherrschten die Straße vollständig, aber sie verzichteten bewußt
auf den Aufstand als auf ein Abenteuer. »Am 3. und 4. Juli konnten wir die
Macht übernehmen«, sagte Stalin auf der Petrograder Konferenz, »... aber die
Front, die Provinz, die Sowjets hätten sich gegen uns gewandt. Ohne
Unterstützung der Provinz wäre unsere Regierung eine Regierung ohne Hände und
Füße gewesen.« Da ihr ein unmittelbares Ziel fehlte, ging die Bewegung zurück.
Die Arbeiter zogen wieder in die Fabriken, die Soldaten in die Kasernen. Blieb
die Frage der Peter-und-Pauls-Festung, wo sich die, Kronstädter Matrosen
installiert hatten. »Das Zentralkomitee delegierte mich zur
Peter-und-Pauls-Festung«, erzählt Stalin, »wo es mir gelang, die anwesenden
Matrosen davon zu überzeugen, daß es nicht zweckmäßig war, den Kampf
aufzunehmen ... Als Vertreter des Zentralen Exekutivkomitees ... ging ich mit
(dem Menschewiken) Bogdanow zu (dem Truppenkommandanten) Kosmin. Er hatte alles
für den Kampf vorbereitet. Wir veranlaßten ihn, nicht zu den Waffen zu greifen
... Es war mir klar, daß der rechte Flügel Blut sehen wollte, um den Arbeitern,
Soldaten und Matrosen eine ›Lektion‹ zu erteilen. Wir verhinderten die
Erfüllung dieses Wunsches.« Eine so heikle Mission
erfolgreich zu Ende zu führen, war Stalin nur gegeben, weil er keine den
Kompromißlern verhaßte Gestalt war: deren Haß war gegen andere Leute gerichtet.
Er wußte außerdem besser als jeder andere, bei solchen Unterhandlungen den Ton
des reifen und gemäßigten Bolschewiken anzuschlagen, der Exzesse vermeiden will
und zur Versöhnung geneigt ist. Von seinen Ratschlägen an die Matrosen, der
Geschichte vom »Bleistift«, hat er sicher nicht gesprochen.
Den
Tatsachen zum Trotz bezeichneten die Kompromißler die Julidemonstration als
bewaffneten Aufstand und bezichtigten die Bolschewiki der Verschwörung. Als die
Bewegung schon vorbei war, trafen reaktionäre Truppen von der Front ein. Die
Presse veröffentlichte auf »Dokumenten« des Justizministers Perewerzew
beruhende Informationen, nach denen Lenin und seine Mitarbeiter gedungene
Agenten des deutschen Generalstabs seien. Nun folgten Tage der Verleumdung, der
Verfolgung und Verwirrung. Die Geschäftsräume der »Prawda« wurden demoliert.
Die Behörden erließen Haftbefehle gegen Lenin, Sinowjew und andere für den
»Aufstand« verantwortliche Bolschewiki. Die Bourgeoisie und die versöhnlerische
Presse forderten die Schuldigen in drohendem Tone auf, sich selbst der Justiz
zu stellen. Das bolschewistische Zentralkomitee konferierte: sollte sich Lenin
den Behörden stellen, um öffentlich gegen die Verleumdung aufzutreten, oder
sollte er sich verbergen? An Schwankungen, unvermeidlich bei einem so brüsken
Umschwung der Situation, fehlte es nicht. Der Streitpunkt war, ob die
Angelegenheit bis zur Einleitung eines öffentlichen Gerichtsverfahrens gehen
würde. In der Sowjetliteratur nimmt die Frage, wer Lenin »rettete« und wer ihn
»vernichten« wollte, keinen geringen Platz ein. Demjan Bjedny hat früher einmal
erzählt, wie er im Automobil zu Lenin eilte, um ihm zuzureden, nicht Jesus
Christus zu imitieren, »der sich seinen Feinden selbst in die Hand gegeben
hatte«. Bontsch-Brujewitsch, ehemals hoher Beamter im Volkskommissariat für
Auswärtiges, widerspricht seinem Freunde völlig, wenn er in der Presse angibt,
daß Demjan Bjedny den kritischen Moment in seiner Villa in Finnland verbracht
habe. Die höchst bedeutsame Angabe, die Ehre, Lenin überzeugt zu haben, »käme
anderen Genossen zu«, zeigt klar, daß Bontsch-Brujewitsch gezwungen war, seinem
nächsten Freund Verdruß zu bereiten, um eine einflußreiche Persönlichkeit
zufriedenzustellen.
»Am Siebenten besuchte ich zusammen mit Maria
Iljinitschna (Lenins Schwester) Iljitsch in der Wohnung der Allilujews«,
berichtet die Krupskaja in ihren Erinnerungen. »Das war gerade in dem
Augenblick, wo Iljitsch zögerte. Er brachte Argumente vor, die dartun sollten,
daß er vor Gericht erscheinen müsse. Maria Iljinitschna widersprach heftig.
›Gregori (Sinowjew) und ich haben beschlossen zu erscheinen, geh und sag es
Kamenew‹, sagte Iljitsch zu mir. Ich wollte gehen. ›Sagen wir uns Adieu‹, hielt
mich Iljitsch zurück, ›vielleicht sehen wir uns nicht wieder.‹ Wir umarmten
uns. Ich ging zu Kamenew und richtete ihm Wladimir Iljitschs Botschaft aus. Am
Abend überzeugten Stalin und andere Iljitsch davon, daß es sinnlos war, vor
Gericht zu erscheinen, und retteten ihm so das Leben.«
Vor der
Krupskaja hatte Ordschonikidse diese fieberhaften Stunden mehr ins einzelne
gehend beschrieben: »Eine wütende Verfolgung unserer Führer setzte ein. Einige
unserer Genossen waren der Meinung, daß Lenin sich nicht verstecken konnte,
sondern erscheinen mußte... Das war die Auffassung zahlreicher bekannter Bolschewiki.
Ich traf Stalin im Taurischen Palais. Zusammen suchten wir Lenin auf ...« Was
hier zuerst ins Auge springt, ist, daß sich in den Stunden der »wütenden
Verfolgung unserer Führer« Ordschonikidse und Stalin ruhig im Taurischen Palais
treffen, dem Hauptquartier des Feindes, und es anstandslos wieder verlassen
können. In Allilujews Wohnung beginnt dieselbe Diskussion: sich stellen oder
sich verstecken? Lenin vermutete, daß es nicht zu einer öffentlichen
Verhandlung kommen würde. Kategorischer als irgendein anderer trat Stalin
dagegen auf, daß Lenin sich stellen solle: »Die Junker (Offiziersschüler)
werden Sie nicht bis zum Gefängnis gehen lassen, sie werden Sie auf dem Wege
dahin umbringen.« In diesem Augenblick erschien die Stassowa, die von dem neuen
Gerücht erzählte, nach dem die Dokumente der Geheimpolizei erwiesen, daß Lenin
ein Provokateur sei. »Diese Worte machten auf Iljitsch ungeheuren Eindruck. Ein
nervöses Zucken lief über sein Gesicht, und er erklärte mit der größten
Entschiedenheit, daß er ins Gefängnis gehen müsse.« Ordschonikidse und Nogin
werden ins Taurische Palais geschickt, um von den führenden Parteien die
Versicherung zu erhalten, »daß Lenin nicht von den Junkern gelyncht werden
würde«. Aber die erschrockenen Menschewiki suchten für sich selbst Schutz.
Stalin erklärte in einem Bericht auf der Petrograder Konferenz: »Ich richtete
die Frage persönlich an Liber und Anissimow (Menschewiki,
Mitglieder des Zentralen Exekutivkomitees), und sie antworteten mir, daß sie
keine Garantien geben könnten.« Nachdem so die Fühler ins feindliche Lager
ausgestreckt worden waren, wurde beschlossen, daß Lenin Petersburg verlassen
und sich in ein sicheres Versteck begeben solle. »Stalin übernahm die
Organisierung von Lenins Abreise.«
Wie sehr
diejenigen recht gehabt hatten, die dagegen waren, daß Lenin sich den Behörden
stelle, ging später aus dem Bericht des Armeekommandeurs Polowtsew hervor: »Der
Offizier, der nach Terioki (in Finnland) fuhr, in der Hoffnung, Lenin noch zu
erwischen, fragte mich, ob ich diesen Herrn ganz oder in Stücken wünsche... Ich
antwortete ihm lächelnd, daß verhaftete Leute manchmal zu fliehen versuchten.«
Für die Organisatoren der Justizkomödie hätte es sich nicht darum gehandelt,
»Recht« zu sprechen, sondern Lenins habhaft zu werden und ihn zu töten, wie
zwei Jahre später in Deutschland Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg getötet
wurden. Die Vorstellung, daß es unvermeidlicherweise zu einer Hinrichtung ohne
Gerichtsverfahren kommen würde, stak in Stalins Kopf fester als in den Köpfen
der anderen: ein solcher Ausgang stimmte mit seiner eigenen Denkungsart
überein. Außerdem kümmerte es ihn recht wenig, was die »öffentliche Meinung«
sagen möge. Andere, darunter Lenin und Sinowjew, zögerten. Nogin und
Lunatscharsky waren zuerst dafür, daß sich Lenin freiwillig stelle, änderten
aber im Laufe des Tages ihre Meinung. Stalins Haltung war entschiedener als die
aller anderen und stellte sich als richtig heraus.
Sehen wir
nun zu, was die moderne sowjetische Geschichtsschreibung aus dieser dramatischen
Episode gemacht hat. »Die Menschewiki, die Sozialrevolutionäre und Trotzky, der
später ein faschistischer Bandit wurde«, schreibt eine offizielle
Veröffentlichung von 1938, »verlangten, daß Lenin freiwillig vor Gericht
erscheine. Die faschistischen Söldlinge Kamenew und Rykow, die heute als
Volksfeinde entlarvt worden sind, waren dafür, daß Lenin sich freiwillig
stelle. Stalin setzte ihnen lebhaften Widerstand entgegen« usw. In Wirklichkeit
habe ich persönlich an den Konferenzen nicht teilgenommen, ich war in jenen
Stunden selbst gezwungen, mich zu verbergen. Am 10. Juli sandte ich der
menschewistischen und Sozialrevolutionären Regierung ein Schreiben, in dem ich
meine völlige Solidarität mit Lenin, Sinowjew und Kamenew erklärte; am 22. Juli
wurde ich verhaftet. In einem Brief an die Petersburger Konferenz hielt es
Lenin für erforderlich, besonders zu bemerken, »daß sich
Trotzky in den schwierigen Julitagen der Situation gewachsen gezeigt hat«.
Stalin wurde nicht verhaftet und wurde nicht einmal der Form nach in die
Angelegenheit verwickelt: er existierte politisch weder für die Behörden, noch
für die öffentliche Meinung. In der Kampagne gegen Lenin, Sinowjew, Kamenew und
Trotzky wurde sein Name in der Presse kaum je genannt, obwohl er Chefredakteur
der »Prawda« war und seine Artikel mit seinem Namen zeichnete. Diese Artikel
waren niemandem aufgefallen, und niemand interessierte sich für ihren
Verfasser.
Lenin
versteckte sich zuerst in der Wohnung Allilujews, dann ging er nach Sestroretsk
zu dem Arbeiter Jemeljanow, zu dem er absolutes Vertrauen hatte und von dem er
in einem seiner Artikel, ohne ihn bei Namen zu nennen, mit höchster Achtung
spricht. »Als Wladimir Iljitsch nach Sestroretsk abfuhr«, erzählt Allilujew,
»am Abend des 11. Juli, begleiteten ihn Stalin und ich bis zum Sestroretsker
Bahnhof. Während seines Aufenthalts in einer Baracke in Rasliw und später in
Finnland sandte Wladimir Iljitsch durch meine Vermittlung von Zeit zu Zeit
Nachrichten an Stalin; man brachte sie mir in meine Wohnung, und da sofort
darauf geantwortet werden mußte, zog Stalin im August zu mir ... und richtete
sich in dem Zimmer ein, in dem sich Wladimir Iljitsch in den Julitagen
versteckt gehalten hatte.« Damals hat Stalin anscheinend seine zukünftige Frau,
Allilujews Tochter Nadeschda, kennengelernt, um jene Zeit noch ein ganz junges
Mädchen. Ein anderer alter bolschewistischer Arbeiter, Rachia mit Namen, ein
russifizierter Finne, berichtete später in der Presse, wie Lenin ihm einmal
auftrug, »Stalin am nächsten Abend mitzubringen ... Ich sollte Stalin auf der
Redaktion der ›Prawda‹ treffen... Sie hatten eine lange Unterhaltung, Wladimir
Iljitsch fragte nach allen Einzelheiten«. Neben der Krupskaja war Stalin in
dieser Zeit ein wichtiges Verbindungsglied zwischen dem Zentralkomitee und
Lenin, der in ihn als einen umsichtigen Konspirator völliges Vertrauen hatte.
Es waren übrigens die Umstände, die Stalin ganz natürlicherweise in diese Rolle
drängten: Sinowjew hielt sich versteckt, Kamenew und Trotzky waren im
Gefängnis, Swerdlow hatte die ganze organisatorische Arbeit zu besorgen; auch
hatte Stalin mehr Bewegungsfreiheit als die anderen, weil er weniger von der
Polizei beobachtet wurde.
In der
Periode der Reaktion, die den Julitagen folgte, wurde Stalins Rolle weit
bedeutender. Der uns schon bekannte Pestkowsky schreibt in
den Memoiren, die er zu seiner Rechtfertigung abfaßte, über Stalins Tätigkeit
im Sommer 1917: »Die breiten Arbeitermassen von Petrograd kannten Stalin damals
wenig. Er haschte nicht nach Popularität. Rednerische Begabung fehlte ihm und
er vermied es, auf Versammlungen zu erscheinen. Aber keine Parteikonferenz,
keine wichtige Zusammenkunft wegen Organisationsfragen wurde abgehalten ohne
eine politische Ansprache Stalins. Deshalb kannten ihn auch die Parteiarbeiter
gut. Unter den bolschewistischen Kandidaten für die Petrograder
verfassunggebende Versammlung stand Stalin auf die Initiative von
Parteiarbeitern hin auf einem der ersten Plätze.« Stalins Name stand auf der
Petrograder Liste an sechster Stelle ... 1930 hielt man es noch für nötig,
Stalins mangelnde Popularität mit dem Fehlen des »Rednertalents« zu erklären.
Heute würde so ein Satz absolut unmöglich sein. Stalin ist zum Idol der
Petrograder Arbeiter und zum klassischen Vertreter der Redekunst erklärt worden.
In Wirklichkeit hat Stalin, ohne vor den Massen zu erscheinen, mit Swerdlow im
Juli und August eine Arbeit von schwerster Verantwortung geleistet: im Apparat,
auf den Zusammenkünften und Konferenzen, bei der Zusammenarbeit mit dem
Petrograder Komitee usf.
