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Kristian Kühn: Der schlafende Lyriker

Memo/Essay > Aus dem Notizbuch > Essay
John William Waterhouse:
Sleep and his Half-brother Death
1874

Kristian Kühn
Der schlafende Lyriker

Der schlafende Lyriker träumte sich in eine Buchseite hinein, auf der in gut lesbaren Lettern stand: „Demokratie – Die Fahne marschiert in die schmutzverkrustete Landschaft, und unser Jargon erstickt die Trommel. In den Zentren werden wir die zynischste Prostitution hochzüchten. Die logischen Aufstände werden wir niedermetzeln. Hin zu den Ländern, wo Pfeffer wächst und Regen trieft! – im Dienst ungeheuerlichster Ausbeutung durch Industrie oder Militarismus./ Auf Wiedersehen, hier oder irgendwo. Wir sind die Rekruten des guten Willens, unsere Philosophie wird blutrünstig sein; wir, der Wissenschaft unkundig, raffiniert im Komfort; krepieren soll die Welt, wie sie heute läuft. Das ist der wahre Vormarsch. Vorwärts, los!“
    Der schlafende Lyriker erschrak während der Einprägung, von wem das sei?, derweil sich schon die Buchstaben drehten, eine finale Spirale bildeten, die auf ihn zufiel, bis die Seite leer war.
    Als er glaubte, erwacht zu sein, stellte er sich die Frage, ob er das Gedicht „Demokratie“ von Rimbaud aus den Illuminationen immer noch, jetzt mit bewussten Sinnen, auswendig hersagen konnte – nein, er konnte es nicht, obwohl so vieles daran ihn auf prophetische Weise berührte. Als hätte Rimbaud das Jetzt beschrieben. Nur im Schlaf hatte er die Kraft, es zu memorieren.*
    Er griff nach Rimbauds Seher-Brief: „Ich habe beschlossen, Ihnen eine Stunde in neuer Literatur zu geben … Denn ICH ist ein Anderes. Wenn das Blech als Trompete aufwacht, ist es nicht selbst daran schuld. Dies ist mir offensichtlich: helfend tätig habe ich an der Erschließung meines Gedankens teil: ich sehe und höre ihn: ich tue einen ersten Bogenstrich: in den Tiefen setzt sich der Zusammenklang in Bewegung, oder er kommt jäh in einem Sprung auf die Bühne. Das Erste, was der Mensch erarbeiten muss, der Dichter sein will, ist die volle Kenntnis des Eigenen; er sucht seiner Seele nach, gewinnt Einblicke in sie, versucht sie, macht sich die Erfahrung ihres Wesens zu eigen. Sobald er um sie weiß, muss er sie aufbilden! Das scheint einfach: in jedem Kopf vollzieht sich eine natürliche Entfaltung; daher erklären sich soviel Egoisten zu Autoren; es gibt viele andere, die ihren geistigen Fortschritt sich selbst zuschreiben! – Aber es handelt sich darum, die Seele ungeheuerlich zu machen: nach Art der Kinderhändler, was! Stellen Sie sich einen Menschen vor, der sich Warzen ins Gesicht pflanzt und großzüchtet. Ich sage, dass es nottut, Seher zu sein, sich sehend zu machen. Der Dichter macht sich sehend durch eine lange, gewaltige und überlegte Entriegelung der Sinne.“
    Nach dem Frühstück wollte er es genauer wissen und schlug im „Mann ohne Eigenschaften nach, Kapitel 28: Ein Kapitel, das jeder überschlagen kann, der von der Beschäftigung mit Gedanken keine besondere Meinung hat. Dort las er im Zusammenhang von unablässiger Erwartung: „In anderer Hinsicht wieder vollzieht sich die Lösung einer geistigen Aufgabe nicht viel anders, wie wenn ein Hund, der einen Stock im Maul trägt, durch eine schmale Tür will; er dreht dann den Kopf solange links und rechts, bis der Stock hindurchrutscht, und ganz ähnlich tun wir’s, bloß mit dem Unterschied, dass wir nicht ganz wahllos darauf los versuchen, sondern schon durch Erfahrung ungefähr wissen, wie man es zu machen hat. Und wenn ein kluger Kopf natürlich auch weit mehr Geschick und Erfahrung in den Drehungen hat als ein dummer, so kommt das Durchrutschen doch auch für ihn überraschend, es ist mit einemmal da, und man kann ganz deutlich ein leicht verdutztes Gefühl darüber in sich wahrnehmen, dass