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Kurt Drawert: Der Körper meiner Zeit

Rezensionen/Lesetipp > Rezensionen, Besprechungen


Timo Brandt

Das Buch der Allgemeinplätze und Selbstnischen



„Der Abend beugt sich über den Flusslauf wie der Nachrichten-
sprecher über die letzte Meldung des Tages. Er ist immer nur in
Steigerung der schlimmsten Vermutung verständlich, gleich der
Gewissheit, dass im Herzen der Schiffe die Verstoßenen wohnen,

die Toten von Morgen.“


So, so. Der Abend beugt sich also über den Flusslauf wie ein Nachrichtensprecher über seine Nachrichten. Beugen sich Nachrichtensprecher überhaupt über ihre Nachrichten? Gleiten sie nicht darüber hinweg? Stehen sie nicht dafür ein, stehen sie nicht dahinter? In den meisten Fällen ist die letzte Nachricht ja der Sport. Der Abend beugt sich also über den Flusslauf wie ein Fußballergebnis. Was ja auch eine schöne Metapher wäre, ähnlich krumm, aber wenigstens ein bisschen leichter, zündender.

Schon dieses kleine, auch nicht sonderlich aus dem Zusammenhang gerissene Beispiel zeigt: Hier versucht jemand, seiner Sprache eine unbedingte Wirksamkeit und Aussagekraft anzudichten, sie im Stil eines großen Wurfes zu illuminieren. Dieser jemand ist Kurt Drawert und in seinem fünfteiligen Langgedicht „Der Körper meiner Zeit“ (das man auch als Versepos bezeichnen könnte) finden sich des Öfteren Stellen wie diese, ja, man kann sich kaum vor ihnen retten.


„Trauer ist Abschied vom Schönen. Denn es sind die Tage
danach immer andere. Und wir kommen allenfalls wieder,
aber niemals zurück. Und wo überall schon, überall schon,
wollte ich bleiben? Jede Form jedoch, die ihren Abschluss

fordert, ist nur vorübergehender Natur, fließend, wie das
Begehren.“


Ich muss zugeben: Ich bin eigentlich anfällig für die Art der poetischen Bewegung, die Drawert vollzieht. Ich bin ein großer Freund der Metaphysik, manchmal bin ich sogar regelrecht verliebt in verallgemeinernde Behauptungen, in um sich greifende, tradierend gekleidete Weisheitsbe-anspruchungen. Aber in diesem Werk sind diese Züge in einem solchen Übermaß vorhanden, dass es schwerfällt, überhaupt eine Affinität für den poetischen Impetus zu entwickeln. Es tritt schnell zutage, dass Drawert außerdem jemand ist, der sich gern bei Allgemeinplätzen bedient. Durchaus nicht bei unaufgeladenen, platten Gemeinplätzen. Auch könnte man zu seiner Verteidigung sowohl anbringen, dass die Langsamkeit, mit welcher der Text seinen Korpus webt, ein solches Sammeln und Verdichten von All-gemeinplätzen rechtfertigt (weil eine Menge an Unver-fänglichem vielleicht etwas Größeres aufzuzeigen vermag), als auch die Tatsache, dass Dichten häufig ein sich Verhalten zum Allgemeinplatz ist.

Aber das alles kann nicht jene großangelegte Geste verstecken, die hinter diesem Werk liegt und dir mir unsympathisch ist. Nicht etwa, weil ich dem Autor unterstelle, dass seine Einlassungen zur schweifenden Natur des Ich und dem aus dem Leben Herausgehorchten, dass die sich ausbreitende Instanz seiner Sprache keine Ansätze von Verdichtung und Sinnstiftung enthält. Sondern weil das Buch an den meisten Stellen schlicht und ergreifend schlicht und unergreifend ist und nicht mithalten kann mit der Gewandung, die ihm umgehängt wird. Vielleicht bin ich der falsche Leser, um die Kleinteiligkeit des Ganzen zu schätzen. Aber ich muss Drawert definitiv widersprechen, wenn er ganz am Anfang behauptet:

„Ich klage nicht, ich fasse zusammen:“


Das Buch ist eine einzige Klage. Eine Klage über das Hinausdämmern aus der Zeit in einen Tod, der irgendwo wartet, aus dem Vertrauten, das sich überall einstellen kann, in eine Dunkelheit, die an den Rändern liegt und sich nicht wegschieben lässt, sondern beständig näherkommt, -kriecht.