Über die
Leitung der Partei in jener Periode schrieb Lunatscharsky 1923: »Vor den
Julitagen war Swerdlow sozusagen bolschewistischer Generalstabschef, der
zusammen mit Lenin, Sinowjew und Stalin die ganze leitende Arbeit machte. In
den Julitagen trat er in die vorderste Front.« Das war richtig. Inmitten der
grausamen Schläge, die auf die Partei herniederprasselten, bewegte sich der
dunkle kleine Mann mit dem Kneifer, als geschehe nichts Besonderes: wie immer
teilte er für jeden die Arbeiten ein, sprach Mut zu, wem Mut zugesprochen
werden mußte, gab Ratschläge und, wenn nötig, Befehle. Er war der eigentliche
»Generalsekretär« des Revolutionsjahres, obwohl er nicht diesen Titel trug.
Aber er war der Sekretär einer Partei, deren unangefochtener politischer Führer,
Lenin, in der Illegalität bleiben mußte. Lenin schickte von Finnland aus
Artikel, Briefe und Resolutionsentwürfe über alle grundlegenden politischen
Fragen. Obwohl ihn die Entfernung manchmal zu taktischen Irrtümern verleitete,
erlaubte sie ihm doch, die Strategie der Partei mit um so größerer Sicherheit
zu bestimmen. Die tägliche Leitung lag bei Swerdlow und Stalin, den
einflußreichsten der in Freiheit gebliebenen Mitglieder des Zentralkomitees. In
der Zwischenzeit war die Massenbewegung beträchtlich
schwächer geworden. Die Partei befand sich halb und halb in der Illegalität.
Das spezifische Gewicht des Apparates war entsprechend gestiegen. Im Innern des
Apparats war Stalins Rolle automatisch größer geworden. Dieses Gesetz zieht
sich durch seine ganze politische Biographie hindurch und bildet sozusagen
deren eigentliche Triebfeder.
Die
Juliniederlage war eine direkte Niederlage der Petrograder Arbeiter und
Soldaten, deren Erhebung letzten Endes daran scheiterte, daß die Provinz im
Verhältnis zurückgeblieben war. Das ist der Grund dafür, daß die
Niederlagenstimmung unter den Massen der Hauptstadt tiefer ging als woanders,
doch dauerte sie nur wenige Wochen an. Am 20. Juli setzte die öffentliche
Agitation wieder ein, und zwar mit dem Auftreten dreier mutiger Revolutionäre
in kleineren Versammlungen verschiedener Stadtteile: Slutzky, der später von
den Weißgardisten in der Krim erschossen wurde, Wolodarsky, den die
Sozialrevolutionäre in Petrograd umbrachten und Jewdokimow, den Stalin im Jahre
1936 erschießen ließ. Nachdem sie hier und da einige zufällige Weggenossen
verloren hatte, begann die Partei gegen Ende des Monats von neuem zu wachsen.
Am 21. und
22. Juli wurde in Petrograd eine Konferenz von außerordentlicher
Wichtigkeit abgehalten, die nicht zur Kenntnis der Behörden und der Presse
gelangte. Nach dem tragischen Fehlschlag der abenteuerlichen militärischen
Offensive kamen die Delegierten der Soldaten immer häufiger in die Hauptstadt,
um gegen die Fortsetzung des Krieges und gegen die Erstickung der freiheitlichen
Errungenschaften in der Armee zu protestieren. Auf dem Zentralen
Exekutivkomitee empfing man sie nicht; die Kompromißler wußten nicht, was sie
ihnen antworten sollten. In den Vorzimmern und Wartesälen lernten die
Frontdelegierten einander kennen und tauschten in rauher Soldatensprache ihre
Eindrücke über die hohen Herren vom Exekutivkomitee aus. Die Bolschewiki, die
überall einzudringen verstanden, rieten den enttäuschten und erzürnten
Delegierten zu einem Meinungsaustausch mit den Arbeitern, Soldaten und Matrosen
der Hauptstadt. An der Konferenz, die sich so ergab, nahmen Vertreter teil von
neunundzwanzig Frontregimentern, neunzig Petersburger Fabriken sowie Vertreter
der Matrosen von Kronstadt und den Garnisonen der Umgebung. Die Frontdelegierten
sprachen von der sinnlosen Offensive, dem Hinschlachten, der Zusammenarbeit
der versöhnlerischen Kommissare mit den reaktionären Offizieren, die von neuem
das Haupt erhoben. Obwohl scheinbar die Mehrheit an der Front sich weiterhin
als Sozialrevolutionäre betrachtete, wurde die scharf gefaßte bolschewistische
Resolution einstimmig angenommen. Von Petrograd aus kehrten die Delegierten als
unersetzbare Agitatoren für die Arbeiter- und Bauernrevolution in die
Schützengräben zurück. Bei der Organisierung dieser bemerkenswerten Konferenz
spielten Swerdlow und Stalin anscheinend eine führende Rolle.
Die
Petrograder Konferenz, die vergeblich versucht hatte, die Massen von den
Demonstrationen abzuhalten, schleppte sich mit einer längeren Unterbrechung bis
zur Nacht des 20. Juli hin. Der Gang ihrer Arbeiten wirft ein recht klares
Licht auf die Rolle und den Platz Stalins in der Partei. Die
Organisationsfragen wurden im Namen des Zentralkomitees von Swerdlow erledigt,
aber auf dem Gebiete der Theorie und der großen politischen Probleme überließ
er anderen den Platz, ohne Prätentionen und ohne falsche Bescheidenheit. Das
Hauptthema der Konferenz war die Einschätzung der politischen Situation, so wie
sie sich nach der Juliniederlage herausgebildet hatte. Wolodarsky, leitendes
Mitglied des Petrograder Komitees, erklärte gleich zu Anfang: »Im gegenwärtigen
Augenblick kann nur Sinowjew Berichterstatter sein ... Gern würde man
Lenin hören ...« Keiner erwähnte den Namen Stalin. Aber die Konferenz,
durch die Massenbewegung unterbrochen, tagte erst am 16. Juli wieder von
neuem. Lenin und Sinowjew verbargen sich, und der politische Hauptbericht fiel
an Stalin, der als Sinowjews Vertreter sprach. »Für mich ist es klar«, sagte
er, »daß uns die Konterrevolution im gegenwärtigen Augenblick besiegt hat. Wir
sind isoliert und werden von den Menschewiki und Sozialrevolutionären verraten
und verleumdet ...« Der Sieg der bürgerlichen Konterrevolution bildete den
Ausgangspunkt des Redners. Doch war das kein gesicherter Sieg; solange der
wirtschaftliche Stillstand nicht überwunden ist, solange die Bauern kein Land
bekommen, »werden Krisen unvermeidlich sein, die Massen werden öfter als einmal
auf die Straße gehen, es wird zu immer entscheidenderen Kämpfen kommen. Die
friedliche Periode der Revolution ist zu Ende ...« Infolgedessen hatte die
Losung »Alle Macht den Sowjets« nunmehr jeden realen Inhalt verloren. Die
Sowjets waren in den Händen der Versöhnler und halfen der bürgerlichen
militärischen Konterrevolution, die Bolschewiki niederzumachen und
die Arbeiter und Soldaten zu entwaffnen und verzichteten so selbst auf jede
wirkliche Macht. Eben noch hätten sie die Provisorische Regierung durch ein
einfaches Dekret ausschalten können; innerhalb der Sowjets hätten die
Bolschewiki durch einfache Neuwahlen die Vorherrschaft gewinnen können. Das war
jetzt unmöglich geworden. Mit Hilfe der Versöhnler hatte sich die
Konterrevolution bewaffnet. Jetzt tarnte sich die Konterrevolution mit den
Sowjets selbst. Es wäre lächerlich, für diese Sowjets die Macht zu erlangen.
»Nicht die Institution ist entscheidend, sondern welche Klassenpolitik diese
Institution verfolgt, ist entscheidend.« Von friedlicher Machteroberung kann
keine Rede sein. Es bleibt nichts anderes mehr übrig, als sich auf den
bewaffneten Aufstand vorzubereiten, der möglich werden wird, wenn die unteren
Schichten des Dorfes und mit ihnen die Front zu den Arbeitern übergehen. Dieser
kühnen strategischen Perspektive entsprachen die sehr vorsichtigen taktischen
Direktiven für die unmittelbar bevorstehende Zeit. »Unsere Aufgabe ist es,
unsere Kräfte zu sammeln, die existierenden Organisationen zu festigen und die
Massen zu hindern, zu einer verfrühten Offensive zu schreiten ... Das ist die
taktische Generallinie des Zentralkomitees.«
Obwohl in äußerst
dürftige Form gefaßt, enthielt der Bericht doch eine scharfsinnige Einschätzung
der Situation, wie sie sich in den letzten Tagen ergeben hatte. Die Debatten
fügten dem, was der Berichterstatter gesagt hatte, nur wenig hinzu. Die
Herausgeber der Konferenzprotokolle kommentierten den Bericht im Jahre 1927 wie
folgt: »Die grundlegenden Vorschläge dieses Berichts waren im Einverständnis
mit Lenin gemacht worden und hielten sich an Lenins Artikel ›Drei Krisen‹, der
noch nicht veröffentlicht worden war.« Außerdem wußten die Delegierten
wahrscheinlich von der Krupskaja, daß Lenin für den Berichterstatter besondere
Thesen geschrieben hatte. »Eine Gruppe der Konferenzteilnehmer«, heißt es im
Protokoll, »verlangte, daß Lenins Thesen der Konferenz mitgeteilt würden.
Stalin erklärte, daß er sie nicht bei sich habe ...« Das Verlangen der
Delegierten ist leicht verständlich; der Wechsel in der Orientierung war so
gründlich, daß sie Lenins Stimme selbst hören wollten. Im Gegensatz dazu ist
Stalins Antwort unverständlich: wenn er die Thesen einfach zu Hause vergessen
hatte, hätten sie zur nächsten Sitzung beigebracht werden können. Sie wurden
jedoch nie vorgelegt. So entsteht der Eindruck, daß sie der Konferenz nicht zu
Gesicht kommen sollten. Noch erstaunlicher ist, daß die
»Julithesen« zum Unterschied von allen anderen von Lenin in der Illegalität
verfaßten Dokumenten auch später nie veröffentlicht worden sind. Da Stalin das
einzige Exemplar besaß, bleibt zu vermuten, daß er es verloren hat. Er selbst
jedoch erzählt von keinem Verlust. Die Herausgeber der Konferenzprotokolle
äußern die Vermutung, daß die Thesen von Lenin im Geiste seiner Artikel »Drei
Krisen« und »Über die Losungen« geschrieben worden sind, die vor der Konferenz
verfaßt worden waren, aber erst nach dieser in Kronstadt veröffentlicht wurden,
wo die Pressefreiheit aufrechterhalten geblieben war. Ein Vergleich der Texte
zeigt in der Tat, daß Stalins Bericht nur eine einfache Wiedergabe der beiden
Artikel war, ohne daß er ein einziges von ihm selbst stammendes Wort
hinzugefügt hatte. Stalin hatte die Artikel nicht selbst gelesen und ahnte auch
nichts von ihrer Existenz, er stützte sich auf die Thesen, die mit den Artikeln
hinsichtlich des Ideengangs übereinstimmten. Dieser Umstand erklärt recht gut,
warum der Berichterstatter »vergaß«, der Konferenz Lenins Thesen mitzubringen
und warum das Dokument nicht aufbewahrt wurde. Stalins Charakter macht diese
Hypothese nicht nur zulässig, sondern drängt sie auf.
Im Vorstand
der Konferenz, in dem es anscheinend zu heftigen Kämpfen kam, gewann Wolodarsky
die Mehrheit, der sich anzuerkennen weigerte, daß die Konterrevolution im Juli
einen vollständigen Sieg davongetragen habe. Stalin verlangte nicht, daß er ein
Gegenreferat halten könne, und nahm an den Diskussionen nicht teil. Unter den
Delegierten herrschte Verwirrung. Wolodarskys Resolution wurde schließlich mit
den Stimmen von achtundzwanzig Delegierten gegen drei und bei achtundzwanzig
Stimmenthaltungen angenommen. Die Gruppe der Wyborger Delegierten begründete
ihre Stimmenthaltung mit der Erklärung, daß »Lenins Thesen nicht veröffentlicht
worden sind und der Berichterstatter seine Resolution nicht verteidigt hat«.
Die Anspielung auf eine unzulässige Verheimlichung der Thesen war klar. Stalin
schwieg. Er erlitt eine doppelte Niederlage: er rief dadurch Unzufriedenheit
hervor, daß er die Thesen versteckt hielt, und verstand es nicht, eine Mehrheit
für sie zusammenzubekommen.
Was
Wolodarsky betrifft, so wollte er im Grunde weiterhin das bolschewistische
Schema von der Revolution des Jahres 1905 aufrechterhalten: erst die
demokratische Diktatur, dann der unvermeidliche Bruch mit
der Bauernschaft und, im Falle eines Sieges des Proletariats im Westen, der
Kampf für die sozialistische Diktatur. Stalin, unterstützt von Molotow und
einigen anderen, verteidigte Lenins neue Konzeption: nur die Diktatur des
Proletariats, auf die ärmsten Bauern gestützt, sichert die Erfüllung der
Aufgaben der demokratischen Revolution und eröffnet gleichzeitig die Ära der
sozialistischen gesellschaftlichen Veränderungen. Stalin hatte recht gegen
Wolodarsky, wußte das aber nicht zu beweisen. Andererseits, indem er sich
weigerte anzuerkennen, daß die bürgerliche Konterrevolution einen vollständigen
Sieg davongetragen habe, befand sich Wolodarsky im Recht gegen Stalin und
Lenin. Wir werden diesem Disput einige Tage später auf dem Parteitag von neuem
begegnen. Die Konferenz endete mit der Annahme eines von Stalin verfaßten
Aufrufs: »An alle Arbeiter!«, in dem es unter anderem heißt: »Die käuflichen
Mietlinge und feigen Verleumder wagen es offen, die Führer unserer Partei des
›Verrats‹ anzuklagen. Niemals sind die Namen unserer Führer der Arbeiterklasse
so teuer gewesen wie jetzt in diesem Augenblick, wo die schamlose bürgerliche
Kanaille sie mit Schmutz bedeckt!« Außer Lenin waren die Hauptopfer der
Verleumdung Sinowjew, Kamenew und Trotzky. Es war ihr Name, der Stalin
besonders teuer war, als die »bürgerliche Kanaille« sie mit Schmutz bedeckte.
Die
Petrograder Konferenz stellte sozusagen eine Generalprobe des Parteitages dar,
der am 26. Juli eröffnet wurde. In diesem Augenblick waren fast alle
Petrograder Stadtteilsowjets in den Händen der Bolschewiki. In den
Fabrikkomitees sowohl als in den Gewerkschaftsleitungen war der
bolschewistische Einfluß vorherrschend geworden. Die organisatorische
Vorbereitung des Parteitags war in Swerdlows Händen konzentriert. Die
politische Vorbereitung aber leitete Lenin von seinem Versteck aus. In Briefen
an das Zentralkomitee und an die bolschewistischen Presseorgane, die wieder zu
erscheinen begonnen hatten, beleuchtete er die verschiedenen Aspekte der
politischen Lage. Er war es, der die Hauptresolutionen des Parteitags skizziert
und der darüber hinaus in geheimen Zusammenkünften die anzuwendenden Argumente
im vorhinein sorgfältig mit den Referenten durchgesprochen hatte.