sich die Gedanken selbst gemacht haben, statt auf ihren Urheber zu warten. Dieses verdutzte Gefühl nennen viele Leute heutigentags Intuition, nachdem man es früher auch Inspiration genannt hat, und glauben etwas Überpersönliches darin sehen zu müssen; es ist aber nur etwas Unpersönliches, nämlich die Affinität und Zusammengehörigkeit der Sachen selbst, die in einem Kopf zusammentreffen. Je besser der Kopf, desto weniger ist dabei von ihm wahrzunehmen. Darum ist das Denken, solange es nicht fertig ist, eigentlich ein ganz jämmerlicher Zustand, ähnlich einer Kolik sämtlicher Gehirnwindungen, und wenn es fertig ist, hat es schon nicht mehr die Form des Gedankens, in der man es erlebt, sondern bereits die des Gedachten, und das ist leider eine unpersönliche, denn der Gedanke ist dann nach außen gewandt und für die Mitteilung an die Welt hergerichtet. Man kann sozusagen, wenn ein Mensch denkt, nicht den Moment zwischen dem Persönlichen und dem Unpersönlichen erwischen, und darum ist offenbar das Denken eine solche Verlegenheit für die Schriftsteller, dass sie es gern vermeiden.“
    Nun suchte der Lyriker die Stelle in einem Aufsatz namens „Literatur heute“ von Roland Barthes, die sich mit dem Trugcharakter der Literatur und dem Scheitern beim Schreiben befasst. Sie lautet: „Es gibt zwei Arten des Scheiterns; zum einen das historische Scheitern einer Literatur, die auf die Fragen der Welt nicht zu antworten vermag, ohne den Trugcharakter des bedeutenden Systems zu verändern, der doch seine am weitesten entwickelte Form darstellt. Die Literatur ist heute darauf reduziert, der Welt Fragen zu stellen, indes die entfremdete Welt der Antworten bedarf; zum anderen das äußere Scheitern eines Werkes beim Publikum, das es ablehnt. Das erste Scheitern kann von jedem klarsichtigen Autor als das existentielle Scheitern seines Vorhabens des Schreibens erlebt werden. Dazu ist nichts zu sagen. Man kann es keiner Moral unterwerfen, noch weniger einer simplen Hygiene: was soll man einem unglücklichen Bewusstsein sagen, das historisch zu Recht unglücklich ist? Dieses Scheitern gehört zu jener „inneren Doktrin, die man niemals mitteilen darf“ (Stendhal). Das äußere Scheitern kann (außer natürlich den Autor selbst!) nur Soziologen oder Historiker interessieren, die sich bemühen, die Ablehnung durch das Publikum als Indiz für eine gesellschaftliche oder historische Haltung zu verstehen.“
    Der Lyriker wusste, dass Barthes in seinen Ausarbeitungen immer wieder auf den Trugcharakter eines Pseudo-Bedeutungssystems in der Literatur zu sprechen kommt, so auch im Essay „Literatur und Bedeutung“, in dem sich der Franzose zunächst die Frage stellt, um sie dann selber zu beantworten: „Wiederholt haben Sie die Literatur als ein „trügerisches“ Bedeutungssystem definiert, in dem der Sinn zugleich „gesetzt und enttäuscht“ wird. Gilt diese Definition für jede oder nur für die moderne Literatur? Oder auch nur für den modernen Leser, der damit sogar den alten Texten eine neue Funktion gibt? Oder aber macht die moderne Literatur nur ein bis dahin latentes Statut deutlich? Woher käme in diesem Fall die Aufdeckung?
    Besitzt die Literatur eine wenn nicht ewige, so doch zumindest transhistorische Form? Um ernsthaft auf diese Frage zu antworten, fehlt uns ein wesentliches Instrument: eine Geschichte der Idee der Literatur. Man schreibt unablässig (zumindest seit dem 19. Jahrhundert, was bereits bezeichnend ist) die Geschichte der Werke, der Schulen, der Strömungen, der Autoren, aber man hat noch nie die Geschichte des Wesens der Literatur geschrieben. Was ist Literatur? Diese berühmte Frage bleibt paradoxerweise eine Frage der Philosophie oder der Kritik, sie ist noch keine Frage des Historikers. Ich kann also nur eine hypothetische und vor allem sehr allgemeine Antwort versuchen.