„Endlos ist meine Angst vor der Endlichkeit der Liebe, Liebste,
und ich sehe uns schon alt und verkümmert sie suchen wie die
Durstigen das Wasser im leeren Krug.“


Warum urteile ich so hart? Wären diese Verse zweihundert Jahre alt, dann würde ich wohl versuchen, von der haltlosen Schönheit zu schwärmen, von den Bezügen sprechen statt von der sprachlichen Ausformung. Vielleicht. Aber das ist nicht der Punkt. Dichtung ist nun mal ausgeformte Sprache und nicht nur ein Versuch über einen Inhalt. Und selbst wenn sie sich auf eine einfache sprachliche Ebene begibt, muss darin noch ein winziges Stück liegen, das einen neuen Impuls gibt, der alte Bilder neuerlich aufbrüllen lässt.

Dieses Brüllen vermisse ich in Drawerts Text. Ich vermisse die Anwesenheit des Erstaunlichen im Rahmen der großen Gewissheiten, die er zimmert. Was sind Gewissheiten ohne jenen Moment der Entrückung, den das Gedicht bietet und dem es gelingen kann, jene Warte zu erzeugen, von der aus gesehen die Wirklichkeit eben nicht uneinholbar erscheint, sondern uns umgibt, spürbar und greifbar wird und vielleicht sogar sagt: du musst dein Leben ändern.  

„Man gewöhnt sich an alle Preise. Es ist nur eine Frage der Wie-
derholung im alltäglichen Verkehr. Wer kein Geld hat, dem ist
egal, was es kostet, und wer Milliardär ist, weil ihm eine andere

Arbeit zu hart war, muss schließlich auch etwas essen.“


Aber „Der Körper meiner Zeit“ zerfasert, in seinen Arterien verklumpt das Blut, zu viel Fett durch die Fastfood-Themen, die ausgeschlachtet werden, als wären sie ein Fünf-Gänge-Menü. Die Nischen, die das Gedicht ab und zu bildet und in denen eine Auseinandersetzung zwischen dem lyrischen Ich und dem Material eine anziehende Ambivalenz erzeugt, sind selten und in all der himmelschreienden Dokumentations- und Detailverliebtheit schwer zu finden. Ich habe beim Lesen durchaus einen widersinnigen Respekt entwickelt vor dem, was Drawert versucht und es ist auch zu spüren, dass ihm viele Ausführungen sehr am Herzen liegen, ihn umtreiben. Aber damit muss man seine Leser*innen dann auch drankriegen! Man darf nicht einfach in dem, was man schreibt, herumschwimmen und meinen, der/die Lesende werde schon zufrieden sein mit einem Blick auf die Wasseroberfläche, die ihn ein wenig spiegelt. Ich persönlich möchte zum Schwimmen eingeladen werden, zum Untertauchen, zum nach Luft ringen, ich will reingestoßen werden ins Wasser, hinterrücks meinetwegen.

Stattdessen stehe ich am Ufer dieses Werks und schaue eine Weile auf all das, was vorbeizieht. Und könnte beruhigt die Augen schließen und einfach dem Murmeln lauschen – denn irgendwann hört man auch nur noch ein Murmeln, wenn man die Zeilen überfliegt. Ein Murmeln, sinnig, beruhigend, aber ohne Perspektiven, ohne Nuancen, die über ihre Anwesenheit hinaus in etwas hineinstechen, nichts springt ab und landet – alles fließt, sagt Kurt Drawert, und gerade das ist ein Allgemeinplatz, mit dem man Besseres, Schöneres anstellen könnte.

Im Nachwort, das auch eine Gedichtstrophe ist, werde ich am Ende damit konfrontiert, dass dieses Werk vielleicht den Versuch darstellt, die Ausformung einer Poetik vorzunehmen. Das Nachwort versteht sich auch als „Gebrauchsanweisung“. Ich werde mal versuchen das alles mit Humor zu nehmen und sage: okay, dann ist das halt ein Meisterwerk, das ich nicht verstanden habe.


„Die letzten Sätze sind schon zwischen die Dornen und ins Leere
gefallen. a) Nichts liegt mir ferner, als ich es mir bin. b) In Vino
Veritas, es gibt immer zu trinken, halleluja. c) Es war so
schön, vor einem Jahr zu dieser Stunde. […]

Die Zeit stand tatsächlich dort, wo ich sie hingestellt hatte."


Kurt Drawert: Der Körper meiner Zeit. Langgedicht. München (C.H. Beck) 2016. 206 Seiten. 21,95 Euro.


 

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