Der
Parteitag wurde unter der Bezeichnung »Vereinigungsparteitag« einberufen, da
auf ihm der Eintritt der Petersburger »Meschrajonnaja«
(»Interdistrikts-Organisation«) in die Partei vollzogen
werden sollte, der Joffe, Uritzky, Rjasanow, Lunatscharsky, Pokrowsky,
Manuilski, Jurenew, Karachan, Trotzky und andere Revolutionäre angehörten, die
alle in der einen oder anderen Weise in die Geschichte der Sowjetrevolution
eingegangen sind. »In den Kriegsjahren«, heißt es in einer Anmerkung zu Lenins
»Sämtlichen Werken«, »standen die ›Meschrajonzy‹ (›Interdistriktler‹) dem
Petrograder bolschewistischen Komitee nahe.« Dieser Organisation gehörten zur
Zeit des Kongresses ungefähr viertausend Arbeiter an.
Als über den
Parteitag, der halblegal in zwei verschiedenen Arbeitervierteln stattfand,
Informationen in die Presse gelangten, sprach man in Regierungskreisen davon,
den Kongreß aufzulösen; als es sich jedoch darum handelte, eine Entscheidung zu
treffen, dünkte es Kerensky besser, seine Nase nicht in die Angelegenheiten der
Wyborger Vorstadt zu stecken. Dem großen Publikum blieben die Veranstalter des
Kongresses unbekannt. Unter den bolschewistischen Kongreßteilnehmern waren
Swerdlow, Bucharin, Stalin, Molotow, Woroschilow, Ordschonikidse, Jurenew,
Manuilski ... Im Präsidium saßen Swerdlow, Olminski, Lomow, Jurenew und Stalin.
Auch dann, wenn die prominentesten Bolschewiki nicht anwesend waren, figurierte
Stalins Name immer an letzter Stelle. Der Parteitag beschloß, an »Lenin,
Trotzky, Sinowjew, Lunatscharsky, Kamenew, die Kollantai und an alle anderen
verhafteten und verfolgten Genossen« Grüße zu senden. Die zuletzt Genannten
wurden ins Ehrenpräsidium gewählt; in der Ausgabe von 1938 wird nur Lenins Wahl
erwähnt ...
Swerdlow
berichtete über die organisatorische Arbeit des Zentralkomitees. Seit der
Aprilkonferenz war die Mitgliederzahl der Partei von 80 000 auf 240 000
gestiegen, das heißt, sie hatte sich verdreifacht. Unter Berücksichtigung der
Schläge der Julizeit war das ein gesundes Wachstum. Erstaunlich bleibt, wie
unbedeutend die Auflageziffer der gesamten bolschewistischen Presse war: 320
000 Exemplare für ein so riesiges Land. Aber das revolutionäre Element ist ein
guter Stromleiter: die bolschewistischen Ideen bahnten sich ihren Weg in das
Bewußtsein von Millionen Menschen.
Stalin
wiederholte zwei seiner Berichte, den über die politische Tätigkeit des
Zentralkomitees und den über die herrschende Situation. Zu den Gemeindewahlen,
bei denen die Bolschewiki in der Hauptstadt zwanzig Prozent der Stimmen
erhalten hatten, erklärte Stalin: »Das Zentralkomitee ...
riß alle seine Kräfte zusammen, um sowohl die Kadetten zu bekämpfen, die die
Hauptkraft der Konterrevolution darstellen, als auch die Menschewiki und die
Sozialrevolutionäre, die den Kadetten freiwillig oder unfreiwillig folgen.« Es
war viel Wasser den Berg hinuntergeflossen seit der Märzkonferenz, auf der
Stalin die Menschewiki und die Sozialrevolutionäre zur »revolutionären
Demokratie« gezählt und den Kadetten die Mission anvertraut hatte, die
Errungenschaften der Revolution zu »konsolidieren«.
Im
Widerspruch zu aller Tradition wurden die Fragen des Krieges, des
Sozialpatriotismus, des Zusammenbruchs der Zweiten Internationale und der
Strömungen in der sozialistischen Weltbewegung nicht im politischen Referat
behandelt, sondern Bucharin anvertraut – Stalin war auf dem Gebiet der
internationalen Fragen einfach verloren. Bucharin wies nach, daß die Kampagne
für den Frieden mittels eines »Drucks« auf die Provisorische Regierung und die
anderen Entente-Regierungen vollständig Bankerott gemacht hatte und daß nur der
Sturz der Provisorischen Regierung eine demokratische Beendigung des Krieges in
nahe Aussicht stellen konnte. Gleich nach Bucharin sprach Stalin über die
Aufgaben der Partei. Es wurde zu gleicher Zeit über beide Berichte diskutiert,
obwohl sich herausstellte, daß die Ansichten der beiden Redner nicht
vollständig miteinander übereinstimmten.
»Einige
Genossen behaupten«, erklärte Stalin, »daß es utopisch sei, die Frage der
sozialistischen Revolution zu stellen, weil der Kapitalismus bei uns schwach
entwickelt ist. Sie würden recht haben, wenn es keinen Krieg gäbe, wenn es
keine Desorganisation gäbe, wenn die Grundlagen der Volkswirtschaft nicht
erschüttert wären, aber heute stellt sich die Frage des Eingriffs auf
wirtschaftlichem Gebiet in allen Ländern als dringlichste Frage ...« Außerdem
»hat das Proletariat nirgends so breite Organisationen wie die Sowjets ... All
das schließt die Möglichkeit aus, daß die Arbeitermassen nicht in das
ökonomische Leben eingreifen. Hier liegt die wirkliche Begründung dafür, daß
die Frage der sozialistischen Revolution bei uns in Rußland gestellt werden
kann«.
Erstaunen
macht die offenbare Ungereimtheit des Hauptargumentes: wenn die schwache
Entwicklung des Kapitalismus das Programm der sozialistischen Revolution zu
einer Utopie macht, dann können uns die durch den Krieg hervorgerufenen Zerstörungen der Ära des Sozialismus nicht näher bringen,
sondern müssen uns im Gegenteil von ihr entfernen. In Wirklichkeit wurde die
Tendenz für die Umwandlung der demokratischen Revolution in die sozialistische
Revolution nicht durch die Zerstörung der Produktivkräfte im Kriege
hervorgerufen, sondern lag in der sozialen Struktur des russischen Kapitalismus
begründet. Diese Entdeckung konnte vor dem Kriege und unabhängig vom Kriege
gemacht werden – und sie wurde es. Gewiß, der Krieg beschleunigte die
revolutionäre Entwicklung der Massen unendlich, veränderte aber keineswegs den
sozialen Inhalt der Revolution. Gesagt muß übrigens werden, daß Stalin sein
Argument vereinzelten und nicht weiter entwickelten Bemerkungen Lenins entnahm,
die dazu bestimmt gewesen waren, den alten Kadern die Notwendigkeit einer
Umrüstung der Partei klarzumachen.
Bucharin
versuchte in der Diskussion, das alte bolschewistische Schema teilweise zu
verteidigen: in der ersten Revolution marschierte das russische Proletariat
Hand in Hand mit der Bauernschaft im Namen der Demokratie, in der zweiten
Revolution Hand in Hand mit dem europäischen Proletariat im Namen des
Sozialismus. »Worin besteht Bucharins Perspektive?« erwiderte Stalin. »Seiner
Meinung nach marschierten wir in der ersten Etappe in die Bauernrevolution.
Aber sie kann nicht anders ... als mit der Arbeiterrevolution zusammenfallen.
Es ist unmöglich, daß die Arbeiterklasse, die die Vorhut der Revolution bildet,
nicht zu gleicher Zeit für ihre eigenen Forderungen kämpft. Darum halte ich
Bucharins Schema für schlecht durchdacht.« Das war durchaus richtig. Die
Bauernrevolution konnte nur siegen, indem sie das Proletariat an die Macht
brachte. Das Proletariat konnte sich nicht an der Macht halten, ohne die
sozialistische Revolution einzuleiten. Stalin wandte gegen Bucharin die
Argumente an, die zum erstenmal Anfang 1905 dargelegt und bis zum April 1917
als »utopisch« abgetan worden waren. Wenige Jahre später aber hatte Stalin
diese von ihm auf dem Sechsten Parteitag benützten Argumente vergessen und
verhalf zusammen mit Bucharin der Formel von der »demokratischen Diktatur« zur
Wiederauferstehung, einer Formel, die im Programm der Kommunistischen
Internationale einen breiten Platz einnehmen und in den Revolutionsbewegungen
Chinas und anderer Länder eine verhängnisvolle Rolle spielen sollte.
Die
Hauptaufgabe des Parteitags war, die Losung von der friedlichen Übernahme der
Macht durch die Sowjets durch die der Vorbereitung des
bewaffneten Aufstandes zu ersetzen. Hierzu war vor allem Verständnis für den
Umschwung erforderlich, der sich im Kräfteverhältnis ergeben hatte. Die
allgemeine Richtung dieses Umschwungs war klar: vom Volk zur Bourgeoisie.
Bedeutend schwieriger aber war es, das Ausmaß des Umschwungs zu überschauen:
das neue Kräfteverhältnis konnte nur an einem neuen bewaffneten Zusammenstoß
der Klassen gemessen werden. Zu einer solchen Prüfung wurde die Revolte des
Generals Kornilow Ende August, bei der sich mit einem Schlage herausstellte,
daß die Bourgeoisie noch immer nicht weder über die Unterstützung durch das
Volk noch über die durch die Armee verfügte. Der im Juli vor sich gegangene
Umschwung hatte also nur oberflächlichen und vorübergehenden Charakter, er war
nichtsdestoweniger Tatsache: es war infolgedessen unsinnig von einem
friedlichen Übergang der Macht an die Sowjets zu sprechen. Was Lenin bei der
Festlegung des neuen Kurses vor allem beschäftigte, war, die Partei fähig zu
machen, den veränderten Verhältnissen mit der größtmöglichen Entschlossenheit
gegenüberzutreten. In gewissem Sinne griff er zu einer mutwilligen
Übertreibung: es ist gefährlicher, die Kräfte des Feindes zu unterschätzen, als
sie zu überschätzen. Es war die Übertreibung in der Einschätzung, die den
Parteitag, wie seinerzeit die Petersburger Konferenz, aufscheuchte – um so
mehr, als Stalin Lenins Ideen in versimpelter Weise wiedergab.
»Die
Situation ist klar«, sagte Stalin, »heute spricht niemand mehr von
Doppelherrschaft. Früher waren die Sowjets eine wirkliche Kraft, jetzt sind sie
nur noch die Organe für den Zusammenschluß der Massen, aber sie haben keine
Macht mehr.« Einige Delegierte wiesen mit Recht darauf hin, daß die Reaktion im
Juli zwar vorübergehend triumphiert, die Konterrevolution aber nicht gesiegt
hatte und die Doppelherrschaft noch nicht zugunsten der Bourgeoisie aufgehoben
war. Hierauf wußte Stalin nur mit einem Axiom zu antworten: »Während einer
Revolution gibt es keine Reaktion.« In Wirklichkeit besteht die Kreisbahn jeder
Revolution aus aufsteigenden und absteigenden Linien. Die Rückständigkeit der
Masse selbst und die Schläge, die der Feind zurückgibt, Schläge, die das
herrschende Regime den Bedürfnissen der gegenrevolutionären Klasse anpassen,
verlagern nicht die Achse der Macht, fördern aber die Reaktion. Etwas ganz
anderes ist ein Sieg der Konterrevolution: er ist unvorstellbar ohne den
Übergang der Macht in die Hände einer anderen Klasse. Ein
so entscheidender Übergang hatte im Juli nicht stattgefunden. Sowjetische
Historiker und Kommentatoren schreiben noch heute von einem Buch zum andern
immer wieder Stalins Formeln ab, ohne sich auch nur einen Augenblick die Frage
vorzulegen: wenn im Juli die Macht in die Hände der Bourgeoisie übergegangen
ist, warum mußte diese dann im August zum Aufstand greifen? Vor den
Juliereignissen nannte man Doppelherrschaft das Regime, in dem die
Provisorische Regierung nicht mehr als ein Phantom war, während die wirkliche
Macht bei den Sowjets lag. Nach den Juliereignissen ging ein Teil der Macht von
den Sowjets an die Bourgeoisie über, aber nur ein Teil: die Doppelherrschaft
verschwand nicht. Eben diese Tatsache bestimmte später den Charakter der
Oktoberrevolution.
»Wenn es den
Konterrevolutionären gelingt, sich einen oder zwei Monate zu halten«, führte
Stalin weiter aus, »so ist das nur möglich, weil das Koalitionsprinzip
aufrechterhalten wird. Da sich aber die konterrevolutionären Kräfte entwickeln,
werden Explosionen eintreten, und der Moment wird kommen, wo sich die Arbeiter
erheben und die armen Bauernschichten um sich sammeln, die Fahne der
Arbeiterrevolution schwingen und das Zeitalter der sozialistischen Revolution
im Abendland eröffnen werden.« Halten wir fest: die Mission des russischen
Proletariats ist es, »das Zeitalter der sozialistischen Revolution im Abendland
zu eröffnen«. Das wurde zur Losung der Partei für die folgenden Jahre. Im
Grunde gibt Stalins Bericht die richtige Einschätzung der Situation und die
richtigen Voraussagen – Lenins Einschätzung und Lenins Voraussagen. Wie üblich
fehlt es der Rede aber an innerem Aufbau. Der Redner behauptet, ohne zu
beweisen. Die Einschätzungen, zu denen er kommt, sind entweder nicht von einer
höheren Warte aus gesehen oder einfach fertig übernommen worden; sie sind nicht
durch das Laboratorium analytischen Denkens hindurchgegangen, und ihnen mangelt
der organische Zusammenhang, der von sich selbst aus die notwendigen Argumente,
Vergleiche und Illustrationen hervorbringt. Stalins Polemik besteht in der
Wiederholung von Ideen, die bereits ausgesprochen worden sind – manchmal
wiederholt er sie in aphoristischer Form, die als bereits bewiesen betrachtet,
was erst noch zu beweisen ist. Oft sind seine Argumente mit Grobheiten
gespickt, besonders am Schluß einer Rede, wenn keine Replik eines Gegners mehr
zu fürchten ist.
