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Leo Pinke, Tim Trzaskalik: [Reißausnehmen]

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Im Folgenden veröffentlichen wir einen Auszug aus Leo Pinkes und Tim Trzaskaliks Nachwort zu ihrer Ausgabe der ersten deutschsprachigen Auswahl mit Briefen von Stéphane Mallarmé, die dieser Tage bei Matthes & Seitz Berlin erscheinen wird - Stéphane Mallarmé: „Zu verwirklichen ist nur das Unmögliche“. Briefe. Ausgewählt, kommentiert und aus dem Französischen übersetzt von Leo Pinke und Tim Trzaskalik, Matthes & Seitz Berlin 2023, 639 Seiten, in Leinen gebunden mit zwei Lesebändchen, Fadenheftung, 48,00 Euro.

Leo Pinke, Tim Trzaskalik:

[Reißausnehmen]

Aus dem Nachwort zu Stéphane Mallarmés „Zu verwirklichen ist
nur das Unmögliche"


Mallarmé hat keine poetische Geschichtsschreibung unternommen wie Rimbaud; er hat eine andere »Unversehrtheit« der Dichtung gesucht als später Celan unter dem Zeichen des »Unverlorenen«. Und doch läuft die vehemente Abtrennung der Kunst letztlich darauf hinaus, sie überall zu gewahren. In den letzten zwanzig Jahren hat man sich mehr und mehr bemüht, das Ausmaß der Bezugnahme auf Fragen des Sozialen in Mallarmés Werk hervorzuheben, etwa in den Divagationen. Die Geschichte ist dort keineswegs abwesend, sie kommt zur Sprache, unter einem literarischen, geradezu transzendentalen Gesichtspunkt. Die Kunst als einen abstrakten, autonomen Bereich zu entwerfen, ermöglicht, das Wirken der Abstraktionen im Außen zu denken:

Unsere Ehre ist, nach meinem Dafürhalten,
anscheinend nach beiden Seiten zugleich,
der sozialen wie der idealen,
verwundbar zu sein,
und dies vielleicht nur aus dem Grund,
dass wir sie auseinanderhalten […]
An Henri Desplaces, Juni 1896

Die Trennung lässt sich nicht als Dualismus von Kunstwerk und Geschichte, reiner Kunst und Journalismus, Sakralem und Profanem fassen. Der Purismus ist bei Mallarmé stets gebrochen; der Ausdruck »absolu« findet sich nur einmal in den Poésies, nämlich im Rahmen einer eleganten Umschreibung von Toiletten, jenen »absoluten Örtchen« (Chansons Bas II). Gegenübergestellt werden vielmehr zwei Arten des Meinens: Der vorgetäuschte Realismus der »universellen Reportage« einerseits, der als Abbild der »repräsentativen Währungsfunktion«, deren Allgemeinheit nichts erfindet, die Sprache vergisst, und andererseits die Suggestion der Literatur, die ihre Fiktionen offenlegt und sehen lässt, was Ersterer schon als gesehen übermittelt. Daher rührt Mallarmés Hang zum Typus, der heute bisweilen aus der Zeit gefallen anmutet. Nichts versperrt sich ihm der Transposition. Nicht einmal die auf den ersten Blick »poesiefremdesten« Dinge, wie Mallarmé diskret in seinem Vorwort zu René Ghils Traktat über das Wort betont, denn wenn er schreibt, dass »es vielleicht einem jeden genügte, aus des Nächsten Hand, schweigend, eine Münze zu nehmen oder in sie zu legen, um das gesamte menschliche Denken miteinander auszutauschen«, zielt er – gerade im Gegensatz zur »repräsentativen Währungsfunktion« – auf die Münzen der Sprache ab, die vor jedem Tausch wie auch in ihm einer Mahnung gleichkommen und nach einer Aufmerksamkeit verlangen, die sie zugleich erzeugen.