    Eine Technik, die um den Sinn betrügt? Was heißt das? Das heißt, dass der Schriftsteller sich bemüht, die Bedeutungen zu vervielfachen, ohne sie zu erfüllen oder sie abzuschließen, und dass er sich der Sprache bedient, um eine Welt zu schaffen, die emphatisch „bedeutend“ ist, letzten Endes jedoch niemals bedeutet wird. Verhält es sich so bei jeder Literatur? Ohne Zweifel ja, denn die Literatur durch ihre Technik des Bedeutens definieren heißt, ihr als einzige Grenze eine konträre Sprache setzen, die nur die transitive Sprache sein kann. Diese transitive Sprache ist die, die es darauf abgesehen hat, das Wirkliche unverzüglich zu verändern, nicht es zu verdoppeln.“
    Der Lyriker dachte darüber nach, und ihm entging nicht, dass Barthes eine Art Beschwörung der Wörter empfahl, dass er aber dagegen warnte, das Wirkliche einfach erzählen zu wollen, auch wenn seine Wörter mit Handlung verknüpft waren, denn das würde der Beginn eines Rezitierens sein, damit würden sekundäre übertragene und fliehende Bedeutungen in Erscheinung treten, die eine Scheinwelt institutionalisierten.
    Barthes war kein Sprachwissenschaftler, aber auch er bediente sich der Methode der Moderne, der Dekonstruktion. Dem wachen Lyriker war danach, hierzu Wittgenstein zu Rate zu ziehen, aber dafür musste er mit der U-Bahn zur Staatsbibliothek fahren. Unterwegs erinnerte er sich daran, da er schon immer ein Interesse an obskuren Autoren gehabt hatte, dass der hermetische Maler und Dichter William Blake gelehrt haben soll, dass immer ein ‚Überschuss‘ an Bedeutungshaftigkeit gegenüber dem Bedeutungsträger existiere. Deshalb leuchtete es dem wachen Lyriker ein, dass ein jeder, der die Poesie kennen lernen will, zunächst die Poesie der Grammatik erforschen sollte, um empfänglich zu werden für die gegenseitige Durchdringung von Syntax und Rhetorik.
    Wittgenstein geht von der bekannten Tatsache aus, dass sich der Mensch von der Welt Bilder macht. Dabei sind zwei Stufen zu unterscheiden: einmal die Transformation in die Gedankenwelt, zum andern der Ausdruck in der Sprache. Aber diese beiden Stufen beschreiben nicht zwei isolierte, aufeinander folgende Prozesse, sondern sie sind eng miteinander verkoppelt. Denn sprachliche Artikulation ist nach Wittgenstein keine zufällige Begleiterscheinung des Gedankens: Mithilfe des (mathematischen) Abbildungsgedankens, kommt er zur Aussage, dass Bilder selbst Tatsachen seien. Aber eine Abbildung in diesem Sinn kann nur vorliegen, wenn die Strukturen gleich sind. Wittgenstein lehrt damit die Strukturidentität der Welt der Fakten und der Welt der Gedanken.
    Der lesende Lyriker findet in den „Philosophischen Untersuchungen“ Wittgensteins den Satz 217: „Wir können auch sagen: „Jedes Ding passt in sich selbst.“ – Oder anders: „Jedes Ding passt in seine eigene Form hinein.“ Man schaut dabei ein Ding an und stellt sich vor, dass dieser Raum dafür ausgespart war und es nun genau hineinpasst.“
    Wenn sich ein bestimmtes Subjekt Gedanken über die Welt macht, so kann es nach Wittgenstein diese nicht nach persönlichem Gutdünken auf die eine oder andere Weise realisieren, sondern nur so, dass die Struktur der Gedanken mit der der Welt übereinstimmt. Nur wenn diese Bedingung erfüllt ist, vollzieht das Subjekt sinnvolle Gedanken über die Welt.