In einer dem Sechsten Parteitag gewidmeten
Veröffentlichung von 1928 lesen wir: »Lenin, Stalin, Swerdlow, Dzerschinsky und
andere wurden zu Mitgliedern des Zentralkomitees gewählt.« Neben Stalin sind
nur drei Verstorbene erwähnt. Aus den Kongreßprotokollen erhellt aber, daß
einundzwanzig Mitglieder und zehn Stellvertreter ins Zentralkomitee gewählt
wurden. In Anbetracht der halblegalen Stellung der Partei wurden die Namen der
in geheimer Abstimmung Gewählten auf dem Parteitag nicht bekanntgegeben, mit
Ausnahme der vier, die die meisten Stimmen erhalten hatten: Lenin 133 Stimmen
von 134, Sinowjew 132, Kamenew 131, Trotzky 131. Außer ihnen wurden gewählt:
Nogin, Kollontai, Stalin, Swerdlow, Rykow, Bucharin, Artem, Uritzky, Miljutin,
Berzin, Bubnow, Dzerschinsky, Krestinsky, Muranow, Smilga, Sokolnikow,
Schaomyan. Die Namen sind der Anzahl der Stimmen nach geordnet, die sie auf
sich vereinigt haben. Von den Namen der gewählten Stellvertreter konnten acht
ermittelt werden: Lomow, Joffe, Stassowa, Jakowlewa, Tschaparidse, Kisseljew,
Preobraschensky, Skrypnik.
Der
Parteitag endete am 3. August. Einen Tag später wurde Kamenew aus dem Gefängnis
entlassen. Von da an sprach er nicht nur regelmäßig in den Sowjetinstitutionen,
sondern übte auch auf die allgemeine Politik der Partei und auf Stalin
persönlich merklichen Einfluß aus. Beide, wenn auch in verschiedenen Graden,
hatten sich dem neuen Kurs angepaßt. Es fiel ihnen aber nicht gerade leicht,
sich von ihren alten Denkgewohnheiten freizumachen. Wo er kann, rundet Kamenew
die Ecken der Leninschen Politik ab. Stalin hat nichts dagegen einzuwenden, nur
will er sich nicht selbst irgendeine Blöße geben. Zu einem offenen Zwist kam es
gelegentlich der sozialistischen Konferenz von Stockholm, zu der die Initiative
von den deutschen Sozialdemokraten ausgegangen war. Die russischen Kompromißler
und Patrioten, immer bereit, sich an jeden Strohhalm zu klammern, hielten diese
Konferenz für eine wichtige Waffe im »Kampf für den Frieden«. Im Gegensatz dazu
trat der der Verbindung mit dem deutschen Generalstab beschuldigte Lenin scharf
gegen jede Beteiligung an einem Unternehmen auf, hinter dem, wie jeder wußte,
die deutsche Regierung steckte. Auf der Sitzung des Zentralen Exekutivkomitees
vom 6. August nahm Kamenew offen für die Teilnahme an der Konferenz Stellung.
Stalin dachte nicht daran, die Auffassung der Partei im »Proletarij« (»Der
Proletarier«), wie die »Prawda« jetzt hieß, zu verteidigen. Im Gegenteil,
ein heftiger Artikel Lenins gegen Kamenew stieß auf die Opposition Stalins und
erschien erst zehn Tage später im Druck, und zwar erst nach dringenden
Vorstellungen des Verfassers und nachdem dieser an die Unterstützung anderer
Mitglieder des Zentralkomitees appelliert hatte. Aber auch dann noch stellte
sich Stalin nicht offen auf Kamenews Seite.
Unmittelbar
nach seiner Freilassung wurde in der Presse ein vom demokratischen
Justizministerium ausgehendes Gerücht lanciert, wonach Kamenew mit der
zaristischen Geheimpolizei in Verbindung gestanden habe. Kamenew verlangte eine
Untersuchung. Das Zentralkomitee beauftragte Stalin, »mit Gotz (einem der
Sozialrevolutionären Führer) wegen einer Kommission zur Untersuchung des Falles
Kamenew zu sprechen«. Solche Aufgaben waren ihm, wie wir gesehen haben, schon
einige Male übertragen worden: mit dem Menschewiken Bogdanow wegen der
Kronstädter Matrosen zu »sprechen«, mit dem Menschewiken Anissimow wegen der
Garantien für Lenin zu »sprechen«. Immer hinter den Kulissen, war Stalin besser
als andere für diese Art heikler Missionen geeignet. Darüber hinaus war das
Zentralkomitee stets dessen sicher, daß sich Stalin bei Verhandlungen mit einem
Gegner nicht übers Ohr hauen ließ.
»Das
Schlangengezisch der Konterrevolution«, schrieb Stalin am 13. August über die
Verleumdungen, denen Kamenew ausgesetzt war, »wird wieder lauter. Aus seinem
Schlupfwinkel heraus streckt das geifernde Ungeheuer der Reaktion seinen
giftigen Stachel hervor. Es wird zustechen und sich wieder in seinen finsteren
Winkel verkriechen« und so weiter im Stile der Tifliser »Chamäleons«. Doch ist
der Artikel nicht nur seines Stiles wegen interessant. »Die infame Hetze, die
Schwelgerei in Lüge und Verleumdung, die schamlose Irreführung, die niedrige
Fälschung und Erdichtung«, so fährt der Autor fort, »nehmen einen in der
Geschichte bisher unbekannten Umfang an ... Zuerst versuchten sie, bewährte
Kämpfer der Revolution für deutsche Spione auszugeben, als das fehlgeschlagen
war, wollte man aus ihnen zaristische Spitzel machen. So versuchen sie, Männer,
die ihr ganzes bewußtes Leben der Sache des revolutionären Kampfes gegen den
Zarismus gewidmet haben, jetzt ... als zaristische Spione hinzustellen. Der
politische Sinn von alledem versteht sich von selbst: die Herren der
Konterrevolution müssen um jeden Preis Kamenew, der ein anerkannter Führer des
revolutionären Proletariats ist, unschädlich machen und aus
dem Wege räumen.« Unglücklicherweise fand sich dieser Artikel nicht in den
Materialien des Staatsanwalts Wyschinsky auf Kamenews Prozeß im Jahre 1936.
Am 30.
August brachte Stalin ohne irgendeine redaktionelle Bemerkung einen von
Sinowjew stammenden nicht gezeichneten Artikel, »Was man nicht tun sollte!«
überschrieben, der offensichtlich gegen die Vorbereitung des Aufstandes
gerichtet war. »Man muß der Wahrheit ins Gesicht schauen: in Petrograd sind
jetzt viele Umstände dem Ausbruch einer Insurrektion in der Art der Pariser
Kommune von 1871 günstig.« Ohne Sinowjew zu nennen, schrieb Lenin am 3.
September: »Die Anspielung auf die Kommune ist oberflächlich und sogar stupide
... Die Kommune konnte dem Volke nicht mit einem Schlage das geben, was ihm die
Bolschewiki geben können, wenn sie die Macht übernehmen, nämlich das Land den
Bauern und unmittelbare Friedens vorschlage.« Der Hieb gegen Sinowjew prallte
auf den Redakteur der Zeitung zurück. Aber Stalin schwieg. Bereit, anonym einen
von rechts kommenden Angriff auf Lenin zu unterstützen, hütet er sich wohl,
selbst einzugreifen. Beim ersten Anzeichen von Gefahr springt er ab.
Über Stalins
journalistische Arbeit in dieser Periode ist so gut wie nichts zu sagen. Er war
Chefredakteur des Zentralorgans, nicht, weil er ein Schriftsteller, sondern
weil er kein Redner und überhaupt unfähig war, öffentlich aufzutreten. Er
schrieb nicht einen einzigen Artikel, der die Aufmerksamkeit auf ihn gelenkt
hätte; er stellte nicht ein einziges neues Problem zur Diskussion; er setzte
keine einzige Losung in Umlauf. Er kommentierte die Ereignisse in
unpersönlicher Sprache im Rahmen der von der Partei festgelegten Konzeptionen.
Ein Parteibeamter in der Redaktion, kein revolutionärer Publizist.
Das
Wiederaufleben der Massenbewegung und die Wiederaufnahme ihrer Tätigkeit durch
diejenigen Mitglieder des Zentralkomitees, die eine Zeitlang zur Untätigkeit
verdammt gewesen waren, drängten Stalin natürlich wieder aus der leitenden
Position hinaus, die er zur Zeit des Julikongresses innegehabt hatte. Von nun
an wird seine Tätigkeit wieder obskur – den Massen unbekannt, vom Feinde
unbemerkt. Im Jahre 1924 veröffentlichte die Historische Kommission der Partei
eine umfangreiche Chronik der Revolution in mehreren Bänden. Auf den 422 Seiten
des IV. Bandes, der August und September behandelt, sind alle Ereignisse
verzeichnet, alle Episoden, Konflikte, Resolutionen, Reden,
Artikel, die irgendwie verdienen, verzeichnet zu werden. Swerdlow, damals wenig
bekannt, wird in dem Bande dreimal genannt, Kamenew sechsundvierzigmal,
Trotzky, der August und September im Gefängnis verbrachte, einunddreißigmal,
Lenin, der in der Illegalität war, sechzehnmal, Sinowjew, der Lenins Schicksal
teilte, sechsmal; Stalin wird nicht ein einziges Mal erwähnt. Stalins Name
steht nicht im Register, das über 500 Namen enthält. Mit anderen Worten, in
diesen beiden Monaten hat die Presse nichts von dem verzeichnet, was er sagte
oder tat, und keiner der bekannteren Teilnehmer an den Ereignissen hat seinen
Namen auch nur ein einziges Mal ausgesprochen.
Glücklicherweise
ermöglichen es die – allerdings bei weitem nicht vollständig – erhalten
gebliebenen Protokolle des Zentralkomitees, Stalins Rolle im Leben der Partei
oder besser gesagt in deren Generalstab während der sieben Monate vom August
1917 bis zum Februar 1918 mehr oder weniger genau zu verfolgen. Auf Konferenzen
und Kongresse aller Art wurden, da die politischen Führer abwesend waren,
Miljutin, Smilga, Glebow delegiert, Persönlichkeiten von wenig Einfluß, aber
besser für öffentliches Auftreten geeignet als Stalin. Gelegentlich von
Parteibeschlüssen taucht Stalins Name nur selten auf. Uritzky, Sokolnikow und
Stalin sind beauftragt worden, eine Kommission für die Wahlen zur
Konstituierenden Versammlung zu organisieren. Die gleichen hatten eine
Resolution über die Stockholmer Konferenz zu verfassen. Stalin wurde beauftragt,
mit einer Druckerei wegen des Wiedererscheinens des Zentralorgans zu
verhandeln. Noch eine Kommission zur Abfassung einer Resolution usw. Nach dem
Juliparteitag war ein Vorschlag Stalins angenommen worden, die Arbeit des
Zentralkomitees nach den Prinzipien einer »strikten Aufteilung der Funktionen«
zu organisieren. Das ist allerdings leichter zu sagen als durchzuführen: der
Lauf der Ereignisse sollte noch auf einige Zeit hinaus die Funktionen
durcheinander würfeln und gefaßte Beschlüsse umstürzen. Am 2. September
ernannte das Zentralkomitee die Redaktionskomitees für das Wochenblatt und die
Monatszeitschrift, beide unter Teilnahme von Stalin. Am 6. September, nach der
Freilassung Trotzkys, wurden Stalin und Rjasanow in der Leitung der
theoretischen Zeitschrift durch Trotzky und Kamenew ersetzt. Doch bleibt es
auch in bezug auf diesen Entschluß lediglich bei einer Notiz in den
Protokollen. In der Tat erschienen die beiden Zeitschriften nur je einmal, und
die wirklichen Redaktionskomitees stimmten keineswegs mit
den ernannten überein.
Am 5.
Oktober stellte das Zentralkomitee eine Kommission auf, die den Entwurf eines
Parteiprogramms für den bevorstehenden Parteitag ausarbeiten sollte. Die
Kommission setzt sich zusammen aus Lenin, Bucharin, Trotzky, Kamenew,
Sokolnikow, Kollontai. Stalin gehört ihr nicht an. Nicht, weil sich
irgendjemand seiner Kandidatur widersetzt hätte, sondern einfach weil sein Name
niemandem in den Sinn kommt, wenn es sich darum handelt, das wichtigste
theoretische Dokument der Partei auszuarbeiten. Indes, die Programmkommission
tritt nicht ein einziges Mal zusammen – ganz andere Aufgaben standen auf der
Tagesordnung. Die Partei führte den Aufstand und kam zur Macht, ohne ein
vollendetes Programm zu besitzen. Sogar in bezug auf die inneren
Parteiangelegenheiten disponierten die Ereignisse über die Menschen nicht immer
entsprechend den Entscheidungen und Plänen der Parteihierarchie. Das
Zentralkomitee schuf Redaktionen, Kommissionen, Dreiergruppen, Fünfergruppen,
Siebenergruppen – bevor sie zusammentreten konnten, traten neue Ereignisse ein,
und alle Welt vergaß die gestern gefaßten Beschlüsse. Hinzu kommt, daß die
Protokolle aus konspirativen Gründen sorgfältig verborgen gehalten wurden und
sie niemals jemand konsultierte.
Recht
erstaunlich ist die relativ häufige Abwesenheit Stalins. Auf sechs von
vierundzwanzig Sitzungen des Zentralkomitees im August, September und in der
ersten Oktoberwoche war er nicht anwesend; von sechs weiteren Sitzungen fehlt
die Anwesenheitsliste. Diese Unregelmäßigkeit ist um so weniger erklärlich, als
Stalin keinen Teil an der Arbeit des Sowjets und des Zentralen Exekutivkomitees
hatte und keine Versammlungen besuchte. Er selbst maß natürlich seiner
Teilnahme an den Sitzungen des Zentralkomitees nicht die Bedeutung bei, die er
ihr heute zuerteilt. In einer gewissen Anzahl von Fällen erklärt sich seine
Abwesenheit zweifelsohne durch irgendeinen Affront, den man ihm angetan hatte,
und die Verärgerung, die daraus folgte: wenn er seinen Willen nicht durchsetzen
kann, zieht er es vor, sich nicht zu zeigen und über Racheträumen zu brüten.
Interessant
ist die Reihenfolge, in der die anwesenden Mitglieder des Zentralkomitees in
die Protokolle eingetragen worden sind. Am 13. September: Trotzky, Kamenew,
Stalin, Swerdlow und andere. Am 15. September: Trotzky, Kamenew, Rykow, Nogin, Stalin, Swerdlow und andere. Am 20. September:
Trotzky, Uritzky, Bubnow, Bucharin und andere (Stalin und Kamenew sind nicht
anwesend). Am 21. September: Trotzky, Kamenew, Stalin, Sokolnikow und andere.
Am 23. September: Trotzky, Kamenew, Sinowjew und andere (Stalin ist abwesend).
Die Reihenfolge der Namen war natürlich nicht reglementiert und wurde manchmal
umgeworfen. Trotzdem war sie keine zufällige, besonders wenn man in Rechnung
stellt, daß Stalins Name in der voraufgegangenen Periode, in der Trotzky,
Sinowjew und Kamenew abwesend gewesen waren, in den Protokollen an erster
Stelle figurierte. Das sind natürlich Details, aber wesentlichere Dinge sind
nicht aufzufinden; außerdem spiegeln diese Details das alltägliche Leben des
Zentralkomitees sowohl als den Platz, den Stalin darin einnahm, unparteiisch
wider.