Moneta, das ist Junon, die Mutter der Musen,
die Replik der Mnemosyne, Mnemosune:
»woran man die Erinnerung bewahrt«,
die Ratgeberin, die Memorable.
Moneta ist der dem Junon-Kult gewidmete Tempel,
in dem man die »monnaie«, die Münzen stanzt,
nicht weit entfernt von dem Ort,
an dem die Gänse des Kapitols die Römer warnten.
Die Münze warnt, sie sollte wachhalten. […]
Die Gedichte […] befinden sich in Umlauf und üben Druck aus
auf die »einfache repräsentative Währungsfunktion«,
um »das menschliche Denken zu ändern«.
Mallarmé sagt, dass die Menschen
das Avertissement vergessen haben,
die Warnung der Münze, der »monnaie« – der Währung:
Die »universelle Reportage« tunkt subtil ins Vergessen […].
Bei der Idee von der Münze innezuhalten,
anstatt bei der Idee der gesprochenen Transaktion,
ist der Tatbestand des Gedichts. […]
(Philippe Beck, Contre un Boileau, un art poétique, Paris 2015)

Je partikularer die Dichtung wird, desto größer ihre potenzielle Allgemeinheit. Jean Bollack hat in seinen Mallarmé-Lektüren gezeigt, wie die Negativität innerhalb der Komposition zur Bedingung einer ungeahnten Freiheit wird. Die Sirenen in Mallarmés Gedichten lassen keinen Abgesang auf die Dichtung und ihren Sinn verlauten. Alles bleibt noch zu tun – »um der Hoffnung willen, dass sich andere aus der Welt zurückziehen werden, um gegen die Welt zu schreiben.« (Bollack, Mallarmé, Berlin 2015) Doch bei Mallarmé ist sogar dieser »Rückzug« mannigfaltig und bleibt ebenso weltgewandt wie in einer seiner Spielarten durch und durch weltlich. Er steht bei Mallarmé sehr wohl – anders als Celan dachte – »unter dem Neigungswinkel seiner Existenz«. Denn sosehr jedes seiner Gedichte in der Gewalt der Transposition Fluchtlinien aus dem Realen zieht, sosehr ist Stéphane Mallarmé selbst ein einziges Reißausnehmen. Manet hat ihn gemalt. Und Georges Bataille dieses Gemälde auf den Punkt gebracht:

Dieser umherschweifende Blick, der in gewissem Sinne
wie auf der Flucht durchs Zimmer kreist,
dieses Gesicht, von der Schwerkraft befreit
durch die Abwesenheit alles Endlichen,
diese freischwebende, aber doch äußerste Aufmerksamkeit
und dieses ruhige Schwindelgefühl […]
(Georges Bataille, Manet, in ders., Oeuvres complètes IX,
Paris 1979)

Indessen sind auch bei diesem stetigen Reißausnehmen zwei Hände im Spiel, von denen die eine auf ein beschriebenes Blatt Papier flieht, sich dort auf eine Stelle stützt und dabei eine Zigarre zwischen den Fingern hält, Gespenst der Feder, während der aufsteigende Rauch auf die im Entstehen oder Aufkommen begriffene Dichtung anspielen mag, die andere aber sich in die Westentasche verzieht, gewissermaßen den verfemten Teil spielend.

Und zu diesem Teil zählt wohl mindestens zum Teil auch die »Flucht aufs Land« (an Théodore Duret, 30. April 1878), das Haus am Seine-Ufer in Valvins, das mehr und mehr zum Lebensmittelpunkt wird. Mit ihm beschließt Mallarmé seine »Autobiografie« an Verlaine:

Ich vergaß meine Fluchten,
so bald mich geistige Müdigkeit überkommt,
am Seineufer und im Wald von Fontainebleau,
an einem Ort, der sich seit Jahren gleich bleibt:
Dort erscheine ich mir ganz verschieden,
ganz ergriffen von der Flussschifffahrt.
Ich ehre den Fluss,
der einen ganze Tage in sein Wasser abtauchen lässt,
ohne dass man den Eindruck hätte,
sie verloren zu haben,
ohne den Schatten einer Reue.
Schlichter Spazierfahrer in Jollen aus Mahagoniholz,
aber Segler mit Eifer,
sehr stolz auf seine Flotte.
An Paul Verlaine, 16. November 1885

Als Reißausnehmen in die Abgeschiedenheit wird man diese mit den Jahren immer häufigeren und länger währenden Aufenthalte auf dem Land jedoch kaum bezeichnen können. Im Hause Mallarmé herrscht oft ein geselliges Treiben, nicht selten drücken sich die zahlreichen Besucher die Klinke in die Hand. Und Mallarmés vielleicht größtes Vergnügen dort ist, die Gäste zu einer Spazierfahrt auf seiner Jolle einzuladen. Das Einhandsegeln scheint nur bedingt seine Sache zu sein. Aber die Anekdoten des Landlebens sind ihm teuer und gerne berichtet er in seinen Briefen davon.

Und der Esel stirbt jeden Tag vor sich hin,
mit drei Beinen im Wasser:
Der Fluss liefert die vermischten Nachrichten.
An Geneviève Mallarmé, 9. Juli 1891


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