    Sinnvolle Sätze bestehen demnach aus Aussagen, in welchen die Welt durch eine direkte Beziehung zur Wirklichkeit abgebildet wird. „Der (sinnvolle) Satz ist das Bild der Wirklichkeit“ (sagt er im Tractatus 4.01). Daneben gibt es in den Tautologien und Kontradiktionen „sinnlose“ oder besser „leere“ Sätze, die der Symbolik der Sprache angehören und daher zulässig, also in einer weiteren Bedeutung auch sinnvoll sind. Dagegen ist ein Wort, das nichts bezeichnet, leer; es hat keine Bedeutung. Wörter, die nichts bedeuten, sind also Wörter, zu denen es keine Gegenstände gibt. „Wörter dagegen, die etwas bezeichnen, bedeuten etwas“ (PU 1, 40) Der Begriff „Leerwort“ wird also definiert als Wort, das eine grammatische, aber keine eigenständige lexikalische Bedeutung hat. Es ist ein Begriff, der vom Vollwort (autosemantikon = sich selbsterklärend) unterscheiden soll.
    Etwa:
    "Wir sagen z.B.: "Er erklärte mir seine Lage, sagte, es verhalte sich so und so, und er brauche daher einen Vorschuss." Man kann also insofern sagen, jener Satz stünde für irgendwelche Aussagen. Er wird als Satzschema verwendet; aber das nur, weil er den Bau eines deutschen Satzes hat. Man könnte statt seiner ohneweiters auch sagen: "das und das ist der Fall", oder "so und so liegen die Sachen", etc. Man könnte auch, wie in der symbolischen Logik, bloß einen Buchstaben, eine Variable gebrauchen. Aber den Buchstaben  "p" wird doch niemand die allgemeine Form eines Satzes nennen. Wie gesagt: "Es verhält sich so und so" war dies nur dadurch, dass er selbst das ist, was man einen deutschen Satz nennt. Aber obschon es ein Satz ist, so hat es doch nur als Satzvariable Verwendung. Zu sagen, dieser Satz stimme mit der Wirklichkeit überein (oder nicht überein), wäre offenbarer Unsinn, und er illustriert also dies, dass ein Merkmal unseres Satzbegriffes der Satzklang ist."
    Sätze, die rein logisch gültige oder ungültige Aussagen sind, nennt zum Beispiel Carnap L-determinierte Sätze. Sätze, welche syntaktisch falsch gebildet sind, z.B. „Napoleon ist größer.“, und Sätze, welche syntaktisch zwar richtig, aber nicht abbildend sind, wie z.B: „Die Zahl fünf ist hungrig“, verbleiben als unsinnige Sätze.
    Wort und Satz sind demnach sinnlos, wenn nichts damit gemeint ist, und sinnvoll, wenn etwas damit gemeint ist. Die großartige Leistung des Meinens liegt also darin, dem Reden Sinn zu verleihen, indem es ihn ver-meint, und damit das Problem zu lösen. Was man mit einem Satz sagt und wovon man mit einem Wort redet, ist daher durch nichts festgelegt als durch die Richtung, die der Akt des Meinens nimmt. (Wir können mit einem Wort Verschiedenes meinen, und verschiedene Sprachen meinen Dasselbe mit verschiedenen Wörtern.) Ob man also in der Lage ist, mit a-b-c-d zu meinen „heute ist schönes Wetter“, hängt allein von der Fähigkeit ab, diesen Akt des Meinens zu vollziehen. Sprachregeln haben also nach der modernen Methode der Dekonstruktion nichts Zwingendes. Da ich prinzipiell meinen kann, was ich will, kann ich prinzipiell die Sprachregeln festsetzen, wie ich will. Dass wir alle dieselben Regeln benutzen, beruht auf willkürlicher Festsetzung.
    Schon seit Platons Dialog Kratylos über die Sprache und Aristoteles‘ Traktat „Über das Verstehen“ befassen sich Philosophie und Logik mit Sprache, doch die linguistische Philosophie und Sprachphilosophie seit Frege, Russell und Wittgenstein mit Sprache in ganz anderen Dimensionen. In mehr als allegorischem Sinn war Sprache bis zu den modernen analytischen Formalisierungen und Dekonstruktionen selbst noch bei Leibniz und Hamann immer die Sprache Adams vor dem Sündenfall geblieben. Jetzt werden Referenz, Benennung, Prädikation, logische wie grammatische Interdependenz in Frage gestellt. Nicht das, was gesagt wird, wird dabei in Frage gestellt, aber der formale und substantielle Hintergrund des Vorgangs, wenn dem Akt und dem Medium des Sagens Bedeutung, nachvollziehbare Signifikanz zugeschrieben werden soll.