Je höher der
Schwung der Bewegung geht, um so kleiner der Platz, den Stalin in ihr einnimmt
und um so schwerer fällt es ihm, sich aus der Reihe der durchschnittlichen
Mitglieder des Zentralkomitees herauszuheben. Im Oktober, dem entscheidenden
Monat eines entscheidenden Jahres, ist von ihm weniger denn je zu merken. Dem
Rumpf des Zentralkomitees, dieser einzigen Stütze Stalins, mangelt es in jenen
Monaten gleichfalls an Selbstvertrauen. Allzu oft werden seine Beschlüsse durch
eine von unten ausgehende Initiative umgestoßen. Der ganze Parteiapparat
verliert in der unruhigen revolutionären Zeit den festen Boden unter den Füßen.
Je breiter und tiefer der Einfluß der bolschewistischen Parolen, um so
schwieriger wird es für die Komiteeleute, die Bewegung zu meistern. Der Raum
wird um so enger für den Parteiapparat, je größer der Einfluß der Partei auf
die Sowjets wird. Das ist eins der Paradoxe der Revolution.
Zahlreiche
Historiker, darunter die gewissenhaftesten, haben die Bedingungen, die sich
erst bedeutend später herausbildeten, als der überflutende Strom längst in
seine Ufer zurückgetreten war, auf das Jahr 1917 übertragen und die Dinge so
dargestellt, als hätte das Zentralkomitee direkt die Politik des Petrograder
Sowjets geleitet, der gegen Anfang September bolschewistisch geworden war. Das
war aber in Wirklichkeit nicht der Fall; aus den Protokollen geht ohne den
Schatten eines Zweifels hervor, daß, mit Ausnahme einiger Vollsitzungen, an
denen Lenin, Sinowjew und Trotzky teilnahmen, das Zentralkomitee keine
politische Rolle spielte. In keiner entscheidenden Frage ergriff es die
Initiative. Zahllose in jener Periode gefaßte Beschlüsse des Zentralkomitees
blieben in der Luft hängen, da sie mit den Beschlüssen des Sowjets
zusammenstießen. Die wichtigsten Entschließungen des Sowjets wurden
durchgeführt, bevor das Zentralkomitee Zeit fand, sie zu begutachten. Erst nach
der Machteroberung, nach der Beendigung des Bürgerkrieges und der Errichtung
eines festen Regimes konzentrierte das Zentralkomitee nach und nach die Leitung
der Tätigkeit des Sowjets in seinen Händen. Erst da kam Stalins Zeit.
Am 8. August
eröffnete das Zentralkomitee eine Kampagne gegen die Regierungskonferenz, die
von Kerensky nach Moskau einberufen worden war und Manipulationen im Interesse
der Bourgeoisie vornehmen wollte. Die Konferenz begann am 12. August. Sie stand
im Zeichen eines allgemeinen Proteststreiks der Moskauer Arbeiter. Die
Bolschewiki, denen der Zutritt zur Konferenz verweigert worden war, hatten ein
wirksames Mittel gefunden, ihre Stärke zu zeigen. Die Bourgeoisie war
erschrocken und wütend. Nachdem er am 21. August Riga den Deutschen überlassen
hatte, unternahm der Oberbefehlshaber Kornilow am 25. des gleichen Monats
seinen Marsch auf Petrograd, in der Absicht, seine persönliche Diktatur zu
errichten. Kerensky, der sich in seinen Kornilow betreffenden Kalkulationen
getäuscht hatte, erklärte den Oberbefehlshaber zum »Vaterlandsverräter«. Selbst
in diesem entscheidenden Augenblick, am 27. August, erschien Stalin nicht im
Zentralen Exekutivkomitee. Es war Sokolnikow, der dort im Namen der Bolschewiki
auftrat. Er kündigte an, daß die Bolschewiki bereit wären, sich über die zu
treffenden militärischen Maßnahmen mit den Organen der Sowjetmehrheit zu
verständigen! Die Menschewiki und Sozialrevolutionäre nahmen die Vorschläge
dankbar an – aber auch zähneknirschend, denn die Arbeiter und Soldaten standen
auf Seiten der Bolschewiki. Die schnelle und ohne Blutvergießen vor sich
gegangene Beilegung der Kornilowschen Rebellion gibt den Sowjets vollständig
die Macht zurück, die sie im Juli teilweise verloren hatten. Die Bolschewiki
nehmen die Losung »Alle Macht den Sowjets!« wieder auf. Lenin schlägt den
Versöhnlern in der Presse einen Kompromiß vor: die Sowjets übernehmen die Macht
und sichern die völlige Agitationsfreiheit – die Bolschewiki bleiben völlig auf
dem Boden der Sowjet-Legalität. Hochmütig wiesen die Versöhnler den von links
kommenden Kompromißvorschlag zurück und suchten weiterhin nach Verbündeten auf
der Rechten.
Diese hochmütige Weigerung führte nur zu einer
Stärkung der Bolschewiki. Genau wie 1905 schmolz das Übergewicht, das die erste
Welle der Revolution den Menschewiki gebracht hatte, in der Atmosphäre des
hitziger werdenden Klassenkampfes immer mehr zusammen. Diesmal fiel aber zum
Unterschied von der ersten Revolution das Wachstum des Bolschewismus nicht mit
einem Niedergang, sondern mit einem Aufstieg der Massenbewegung zusammen. Im
Dorf nahm der im Grunde gleiche Prozeß eine andere Form an: von der unter der
Bauernschaft vorherrschenden Partei, den Sozialrevolutionären, löste sich ein
linker Flügel los, der mit den Bolschewiki Schritt zu halten versuchte. Die Garnisonen
der Großstädte gingen fast alle mit den Arbeitern. »Ja, die Bolschewiki haben
schwer und unermüdlich gearbeitet«, gesteht der linke Menschewik Suchanow, »sie
waren bei den Massen, in der Fabrik, täglich, dauernd ... Die Massen lebten und
atmeten mit den Bolschewiki. Sie waren ganz in den Händen der Partei Lenins und
Trotzkys.« Sie waren in den Händen der Partei, aber nicht in den Händen des
Parteiapparats.
Am 31.
August faßt der Petrograder Sowjet zum erstenmal eine bolschewistische
Resolution. Die Versöhnler wollten sich nicht geschlagen geben und entschieden
sich für eine neue Kraftprobe. Am 9. September wurde der Konflikt im Sowjet
ausgetragen. Die Abstimmung ergab 414 Stimmen für das alte Präsidium und die
Koalitionspolitik, 519 Stimmen dagegen und 67 Stimmenthaltungen. Die
Menschewiki und die Sozialrevolutionäre ernteten die Früchte ihrer Politik der
Versöhnung mit der Bourgeoisie. Der Sowjet begrüßte die neue
Koalitionsregierung mit einer von dem neuen Vorsitzenden, Trotzky,
vorgetragenen Resolution: »Die neue Regierung ... wird in die Geschichte der
Revolution als eine Regierung des Bürgerkrieges eingehen ... Der allrussische
Sowjetkongreß wird eine wirklich revolutionäre Macht schaffen.« Das war eine
offene Kriegserklärung an die Versöhnler, die den »Kompromiß« zurückgewiesen
hatten.
Am 14.
September wurde in Petrograd die sogenannte Demokratische Versammlung eröffnet,
die das Zentrale Exekutivkomitee scheinbar als Gegengewicht gegen die
Regierungskonferenz einberufen hatte, die aber in Wirklichkeit immer nur wieder
dieselbe, nun schon in völlige Fäulnis übergegangene Koalition sanktionieren
sollte. Einige Tage zuvor hatte Nadjeschda Krupskaja insgeheim
Lenin in Finnland besucht. In dem mit Soldaten angefüllten Eisenbahnwagen wurde
nicht von der Koalition gesprochen, sondern vom Aufstand. »Als ich Iljitsch von
diesen Gesprächen der Soldaten berichtete, bekam sein Gesicht einen
nachdenklichen Ausdruck, der auch später, als er von anderen Dingen sprach,
nicht verschwand. Es war klar, daß er nicht an die Dinge dachte, von denen er
sprach – er dachte an den Aufstand und daran, wie er am besten vorzubereiten
war.«
Am Tage der
Eröffnung, der Demokratischen Versammlung – diesem inhaltsleersten aller
Pseudoparlamente der Demokratie – sandte Lenin seine berühmten Briefe an das
Zentralkomitee: »Die Bolschewiki müssen die Macht übernehmen« und »Marxismus
und Insurrektion«. Diesmal forderte er zu unvermitteltem Handeln auf: Erhebung
der Soldatenregimenter und der Fabriken, Verhaftung der Regierung und der Demokratischen
Versammlung, Übernahme der Macht. Dieser Plan ist offensichtlich noch nicht
realisierbar, leitet aber Denken und Handeln des Zentralkomitees in neue
Kanäle. Kamenew bestand auf einer kategorischen Zurückweisung dieses
»verheerenden« Vorschlags Lenins. In der Befürchtung, daß die Briefe innerhalb
der Partei zirkulieren könnten, schlug Kamenew vor, sämtliche Exemplare zu
vernichten, bis auf eins, das in den Archiven aufbewahrt werden sollte, ein
Vorschlag, der sechs Stimmen auf sich vereinigen konnte. Stalin seinerseits
schlug vor, »die Briefe den wichtigsten Organisationen zu senden und sie
anzuregen, diese Briefe zu diskutieren«. Ein viel später abgefaßter Kommentar
behauptet, daß Stalins Vorschlag »das Ziel verfolgte, einen Einfluß der
Ortsparteikomitees auf das Zentralkomitee herzustellen und das Zentralkomitee
zu veranlassen, Lenins Direktiven zu folgen«. Wenn dem so gewesen wäre, so
hätte Stalin sich erhoben, um Lenins Vorschläge zu verteidigen, und hätte
Kamenews Resolution eine eigene Resolution entgegengesetzt. Von solchen
Gedanken war er aber weit entfernt. Die Ortskomitees in der Provinz standen in
ihrer Mehrheit weiter rechts als das Zentralkomitee. Ihnen die Briefe Lenins
ohne Befürwortung durch das Zentralkomitee übersenden, das hieß, sich gegen die
Briefe aussprechen. Stalin wollte einfach Zeit und die Möglichkeit gewinnen,
sich im Falle eines Konfliktes auf den Widerstand der Ortskomitees berufen zu
können. Es wurde beschlossen, die Frage der Briefe Lenins bis zur nächsten
Sitzung zurückzustellen. Lenin wartete mit äußerster Ungeduld auf die Antwort.
Auf der folgenden Sitzung, die erst fünf Tage später
stattfand, erschien Stalin jedoch überhaupt nicht, und die Frage der Briefe
wurde nicht einmal auf die Tagesordnung gesetzt. Je heißer die Atmosphäre wird,
um so kälter manövriert Stalin.
Die
Demokratische Versammlung hatte im Einverständnis mit der Bourgeoisie
beschlossen, eine dem Aussehen nach repräsentative Institution auf die Beine zu
stellen, der Kerensky konsultative Rechte versprochen hatte. Die dem Rat der
Republik oder Vorparlament gegenüber einzunehmende Haltung wurde für die
Bolschewiki sofort zu einer dornigen taktischen Frage: sollte man daran
teilnehmen oder geradeswegs auf den Aufstand losmarschieren? Als
Berichterstatter des Zentralkomitees auf der bolschewistischen Fraktion der
Demokratischen Versammlung trat ich für den Boykott ein. Das Zentralkomitee,
das über diese strittige Frage in ungefähr gleiche Teile gespalten war (neun
Stimmen gegen, acht für den Boykott), überließ es der Fraktion, die Debatte zum
Abschluß zu bringen. Um die beiden verschiedenen Gesichtspunkte darzulegen,
»wurden zwei Referate vorgeschlagen, eins von Trotzky, eins von Rykow«. »In
Wirklichkeit«, unterstrich Stalin im Jahre 1925, »gab es vier Referenten: zwei
für den Boykott (Trotzky und Stalin) und zwei für die Teilnahme (Kamenew und
Nogin).« Das ist ziemlich richtig; als die Fraktion beschloß, die Debatte zu
beenden, ließ sie noch einen Repräsentanten jeder Richtung zu Worte kommen:
Stalin für die Boykottisten und Kamenew – nicht Nogin – für die »Teilnehmer«.
Rykow und Kamenew erhielten 77, Trotzky und Stalin 50 Stimmen. Die Niederlage
der Boykott-Taktik war das Werk der Provinz vielerorts hatte man sich erst
kürzlich von den Menschewiki getrennt.
Oberflächlich
betrachtet möchte es scheinen, als seien die Meinungsverschiedenheiten nur
sekundärer Natur gewesen. In der Tat handelt es sich aber darum, ob sich die
Partei anschicken sollte, die Rolle der Opposition auf dem Terrain der
bürgerlichen Republik zu spielen oder ob sie sich die Machteroberung zur
Aufgabe stellte. Stalin stellte infolge der Bedeutung, die diese Vorgänge für
die offizielle Geschichtsschreibung haben, die Sache später so dar, als sei er
der Referent gewesen. Ein beflissener Redakteur fügte von sich aus ein, daß
Trotzky »eine Zwischenstellung eingenommen habe«. In späteren Ausgaben
erscheint Trotzkys Name überhaupt nicht mehr. Die neue »Geschichte« erklärt:
»Stalin trat entschieden gegen die Teilnahme am Vorparlament auf.«
Jedoch existiert außer der Zeugenschaft der Protokolle auch noch die von Lenin:
»Man muß das Vorparlament boykottieren«, schrieb er am 23. September. »Man muß
... zu den Massen gehen. Man muß ihnen eine richtige und klare Losung geben:
verjagt die bonapartistische Kerensky-Clique und ihr betrügerisches
Vorparlament!« Folgt die Anmerkung: »Trotzky ist für den Boykott. Bravo,
Genosse Trotzky!« Natürlich hat der Kreml offiziell angeordnet, aus der neuen
Ausgabe von Lenins »Sämtlichen Werken« alle solche ausgefallenen Bemerkungen
Lenins zu streichen.
Am 7.
Oktober verließ die bolschewistische Fraktion demonstrativ das Vorparlament.
»Wir appellieren an das Volk. Alle Macht den Sowjets!« Das kam einem Aufruf zur
Erhebung gleich. Am gleichen Tage wurde auf der Sitzung des Zentralkomitees
beschlossen, ein »Informationsbüro für den Kampf gegen die Konterrevolution« zu
schaffen. Dieser absichtlich nebelhaft gehaltene Name deckte eine ganz konkrete
Aufgabe: die Ausarbeitung und Vorbereitung des Aufstandes. Die Organisierung
dieses Büros wurde Trotzky, Swerdlow und Bubnow übertragen. Angesichts der
lakonischen Sprache, in der die Protokolle gehalten sind, und da andere
Dokumente nicht vorhanden sind, ist der Verfasser gezwungen, sich hier auf sein
eigenes Gedächtnis zu stützen. Stalin lehnte die Beteiligung am Büro ab und
schlug an seiner Stelle Bubnow vor, der über wenig Autorität verfügte. Seine
Haltung gegenüber der Idee vom Büro war reserviert, wenn nicht gar skeptisch.
Er war für den Aufstand, aber er glaubte nicht, daß die Arbeiter und Soldaten
zum Handeln bereit wären. Er lebte abseits, nicht nur abseits von den Massen,
sondern auch von ihren Vertretern in den Sowjets, und begnügte sich mit den
Eindrücken, die von dem Spiegel des Parteiapparats zurückgeworfen wurden. Die
Juli-Erfahrung war an den Massen nicht spurlos vorübergegangen. An Stelle des
bloßen blinden Drucks war Behutsamkeit getreten. Andererseits war das Vertrauen
in die Bolschewiki mit der Besorgnis gemischt: werden sie halten können, was
sie versprechen? Die bolschewistischen Agitatoren beklagten sich manches Mal
über die Gleichgültigkeit der Massen. In Wirklichkeit waren die Massen des
Wartens müde, der Unentschiedenheit, der Worte. Im Apparat aber wurde diese
Ermüdung oft als »Mangel an Kampfwillen« ausgelegt. Daher der Anflug von
Skepsis bei vielen bolschewistischen Komiteeleuten. Von all dem abgesehen,
verspüren selbst die mutigsten Männer ein gewisses
Unbehagen in der Magengrube, wenn sie sich kurz vor einem Aufstand oder sonst
irgendeinem Kampf befinden. Das wird nicht immer zugegeben, ist aber so.
Stalins innere Einstellung war doppelsinnig. Er hatte den April nicht
vergessen, als seine »Praktiker«-Weisheit einen so schlimmen Stoß erlitten
hatte; andererseits hatte er ungleich mehr Vertrauen in den Apparat als in die
Massen. Bei allen wichtigen Vorfällen sicherte er sich gegen jede Eventualität,
indem er mit Lenin stimmte. Aber er legte keinerlei Initiative im Sinne der
gefaßten Beschlüsse an den Tag, lehnte die direkte Teilnahme an entscheidenden
Aktionen ab, hielt sich immer eine Brücke für den Rückzug offen, übte auf
andere einen dämpfenden Einfluß aus – und verpaßte schließlich den
Oktoberaufstand.
Richtig ist,
daß das »Informationsbüro zum Kampf gegen die Konterrevolution« nichts
hervorgebracht hat. Das war aber nicht die Schuld der Massen. Am Neunten brach
ein neuer, sehr heftiger Konflikt zwischen dem Smolny und der Regierung aus,
die beschlossen hatte, die revolutionären Truppen aus der Hauptstadt zu
entfernen und sie an die Front zu schicken. Die Garnison schloß sich enger an
ihren Verteidiger, den Sowjet an. Die Vorbereitung des Aufstandes bekam mit
einem Schlage eine konkrete Grundlage. Der gestern die Initiative zur Gründung
des »Büros« ergriffen hatte, wandte nun seine ganze Aufmerksamkeit der
Schaffung eines militärischen Generalstabs beim Sowjet selbst zu. Der erste
Schritt hierzu wurde noch am selben Tage, am 9. Oktober, unternommen. »Um den
Versuchen des Hauptquartiers, die revolutionären Truppen aus der Hauptstadt
herauszuziehen, Widerstand zu leisten«, beschloß das Exekutivkomitee, ein
»Revolutionäres Militärkomitee« zu gründen. So nahm der Aufstand durch die
Logik der Dinge ohne irgendeine Diskussion im Zentralkomitee und fast
unerwarteterweise von der Arena des Sowjets seinen Ausgang und begann seinen
eigenen Generalstab zu schaffen, der weitaus mehr Wirkungskraft besaß als das
»Büro« vom 7. Oktober.
Die nächste
Sitzung des Zentralkomitees, an der Lenin mit einer Perücke bekleidet teilnahm,
wurde am 10. Oktober abgehalten und erlangte historische Bedeutung. Im
Mittelpunkt der Diskussion stand die Resolution Lenins, die den bewaffneten
Aufstand als unmittelbare praktische Aufgabe auf die Tagesordnung setzte. Das
Schwierigste, selbst für die überzeugtesten Anhänger des
Aufstandes, war die Frage des Zeitpunktes. Unter dem Druck der Bolschewiki
hatte das in den Händen der Versöhnler liegende Zentrale Exekutivkomitee in den
Tagen der Demokratischen Versammlung den Sowjetkongreß für den 20. Oktober
einberufen. Es war jetzt völlig sicher, daß der Kongreß eine bolschewistische
Mehrheit ergeben würde. Zumindest in Petrograd mußte der Aufstand um jeden
Preis vor dem 20. Oktober stattfinden, da sonst der Sowjetkongreß nicht nur
nicht in der Lage war, die Macht zu übernehmen, sondern womöglich
auseinandergetrieben werden würde. Auf der Sitzung des Zentralkomitees wurde
beschlossen – was nicht zu Papier gebracht wurde –, den Aufstand in Petrograd
gegen den 15. zu beginnen. Ungefähr fünf Tage blieben für die Vorbereitung.
Jeder fühlte, daß das nicht genügte. Jetzt war die Partei Gefangene eines
Datums, das sie selbst bei einer anderen Gelegenheit den Kompromißlern aufgedrängt
hatte. Die von Trotzky überbrachte Information, daß das Exekutivkomitee
beschlossen habe, seinen eigenen Militärstab zu schaffen, machte keinen großen
Eindruck, handelte es sich doch mehr um ein Projekt als um eine Tatsache. Alle
Aufmerksamkeit richtete sich auf die Polemik mit Sinowjew und Kamenew, die
entschieden gegen den Aufstand waren. Stalin hat anscheinend auf dieser Sitzung
überhaupt nicht gesprochen oder sich auf kurze Bemerkungen beschränkt, auf alle
Fälle ist in den Protokollen nichts von dem verzeichnet, was er gesagt haben
mag. Die Resolution wurde mit zehn gegen zwei Stimmen angenommen. Aber die
Zweifel über das Datum riefen bei allen Teilnehmern Besorgnis hervor.
Am Schluß
der Sitzung, die bis nach Mitternacht dauerte, wurde auf die eher zufällige
Initiative Dzerschinskys hin beschlossen, »für die politische Leitung des
Aufstandes ein Büro zu organisieren, bestehend aus Lenin, Sinowjew, Kamenew,
Trotzky, Stalin, Sokolnikow und Bubnow«. Dieser wichtige Beschluß hatte aber
keine praktischen Folgen. Lenin und Sinowjew blieben weiterhin versteckt,
Sinowjew und Kamenew waren unversöhnliche Gegner des Beschlusses vom 10.
Oktober. Das »Büro für die politische Leitung des Aufstandes« trat niemals
zusammen. Nur sein Name ist in einem mit Tinte und Feder dem mit Bleistift
geschriebenen, stark gekürzten Protokoll angefügten Postskriptum bewahrt
geblieben. Unter der abkürzenden Bezeichnung der »Sieben« ist das phantomhafte
Büro in die offizielle Historiographie eingegangen.
Die Arbeit für die Schaffung des Revolutionären
Militärkomitees ging weiter voran. Der schwerfällige Mechanismus der
Sowjetdemokratie erlaubte aber kein schnelles Voranschreiten. Und bis zum
Kongreß blieb nur noch wenig Zeit. Nicht ohne Grund fürchtete Lenin
Verzögerungen. Auf sein Verlangen hin wurde am 16. Oktober unter Teilnahme der
wichtigsten Petrograder Parteiarbeiter eine neue Sitzung des Zentralkomitees
abgehalten. Sinowjew und Kamenew waren noch immer in der Opposition. Formal
gesehen war ihre Position sogar stärker geworden: sechs Tage waren vergangen,
und der Aufstand hatte noch nicht begonnen. Sinowjew verlangte, daß die
Entscheidung bis zum Sowjetkongreß aufgeschoben würde, damit man sich mit den
Provinzdelegierten »verständigen« könne: im Grunde seines Herzens hoffte er auf
ihre Unterstützung. Die Debatten nahmen einen leidenschaftlichen Charakter an.
Stalin nahm zum ersten Male daran teil. »Den Tag des Aufstands«, sagte er,
»bestimmen die Umstände. Das ist der einzige Sinn der Resolution. Was Kamenew
und Sinowjew vorschlagen, führt objektiv dazu, der Konterrevolution Gelegenheit
zu geben, sich zu organisieren; wenn wir weiter nachgeben, werden wir die ganze
Revolution verlieren. Warum sollen wir nicht selbst das Datum und die
Bedingungen wählen, um der Konterrevolution nicht die Gelegenheit zu geben,
sich zu organisieren?« Der Redner verfocht das abstrakte Recht der Partei, den
Augenblick des Losschlagens selbst auszuwählen, während es sich darum handelte,
ein bestimmtes Datum festzulegen. Wenn sich der bolschewistische Sowjetkongreß
außerstande zeigte, unmittelbar die Macht zu übernehmen, so hätte er nur die
Losung »Alle Macht den Sowjets!« diskreditiert, indem er eine leere Phrase
daraus gemacht haben würde. Sinowjew betonte: »Wir müssen uns selbst ganz
entschieden sagen, daß wir in den nächsten fünf Tagen keinen Aufstand
unternehmen!« Kamenew sprach im gleichen Sinne. Stalin ging in seiner Antwort
nicht direkt darauf ein, sondern schloß mit den unerwarteten Worten: »Der
Petrograder Sowjet hat den Weg des Aufstands schon beschritten, indem er sich
geweigert hat, die Verschickung der Truppen zu sanktionieren.« Er wiederholte
hier einfach ohne jeden Zusammenhang mit seiner im übrigen abstrakten Rede die
Formulierung, die die Leiter des Revolutionären Militärkomitees in den vorhergegangenen
Tagen in der Propaganda angewandt hatten. Was aber sollte das bedeuten, »den
Weg des Aufstands schon beschritten«? Handelte es sich um
Tage oder Wochen? Stalin verzichtete vorsichtigerweise darauf, das zu
präzisieren. Er konnte die Situation nicht klar überschauen.
Im Verlauf
der Debatten brachte Daletzky, der Vorsitzende des Petrograder Komitees und
spätere Leiter der sowjetischen Telegraphenagentur, der bei einer der
Säuberungen verschwunden ist, folgendes Argument gegen die sofortige Aufnahme
der Offensive vor: »Wir haben nicht einmal eine Zentrale. Halb bewußt geben wir
der Niederlage entgegen.« Daletzky wußte anscheinend von der Bildung der
»Zentrale« im Sowjet noch nichts, oder er maß ihr keine Bedeutung bei. Auf alle
Fälle gab seine Bemerkung den Ausschlag für eine neue Improvisation. Nachdem er
sich mit anderen Mitgliedern des Zentralkomitees in eine Ecke zurückgezogen
hatte, schrieb Lenin, ein Blatt Papier auf den Knien, folgende Resolution: »Das
Zentralkomitee organisiert eine revolutionäre militärische Zentrale,
zusammengesetzt aus Swerdlow, Stalin, Bubnow, Uritzky und Dzerschinsky. Diese
Zentrale wird in das Revolutionäre Komitee des Sowjets eingegliedert.« Es war
sicherlich Swerdlow, der sich des Revolutionären Militärkomitees entsann. Aber
niemand kannte noch recht den Namen des Generalstabs des Sowjets. Trotzky
befand sich in jenen Stunden auf der Sitzung des Sowjets, in der das
Revolutionäre Militärkomitee endgültig auf die Beine gestellt wurde.
Die
Resolution vom 10. Oktober wurde mit einer Mehrheit von zweiundzwanzig gegen
zwei Stimmen bei drei Stimmenthaltungen angenommen. Indes hatte niemand auf die
wesentliche Frage geantwortet: wird der Beschluß, mit dem Aufstand in Petrograd
vor dem 20. Oktober zu beginnen, immer noch aufrechterhalten? Es war gewiß
schwer, darauf eine Antwort zu geben. Politisch war der Entschluß, den Aufstand
vor dem Kongreß auszulösen, der einzig richtige. Aber es blieb zu wenig Zeit,
ihn durchzuführen. Diesen Widerspruch zu versöhnen, gelang der Sitzung vom 16.
Oktober nicht. Hier kamen nun die Versöhnler zu Hilfe: am nächsten Tage
beschlossen sie aus sich heraus, die Eröffnung des Kongresses, den sie im
vorhinein fürchteten, auf den 25. Oktober zu verschieben. Die Bolschewiki
nahmen diese unerwartete Verschiebung mit einem öffentlichen Protest und mit
heimlicher Dankbarkeit auf. Fünf zusätzliche Tage lösten alle die
Schwierigkeiten, in denen sich das Revolutionäre Militärkomitee befand.
Die Protokolle des Zentralkomitees und die Nummern der
»Prawda« der letzten Wochen vor dem 25. Oktober zeichnen auf dem Hintergrunde
des Aufstandes die politische Physiognomie Stalins ziemlich klar. Ebenso wie er
vor dem Kriege dem Anschein nach auf Lenins Seite gestanden hatte, gleichzeitig
aber bei den Versöhnlern Unterstützung gegen den Emigranten suchte, der »das
Unmögliche verlangte«, genau so reihte er sich jetzt in die offizielle Mehrheit
des Zentralkomitees ein, indem er gleichzeitig die Rechtsopposition
unterstützte. Wie immer, war er vorsichtig; jedoch zwangen ihn das Ausmaß der
Ereignisse und die Schärfe der Konflikte oft, weiter zu gehen, als ihm lieb
war.
Am 11.
Oktober veröffentlichen Sinowjew und Kamenew in der Zeitung Maxim Gorkis einen
Brief gegen den Aufstand. Die Situation innerhalb der Führerschaft der Partei
nahm sofort einen sehr zugespitzten Charakter an. Lenin tobte und raste in
seinem Versteck. Um die Hände für die Agitation gegen den Aufstand frei zu
haben, demissionierte Kamenew vom Zentralkomitee. Die Frage wurde auf der
Sitzung vom 20. Oktober diskutiert. Swerdlow verlas einen Brief von Lenin, der
Sinowjew und Kamenew als Streikbrecher geißelte und ihren Ausschluß aus der
Partei verlangte. Die Krise komplizierte sich unerwarteterweise dadurch, daß
die »Prawda« am selben Morgen eine redaktionelle Erklärung veröffentlichte, die
Sinowjew und Kamenew verteidigte: »Der scharfe Ton des Artikels des Genossen
Lenin ändert nichts daran, daß wir im Grunde alle derselben Ansicht sind.« Das
Zentralorgan hatte es für nötig befunden, nicht die öffentliche Stellungnahme
zweier Mitglieder des Zentralkomitees gegen die Beschlüsse der Partei, sondern
die »Schärfe« des Leninschen Protestes dagegen zu verurteilen; mehr noch, es
solidarisierte sich »im Grunde« mit Sinowjew und Kamenew. Wie wenn es in jenem
Augenblick eine grundlegendere Frage als die des Aufstands gegeben hätte! Die
Mitglieder des Zentralkomitees rieben sich die Augen vor Erstaunen.