    Gegenwärtig befinden wir uns in einem Wandlungsprozess der literarischen Gestaltung, der in Westeuropa und Russland während der siebziger Jahre des 19. Jahrhunderts recht abrupt begonnen hatte, dachte der vom Lesen ermüdete Lyriker auf seiner Fahrt zurück nach Hause. Selbst die nicht-verbalen Künste hatten bis vor sehr kurzer Zeit von einem dem Wesen nach grammatikalischen und der Darstellung nach logischen Schema Gebrauch gemacht. Der nach Hause fahrende Lyriker wurde immer unzufriedener, steigerte sich förmlich in seine Unzufriedenheit hinein, wollte das Oberlicht des Fensters öffnen, traute sich aber nicht, sah aus dem Fenster ins vorbeigleitende Dunkel. Bis zur jetzigen Mutation von Werten „trafen“ sich logos und Kosmos – wenngleich es immer Provokationen und Ausrutscher gegeben hatte, auch wenn ihre Begegnung oft unzureichend gewesen war. Doch vermittels der Wurzeln und der Verzweigungen der Syntax galt eine weitgehende Korrespondenz zwischen dem Wort und den Gegenständen, auf die es sich bezieht und die es bezeichnet. Wahrheit, soweit zugänglich, war Verantwortlichkeit gegenüber der Bedeutung der Welt.
    Der Vertrag zwischen Wort und Gegenstand, die Voraussetzung, dass etwas im praktikablen Maße sagbar ist, passte in der Sprache des Urmenschen Adam noch vollkommen: die Dinge waren das, als was sie Adam benannt hatte. Prädikation und Wesen stimmten nahtlos überein. Bei Platon, dem die Hauptströmungen westlicher Metaphysik und Erkenntnistheorie verpflichtet waren, erhob der dialektische Diskurs den menschlichen Intellekt empor zu jenen Archetypen reiner Form, die wir in den Worten nur als Abglanz erfahren.
    Nun aber die Dekonstruktion: Das Wort Rose hat weder Stiel noch Blatt noch Dornen. Es ist weder rosa noch rot noch gelb. Es verströmt keinen Geruch. Es ist per se ein völlig willkürliches phonetisches Kennmal, ein leeres Zeichen. Das Wort hat nur eine konventionsbestimmte Referenz. Nichts, aber auch gar nichts hat irgendeine Entsprechung zu dem Gegenstand „an sich“. Schon Kant lehrte: von ihrem „wahren“ Sein und Wesen können wir nichts wissen. Deshalb kann uns das Wort Rose nichts beibringen. Unsere Sinne, auch der Verstand liegen entweder jenseits unserer Erkenntnis, oder sie sind selbstreferentiell, oder beides. Es gibt außerhalb der Aisthesis, der sinnlich wahrnehmbaren bzw. auch messbaren Welt keinen Punkt, um ihr referentielle Autonomie und Autorität zu verleihen.
    Dies war die Konzeption der Sprache, die dem Skeptizismus zugrunde liegt. So hatte der Lyriker es auch als Germanistikstudent gelernt. De Saussure gab dieser Konzeption Mitte des 19. Jh. schon kanonische Form. Doch Mallarmé geht weiter, und der kritische Schritt findet bei ihm statt, beim Lyriker der Moderne: Mallarmé sagt in „Verskrise“; „Ich sage: eine Blume! Und aus dem Vergessen, in das meine Stimme jeglichen Umriss verbannt, erhebt sich musikalisch, als etwas anderes als die gewussten Kelche, Idee selbst und lieblich, die allen Sträußen fehlende.“
    Der ermüdete Lyriker in der U-Bahn, auf dem Weg zurück nach Haus, dachte: Worten eine Entsprechung zu „den Dingen da draußen“ zuzuschreiben, sie anzusehen und zu verwenden, als könnten sie irgendwie für die Realität der Welt stehen, ist nicht nur eine verbreitete Illusion. Es macht Sprache auch zur Lüge. Das Wort Rose ist so zu verwenden, als sei es in irgendeiner Weise so etwas wie das, was wir als botanisches Phänomen wahrnehmen. Von irgendeinem Wort zu verlangen, es solle als Ersatz an die Stelle der vollkommen unzugänglichen „Wahrheiten“ der Substanz treten, heißt, es zu missbrauchen und herabzuwürdigen. Es heißt, Sprache mit Unwahrheit zu überziehen („unrein“ ist Mallarmés bevorzugtes Beiwort dazu.)