Außer Stalin
war nur noch Sokolnikow – zukünftiger Sowjetdiplomat und später Opfer einer
Säuberung – Mitglied der Redaktion. Aber Sokolnikow erklärte, daß er nichts mit
der Abfassung des Angriffs der Redaktion auf Lenin zu tun gehabt hätte und daß
er sie als falsch betrachte. Stalin hatte also allein – gegen das
Zentralkomitee und gegen seinen eigenen Redaktionskollegen – noch vier Tage vor
dem Aufstand Kamenew und Sinowjew unterstützt. Das
Zentralkomitee hielt mit seiner Empörung nur zurück, um die Krise nicht noch
weiter auszudehnen.
Stalin fuhr
fort, zwischen den Befürwortern und den Gegnern des Aufstandes zu manövrieren,
und sprach sich gegen die Annahme der Demission Kamenews aus, wobei er vorgab,
daß »unsere ganze Situation widersprüchlich ist«. Mit fünf gegen drei Stimmen,
der Stalins und zwei anderen, wurde die Demission Kamenews angenommen. Mit
sechs Stimmen, wiederum gegen die Stalins, wurde der Beschluß gefaßt, Kamenew
und Sinowjew zu untersagen, gegen das Zentralkomitee einen Kampf zu führen. Das
Protokoll statuiert: »Stalin erklärt, daß er die Redaktion verläßt.« Das hieß
für ihn, den einzigen Posten zu verlassen, den er unter revolutionären
Bedingungen ausfüllen konnte. Doch das Zentralkomitee weigert sich, Stalins
Demission anzunehmen, so daß sich der neuerliche Riß nicht verbreiterte.
Im Lichte
der um ihn herum geschaffenen Legende scheint das Verhalten Stalins unerklärlich;
in Wirklichkeit entspricht es völlig seiner Mentalität. Mangel an Vertrauen in
die Massen und argwöhnische Vorsicht zwingen ihn, im Augenblick historischer
Entscheidungen in den Schatten zu treten, abzuwarten und, wenn möglich, sich
bei beiden Seiten gegen jede Eventualität zu sichern. Sinowjew und Kamenew
verteidigte er keineswegs nur aus sentimentalen Erwägungen heraus. Stalin hatte
im April seine offizielle Einstellung, nicht aber seine geistige Verfassung
gewechselt. Ging er bei den Abstimmungen mit Lenin, so stand er doch
gefühlsmäßig Kamenew näher. Darüber hinaus stieß ihn die Unzufriedenheit mit
seiner Rolle natürlicherweise zu den übrigen Unzufriedenen, obwohl er politisch
nicht völlig mit ihnen einverstanden war.
Während der
ganzen letzten Woche vor dem Aufstand manövrierte Stalin zwischen Lenin,
Trotzky und Swerdlow auf der einen und Kamenew und Sinowjew auf der anderen
Seite. Auf der Sitzung des Zentralkomitees vom 21. Oktober stellte er das
gestern zerstörte Gleichgewicht wieder her, indem er vorschlug, Lenin mit der
Abfassung der Thesen für den heranrückenden Sowjetkongreß und Trotzky mit dem
politischen Referat zu betrauen. Beide Vorschläge wurden einstimmig angenommen.
Wenn es – nebenbei bemerkt – in jenem Augenblick zwischen Trotzky und dem
Zentralkomitee solche Meinungsverschiedenheiten gegeben hätte, wie sie einige
Jahre später erfunden worden sind, wie hätte dann das
Zentralkomitee auf Stalins Initiative hin Trotzky im kritischsten Augenblick
die wichtigste politische Rede anvertrauen können? Nachdem er sich auf diese
Weise gegen jede von links her kommende Überraschung gesichert hatte, tauchte
Stalin von neuem im Schatten unter und wartete ab.
Über die
Teilnahme Stalins an der Oktoberrevolution kann der Biograph mit dem besten
Willen nicht viel sagen. Sein Name wird nie und nirgendwo erwähnt – weder in
den Dokumenten noch von den zahlreichen Memoirenverfassern. Um diese gähnende
Lücke einigermaßen zu füllen, umkleidet die offizielle Geschichtsschreibung
Stalins Rolle in der Revolution mit der mysteriösen »Zentrale«, die die Partei
zur Vorbereitung des Aufstandes ernannt hatte. Niemand aber sagt uns etwas über
die Tätigkeit dieser Zentrale, über Ort und Zeit ihrer Zusammenkünfte, über die
Mittel, die sie anwandte, um den Aufstand zu leiten. Was nicht verwunderlich
ist: die »Zentrale« hat niemals existiert. Erwähnenswert ist jedoch die
Geschichte dieser Legende.
Im Laufe der
Konferenz des Zentralkomitees vom 16. Oktober, an der eine gewisse Anzahl
bekannter Petrograder Parteiarbeiter teilgenommen hatte, war, wie wir schon
wissen, beschlossen worden, eine »revolutionäre militärische Zentrale« aus fünf
Mitgliedern des Zentralkomitees zu bilden. »Diese Zentrale«, sagte die von
Lenin in der Eile in einer Ecke des Saales niedergeschriebene Resolution, »wird
in das Revolutionäre Komitee des Sowjets eingegliedert.« So war dem direkten
Sinn dieses Beschlusses nach die »Zentrale« nicht dazu bestimmt, selbständig
den Aufstand zu leiten, sondern den Generalstab des Sowjets zu
vervollständigen. Jedoch, wie so viele andere Improvisationen dieser
fieberhaften Tage, sollte sich auch dieses Projekt nicht realisieren. Zur
selben Stunde, als das Zentralkomitee in Abwesenheit Trotzkys auf einem Stück
Papier die neue »Zentrale« bildete, schuf der Sowjet unter dem Vorsitz Trotzkys
endgültig das Revolutionäre Militärkomitee, das von seinem ersten Erscheinen an
alle Vorbereitungsarbeiten für den Aufstand in seinen Händen konzentrierte.
Swerdlow, dessen Name auf der Liste der Mitglieder der »Zentrale« an erster
Stelle steht – und nicht Stalins Name, wie die neuen sowjetischen Publikationen
fälschlicherweise angeben –, arbeitete sowohl vor wie nach dem Beschluß vom 16.
Oktober in enger Verbindung mit dem Vorsitzenden des Revolutionären
Militärkomitees. Drei andere Mitglieder der »Zentrale«,
Uritzky, Dzerschinsky und Bubnow, wurden, und zwar jeder von ihnen auf
individuelle Weise, zur Mitarbeit am Militärkomitee erst am 24. Oktober
hinzugezogen, als ob der Beschluß vom 16. Oktober niemals gefaßt worden wäre.
Stalin weigerte sich entsprechend der Linie seines Verhaltens in jener Periode
hartnäckig, sowohl in das Exekutivkomitee des Petrograder Sowjets wie in das
Revolutionäre Militärkomitee einzutreten, und zeigte sich nie auf einer ihrer
Sitzungen. Alle diese Tatsachen lassen sich auf der Grundlage der offiziell
erschienenen Protokolle mit Leichtigkeit nachweisen.
Auf der
Sitzung des Zentralkomitees vom 20. Oktober hätte die vier Tage zuvor gebildete
»Zentrale« doch einen Bericht über ihre Tätigkeit abgeben oder zumindest vermerken
müssen, daß sie ihre Tätigkeit aufgenommen habe – bis zum Sowjetkongreß blieben
nur noch fünf Tage, und der Aufstand sollte vor der Eröffnung des Kongresses
beginnen. Gewiß, Stalin hatte andere Dinge zu tun: nachdem er Sinowjew und
Kamenew verteidigt hatte, reichte er auf dieser Sitzung seine Demission von der
»Prawda«-Redaktion ein. Keines der andern an der Sitzung teilnehmenden
Mitglieder – weder Swerdlow, noch Uritzky, noch Dzerschinsky – sagte aber ein
Wort über die »Zentrale«. Das Protokoll der Sitzung vom 16. Oktober ist
natürlich sorgfältig geheimgehalten worden, um keine Spuren der »illegalen«
Teilnahme Lenins an der Sitzung sichtbar werden zu lassen, und in den vier
folgenden dramatischen Tagen wurde die »Zentrale« um so eher vergessen, als die
intensive Tätigkeit des Revolutionären Militärkomitees das Bedürfnis nach
irgendeiner zusätzlichen ähnlichen Organisation gar nicht aufkommen ließ.
Auf der
folgenden Sitzung, am 21. Oktober, an der Stalin, Swerdlow und Dzerschinsky
teilnahmen, wurde abermals kein Bericht über die »Zentrale« abgegeben, die
nicht einmal erwähnt wurde. Das Zentralkomitee führte seine Arbeit weiter, als
ob niemals ein Beschluß über die »Zentrale« gefaßt worden wäre. Auf dieser
Sitzung wurde unter anderem beschlossen, zehn führende Bolschewiki, darunter
Stalin, in das Exekutivkomitee des Petrograder Sowjets zu schicken, um dort die
Arbeit zu verstärken. Auch das war nur eine Resolution mehr, die auf dem Papier
blieb.
Die
Vorbereitungen für den Aufstand gingen beschleunigt voran, aber auf einem ganz
anderen Wege. Der eigentliche Herr der hauptstädtischen Garnison, das
Revolutionäre Militärkomitee, suchte nach einem Vorwand für
den offenen Bruch mit der Regierung. Er wurde ihm am 22. Oktober vom
Truppenkommandanten des Petrograder Distrikts geliefert, als dieser sich
weigerte, seinen Stab der Kontrolle durch die Kommissare des Komitees zu
unterwerfen. Man mußte das Eisen schmieden, solange es heiß war. Das Büro des
Revolutionären Militärkomitees faßte unter Teilnahme Swerdlows und Trotzkys den
Beschluß, den Bruch mit dem Garnisonsstab als vollendete Tatsache zu betrachten
und zur Offensive überzugehen. Stalin war nicht auf dieser Konferenz. Und es
fiel niemandem ein, ihn zu rufen. Als der Augenblick gekommen war, alle Brücken
abzubrechen, wurde von niemandem auch nur die Existenz der sogenannten
»Zentrale« erwähnt.
Am Morgen
des 24. Oktober wurde in dem in eine Festung verwandelten Smolny die Sitzung
des Zentralkomitees abgehalten, die den Aufstand auslöste. Gleich zu Beginn
wurde eine Resolution, die von (dem wieder ins Zentralkomitee eingetretenen)
Kamenew stammte, angenommen: »Heute darf kein Mitglied des Zentralkomitees den
Smolny ohne besondere Erlaubnis verlassen.« Auf der Tagesordnung stand ein
Bericht des Revolutionären Militärkomitees. Im Augenblick, wo der Aufstand
beginnt, fällt kein Wort über die sogenannte »Zentrale«. Das Protokoll erklärt:
»Trotzky schlägt vor, dem Komitee zwei Mitglieder des Zentralkomitees für die
Verbindung mit dem Post- und Telegraphenpersonal und den Eisenbahnern zur
Verfügung zu stellen und ein drittes Mitglied für die Überwachung der Tätigkeit
der Provisorischen Regierung. Dzerschinsky wurde als Verbindungsmann zur Post
und zum Telegraphenamt, Bubnow als solcher zu den Eisenbahnern bestimmt; Swerdlow
sollte die Provisorische Regierung im Auge behalten. »Trotzky schlägt vor«,
heißt es weiter, »einen Reservestab in der Peter-und-Pauls-Festung zu bilden
und ein Mitglied des Zentralkomitees für die ständige Verbindung mit der
Festung zu bestimmen.« Es wurde beschlossen, »Swerdlow zu beauftragen, mit der
Festung ständige Verbindung zu unterhalten«. So wurden hier also zum erstenmal
drei Mitglieder der »Zentrale« dem Revolutionären Militärkomitee unmittelbar
zur Verfügung gestellt. Das wäre natürlich nicht notwendig gewesen, wenn die
»Zentrale« existiert und sich mit den Vorbereitungen für den Aufstand abgegeben
hätte. Die Protokolle verzeichnen, daß Uritzky, viertes Mitglied der
»Zentrale«, einige praktische Vorschläge machte. Was machte das fünfte Mitglied,
Stalin?
Die erstaunlichste Tatsache ist, daß Stalin an dieser
entscheidenden Sitzung überhaupt nicht teilgenommen hat. Die Mitglieder des
Zentralkomitees durften den Smolny nicht verlassen, Stalin aber war nicht
einmal dort. Die 1929 veröffentlichten Protokolle beweisen das ohne den
geringsten Zweifel. Stalin hat die Gründe für seine Abwesenheit niemals weder
mündlich noch schriftlich auseinandergesetzt. Niemand fragte ihn danach,
wahrscheinlich um nicht eine neue überflüssige Krise hervorzurufen. Alle
wichtigen Entscheidungen in bezug auf die Durchführung des Aufstandes wurden in
seiner Abwesenheit gefällt und ohne daß er irgendeinen Anteil daran nahm.
Während der Verteilung der Rollen nannte ihn niemand, und niemand schlug vor,
ihm irgendeine Aufgabe zuzuweisen. Er hielt sich einfach aus dem Spiel heraus.
Leitete er vielleicht seine »Zentrale« von irgendeinem heimlichen Platze aus?
Indes, alle anderen Mitglieder der »Zentrale« befanden sich ständig in Smolny.
In den
Stunden, als der Aufstand schon offen begonnen hatte, richtete der in seiner
Isolierung vor Ungeduld vergehende Lenin einen Appell an die Distriktleiter:
»Genossen! Ich schreibe diese Zeilen am Abend des Vierundzwanzigsten ... Ich
versichere Euch mit aller Kraft, daß jetzt alles an einem Faden hängt, daß wir
jetzt vor Fragen stehen, die weder auf Versammlungen noch auf Kongressen (und
wenn es auch der Sowjetkongreß sei) entschieden werden, sondern ausschließlich
durch den Kampf der bewaffneten Massen ...« Aus diesem Brief geht klar hervor, daß
Lenin vor dem Abend des 24. Oktober nicht wußte, daß das Revolutionäre
Militärkomitee zur Offensive übergegangen war. Die Verbindung zu Lenin wurde
vor allem über Stalin aufrechterhalten, der der Mann war, für den sich die
Polizei am wenigsten interessierte. Die Schlußfolgerung drängt sich von selbst
auf, daß Stalin, der am Morgen auf der Sitzung des Zentralkomitees nicht
anwesend gewesen war und der es vermieden hatte, sich im Smolny zu zeigen, bis
zum Abend nicht wußte, daß der Aufstand schon in vollem Gange war. Nicht, daß
er feige gewesen wäre. Es gibt keinen Grund, ihn persönlicher Feigheit zu
bezichtigen. Wohl aber war er politisch unzuverlässig. Der vorsichtige
Kulissenschieber wollte im entscheidenden Moment beiseite bleiben. Er wollte
zuwarten und den Ausgang des Aufstandes kennen, bevor er sich auf eine Position
festlegte. Im Falle einer Niederlage hätte er dann Lenin und Trotzky und ihren
Gefährten sagen können: »Das ist eure Schuld!« Man muß sich
die glühende Temperatur jener Tage klar vor Augen führen, um solch kalte
Zurückhaltung, oder, wenn man will, Perfidie, richtig zu werten.
Nein, Stalin
leitete den Aufstand nicht – weder persönlich noch vermittels irgendeiner
»Zentrale«. In den Protokollen und Memoiren, in den zahllosen Dokumenten,
Sammelwerken, Geschichtsbüchern, die noch zu Lebzeiten Lenins und selbst später
erschienen sind, ist die famose »Zentrale« nicht ein einziges Mal erwähnt, und
Stalin, Leiter dieser »Zentrale«, wird nirgendwo und von niemandem, und sei es
auch nur als Teilnehmer am Aufstand, genannt. Das Parteigedächtnis registrierte
ihn nicht. Erst im Jahre 1924 fand die Geschichtskommission der Partei, auf der
Suche nach dokumentarischem Material aller Art, das sorgfältig versteckte
Protokoll der Sitzung vom 16. Oktober mit dem Text des Beschlusses über die
Schaffung einer »Zentrale«. Der Kampf gegen die linke Opposition und gegen mich
selbst, der damals wütete, machte eine neue Version der Geschichte der Partei
und der Revolution erforderlich. Ich entsinne mich, daß mir Serebrjakow, der
überall Freunde und Verbindungen hatte, eines Tages schilderte, welch großer
Jubel in Stalins Sekretariat anläßlich der Entdeckung der »Zentrale«
ausgebrochen war. »Was kann das schon für eine Bedeutung haben?«, fragte ich
erstaunt. »Auf dieser Spule werden sie einen langen Faden spinnen«, antwortete
Serebrjakow verschmitzt.
Doch ging
die Sache selbst dann nicht über eine Veröffentlichung des Protokolls und vage
Anspielungen auf die »Zentrale« hinaus. Die Ereignisse von 1917 waren noch zu
frisch in aller Gedächtnis, die an der Revolution Beteiligten waren noch nicht
liquidiert. Dzerschinsky und Bubnow, die auf der Liste der »Zentrale« standen,
waren noch am Leben. Dzerschinsky konnte sich wohl in seinem
Fraktionsfanatismus einverstanden erklären, Stalin Verdienste zuzuerkennen, die
dieser nicht besaß, sich aber selbst etwas zuzuschreiben, was ihm nicht zukam,
dazu war er nicht imstande – das ging über seine Kraft. Dzerschinsky starb
rechtzeitig. Eine der Ursachen für den Fall und das Ende Bubnows war sicher
seine Weigerung, falsche Zeugenschaft zu leisten. Niemand konnte sich in
irgendeiner Weise der Existenz der »Zentrale« entsinnen. Das dem Protokoll
entstiegene Gespenst führte weiter eine protokollarische Existenz – ohne Augen
noch Ohren, ohne Bein noch Fleisch.
Das hat indessen nicht gehindert, daß man sich seiner
als des Kernstücks für eine neue Version von der Oktoberrevolution bediente.
»Es ist befremdlich«, argumentierte Stalin im Jahre 1925, »daß der ›Initiator‹,
die ›Hauptfigur‹, der ›alleinige Leiter‹ des Aufstandes, der Genosse Trotzky,
nicht an der Zentrale beteiligt war, die dazu bestimmt war, den Aufstand zu
leiten. Wie vereint sich das mit der üblichen Meinung von der besonderen Rolle
des Genossen Trotzky?« Ein offensichtlich unlogisches Argument: die »Zentrale«
sollte dem genauen Sinne der Resolution nach in das von Trotzky präsidierte
Revolutionäre Militärkomitee als ein Teil desselben eingegliedert werden. Aber
das machte nichts aus. Stalin zeigte unverhüllt seine Absicht, um die Protokolle
herum eine neue Version von der Revolution zu spinnen. Was er zu erklären
versäumte, war lediglich, woher die »übliche Meinung von der besonderen Rolle
des Genossen Trotzky« rührte. Das wäre aber der Betrachtung wert.
In den
Anmerkungen zur ersten Ausgabe der »Sämtlichen Werke« Lenins wird unter dem
Namen Trotzky folgendes gesagt: »Nachdem der Petrograder Sowjet in die Hände
der Bolschewiki übergegangen war, wurde er zu dessen Vorsitzendem gewählt und
organisierte und leitete in dieser Eigenschaft den Aufstand vom 25. Oktober.«
Die »Legende« fand Platz in den »Sämtlichen Werken« zu Lebzeiten ihres
Verfassers! Sie zu bezweifeln, kam bis 1925 niemand in den Sinn. Mehr noch,
Stalin selbst zahlte seinerzeit der »üblichen Meinung« seinen nicht unbedeutenden
Tribut. In einem Artikel vom Jahre 1918, zum ersten Jahrestag der Revolution,
schrieb er: »Alle praktische Organisationstätigkeit für den Aufstand wurde
unter der direkten Leitung des Vorsitzenden des Sowjets von Petrograd, des
Genossen Trotzky, geführt. Man kann mit Sicherheit behaupten, daß die Partei
den schnellen Übergang der Garnison auf die Seite des Sowjets und die kühne
Durchführung der Arbeit des Revolutionären Militärkomitees hauptsächlich und
vor allem dem Genossen Trotzky verdankt. Die Genossen Antonow und Podwoisky
waren die Hauptgehilfen des Genossen Trotzky.« Diese Sätze klingen heute wie
eine Lobrede. In Wirklichkeit hegte ihr Verfasser aber den Hintergedanken, der
Partei in Erinnerung zu bringen, daß es in den Tagen des Aufstandes außer Trotzky
auch das Zentralkomitee gegeben hatte, dessen Mitglied Stalin war. Gezwungen,
seinem Artikel zumindest den Anschein von Objektivität zu verleihen, konnte
Stalin 1918 aber nichts anderes sagen als das, was er
gesagt hat. Auf jeden Fall schrieb er am ersten Jahrestag der Sowjetmacht »die
praktische Organisationstätigkeit für den Aufstand« Trotzky zu. Worin bestand
dann also aber die Rolle der geheimnisvollen »Zentrale«? Stalin erwähnte sie
nicht einmal; sechs Jahre sollten erst noch bis zur Entdeckung des Protokolls
vom 16. Oktober vergehen.
Schon 1920
spielte Stalin, ohne Trotzky zu nennen, Lenin, der nach ihm der Urheber eines
fehlerhaften Aufstandsplans gewesen sein sollte, gegen das Zentralkomitee aus.
1922 wiederholte er diese Behauptung, ersetzte aber Lenin durch »einen Teil der
Genossen« und gab vorsichtig zu verstehen, daß, wenn der fehlerhafte Plan nicht
befolgt wurde, ihm, Stalin, einiges Verdienst dabei zukomme. Abermals zwei
Jahre vergingen, und es stellte sich heraus, daß der fehlerhafte Plan Lenins
eine böswillige Erfindung Trotzkys gewesen war; Trotzky selbst hatte nun aber
ebenfalls einen fehlerhaften Plan vorgeschlagen, der aber glücklicherweise vom
Zentralkomitee zurückgewiesen worden war. Bis schließlich die 1938 erschienene
»Geschichte« der Partei Trotzky zum erklärten Gegner des Oktoberaufstandes, der
von Trotzky geleitet worden war, stempelte. Damit einher ging die Mobilmachung
aller Künste: Dichtung und Malerei, Theater und Kino wurden nunmehr aufgerufen,
jener mythischen »Zentrale« Leben einzuhauchen, von der auch die eifrigsten
Historiker mit der Lupe in der Hand keine Spur hatten entdecken können. Stalin
wird jetzt in der ganzen Welt auf der Leinwand als der Führer der
Oktoberrevolution gezeigt, von den Publikationen der Komintern gar nicht zu
reden.
Eine
gleichgeartete Geschichtsrevision wurde, wenn auch vielleicht nicht in ebenso
offenkundiger Weise, in bezug auf alle alten Bolschewiki vorgenommen, dies aber
nicht mit einem Schlage, sondern je nach dem Wechsel der politischen Kombinationen.
1917 verteidigte Stalin Sinowjew und Kamenew, um sie gegen Lenin und mich
auszuspielen und so die zukünftige »Troika« vorzubereiten. 1924, als die
»Troika« schon den Apparat kontrollierte, erklärte Stalin in der Presse, daß
die Meinungsverschiedenheiten mit Sinowjew und Kamenew am Vorabend der
Oktoberrevolution nur einen flüchtigen und sekundären Charakter gehabt hätten.
»Die Differenzen dauerten deshalb und nur deshalb bloß einige Tage, weil wir es
bei Kamenew und Sinowjew mit Leninisten, Bolschewiki, zu tun hatten.« Nach dem
Auseinanderfallen der »Troika« wurde das Verhalten Sinowjews
und Kamenews von 1917 während mehrerer Jahre zur Hauptbeschuldigung gegen sie,
ließ sie zu »Agenten der Bourgeoisie« werden und ging schließlich in den
Anklageakt ein, der sie alle beide vor die Mauserpistole führte.
Hier kann
man nicht anders, als nur in bassem Staunen innehalten ob so kalter und
geduldiger und zugleich grausamer Hartnäckigkeit, die unverändert auf ein und
dasselbe persönliche Ziel gerichtet ist. So wie einst in Batum der junge Koba
unablässig tätig gewesen war, das Ansehen der über ihm stehenden Mitglieder des
Tifliser Komitees zu untergraben, so wie er im Gefängnis und in der Verbannung
die Gimpel gegen seine Feinde aufgehetzt hatte, so schob er jetzt in Petrograd
unermüdlich Personen und Umstände hin und her, einzig zu dem Zweck, jeden
auszuschalten, herunterzureißen, anzuschwärzen, der ihn in irgendeiner Weise
überschattete oder ihn daran hinderte, seine Ambitionen zu verwirklichen.
Der
Oktoberaufstand, als Quelle des neuen Regimes, nahm natürlich eine zentrale
Stellung in der Ideologie der neuen herrschenden Schicht ein. Wie war das alles
geschehen? Wer hatte führend im Mittelpunkt und wer hatte an der Peripherie
gestanden? Stalin brauchte rund zwanzig Jahre, um dem Lande ein historisches
Panorama aufzuzwingen, in dem er den Platz der wirklichen Organisatoren des
Oktoberaufstandes einnahm, während diesen darin die Rolle von Verrätern an der
Revolution zugeschrieben wird. Es wäre falsch anzunehmen, daß er von Anfang an
einen vollendeten Plan zur Errichtung seiner persönlichen Vorherrschaft gehabt
hätte. Es bedurfte außergewöhnlicher geschichtlicher Umstände, um seinen
Ambitionen einen Schwung zu verleihen, den er selbst nicht vorausgesehen hatte.
In einem Punkte aber blieb er unabänderlich derselbe: er profitierte, alle
anderen Erwägungen ausschaltend, von jeder Situation, um seine eigene Stellung
auf Kosten anderer zu stärken – Schritt für Schritt, Stein um Stein, geduldig,
ohne jede Überstürzung, aber auch ohne Gnade. Eben in diesem ununterbrochenen
Weben von Intrigen, in diesem behutsamen Dosieren von Wahrem und Falschem, in
diesem regelmäßigen Rhythmus seiner Fälschungsarbeit, spiegelt sich Stalin am
reinsten, sowohl als Person wie auch als Führer der neuen privilegierten
Schicht, die sich als Ganzes eine neue Biographie zusammenbrauen mußte.
Nach dem
mißlichen Debüt im März, das er im April alles andere als gutgemacht hatte,
brachte Stalin das Jahr der Revolution in den Kulissen des
Apparats zu. Er wußte nicht, wie er sich eine Verbindung zu den Massen schaffen
sollte, und fühlte sich nicht ein einziges Mal direkt verantwortlich für das
Schicksal der Revolution. Zu gewissen Zeiten war er Stabschef, niemals
Chefkommandeur. Schweigen vorziehend, wartete er auf die Initiative der
anderen, notierte ihre Fehler und schwachen Punkte und blieb hinter den
Ereignissen zurück. Um zum Erfolg zu gelangen, mußte er von einer gewissen
Stabilisierung der Verhältnisse profitieren und über sehr viel Zeit verfügen können.
Beides gestand ihm die Revolution nicht zu.
Da er nie
gezwungen war, die Probleme der Revolution mit der geistigen Anspannung zu
durchdenken, wie sie nur das Gefühl unmittelbarer Verantwortlichkeit erzeugt,
erfaßte Stalin niemals vollständig die innere Logik der Oktoberrevolution. Das
ist der Grund, weshalb seine Erinnerungen so quacksalberhaft wirken und
unzusammenhängend und miteinander nicht übereinstimmend sind, weshalb seine
späteren Urteile über die Strategie des Aufstandes so widersprüchlich sind und
seine Irrtümer in einer ganzen Reihe späterer Revolutionen (Deutschland, China,
Spanien) so monströs. Wahrhaftig, in einer Revolution ist der ehemalige
»Berufsrevolutionär« nicht in seinem Element.
Nichtsdestoweniger
war das Jahr 1917 ein äußerst wichtiges Entwicklungsstadium für den zukünftigen
Diktator. Erklärte er doch später selbst, daß er in Tiflis »Lehrling« gewesen,
in Baku »Geselle« geworden und in Petrograd zum »Meister« aufgerückt sei. Nach
vier Jahren politischen und geistigen Winterschlafs in Sibirien, wo er auf das
Niveau eines »linken« Menschewiken herabsank, war das Revolutionsjahr, das er
unter der unmittelbaren Leitung von Lenin und inmitten höchst qualifizierter
Genossen verbrachte, von unschätzbarer Bedeutung für seine politische
Entwicklung. Zum erstenmal hatte er Gelegenheit, sich mit Dingen vertraut zu
machen, die bisher völlig außerhalb seines Gesichtskreises gelegen hatten. Er
war ein ebenso aufmerksamer und sorgfältiger wie unwilliger Zuhörer und
Beobachter. Im Mittelpunkt des politischen Lebens stand das Problem der Macht.
Die Provisorische Regierung, an der Menschewiki und Volkstümler teilhatten,
gestern noch Gefährten in der Illegalität, im Gefängnis und in der Verbannung,
ermöglichte ihm, einen Blick in jenes geheimnisvolle Laboratorium zu tun, wo,
wie jeder weiß, »nicht gerade Götter das Geschirr polieren«
Russisches Sprichwort; D. Ü.. Der unübersteigbare Abstand, der in der Epoche
des Zarismus den illegalen Revolutionär von der Regierung trennte, fiel in
nichts zusammen. Die Macht wurde ein naheliegender, familiärer Begriff. Koba
machte sich weitgehend von seinem Provinzialismus frei, wo nicht in seinen
Sitten und Gewohnheiten, so doch, in der Spannweite seines politischen Denkens.
Er spürte – mit bitterem Groll – seine persönlichen Mängel, ermaß aber zugleich
die Stärke einer eng zusammengeschweißten Gruppe begabter und erfahrener
Revolutionäre, bereit, den Kampf bis zu Ende durchzufechten. Er war anerkanntes
Mitglied des Generalstabs der Partei geworden, die die Massen an die Macht
getragen hatten. Er hatte aufgehört, Koba zu sein. Er war endgültig Stalin
geworden.