    Das, was dem Wort Rose, jener willkürlichen Ansammlung von 2 Vokalen und 2 Konsonanten, Legitimation und Lebenskraft verleiht, ist, so sagt Mallarmé, die vollkommene Abwesenheit der Rose. Hier stehen wir exakt an der Quelle philosophischer und ästhetischer Moderne, am Punkt, an dem mit der Ordnung des logos (als von der göttlichen Idee eingegebenem Wort) gebrochen wird, wie sie westliches Denken und Empfinden immer gekannt hatte, wenigstens seit der Tautologie, die im Alten Testament aus dem brennenden Busch gesprochen wurde. Wir befinden uns hier exakt am semantischen Scheideweg, der auch zur Moderne im Diskurs der Physik geführt hat, zu Heisenbergs Unschärfe-Postulat: Beziehungen sind nur als Bilder und Parallelen ausdrückbar.
    Eine auf dem logos gegründete Ordnung impliziert eine zentrale Annahme realer Gegenwart. Mallarmés Zurückweisung der alten Vereinbarung und sein Beharren darauf, dass Nicht-Referenz den wahren Genius und die Reinheit von Sprache ausmachen, implizieren eine zentrale Annahme „realer Abwesenheit“. Zwischen dem Wort mit vier Buchstaben und der Rose selber tut sich seitdem eine Kluft auf. Hier das Wort – dort die Abwesenheit der (geordneten) Welt.
    Wieder daheim, schlug der hungrig gewordene Lyriker bei Mallarmé im Essay „Verskrise“ nach und las: „Der Vers, der aus mehreren Vokabeln ein totales, neues, der Sprache fremdes und wie beschwörendes Wort schafft, vollendet diese Isoliertheit der Rede: mit einer souveränen Geste den Zufall leugnend, der den Bezeichnungen verblieben war, trotz des Kunstgriffs ihres wechselseitig stärkenden Wiedereintauchens in Sinn und Klang, und verursacht einem diese Überraschung, niemals das betreffende, ganz ordnungsgemäße sprachliche Fragment gehört zu haben, während zugleich die Erinnerung des genannten Gegenstands in einer neuen Luft schwebt.“
    Dennoch sprechen wir immer noch von Sonnenaufgang, dachte der Lyriker, als er den Kühlschrank öffnete, um einen Joghurt mit abgelaufenem Verfallsdatum hervorzuholen, obwohl das geozentrische Weltbild durch die Astrophysik längst abgelöst worden ist. Obwohl die Quantenphysik in aller Munde ist, stellen wir uns einen Tisch, einen Stuhl immer noch so vor wie früher in der platonisch-aristotelischen Ordnung. Dasselbe gilt für Mallarmés „reale Abwesenheit“. Alles in uns lehnt sich gegen Mallarmés Befund auf. Aber genau das ist sein Ausgangspunkt. Denn tatsächlich ist die Sprache heutzutage leicht zu Klischee und träger Routine verkommen. Wörter haben oft, wie der Literaturwissenschaftler George Steiner sagt, ein „korruptes Dienstbotendasein“, sie taugen nicht mehr für Dichter oder Denker. Erst wenn wir uns darüber klar werden, dass das, worauf sich Worte beziehen, wiederum Worte sind, dass jeder Sprechakt mit Referenz auf Erfahrung heißt, „etwas mit anderen Worten zu sagen“, können wir zurückfinden zur sprachlichen Freiheit.
    Ideen bestehen aus Worten**, insistierte der Impressionist Degas, Gemälde bestehen aus Pigmenten und internen Raumbeziehungen. Musik besteht aus konventionsbestimmt arrangierten Tönen. Sie bedeutet nur sie selbst. Und nur in dem Maße, wie sie sich der Grundgegebenheit der Musik und der selbstgenügsamen Autonomie des musikalischen Kodes nähert, findet Sprache für Mallarmé und die Moderne zurück zu ihrer numinosen Freiheit, zu ihrem Rückzug aus dem unfertigen, heruntergekommenen Gewebe der Welt. Solch totaler Rückzug kann den Worten ihre magische Energie wiedergeben, kann in ihnen das verlorengegangene Potential wiedererwecken.
    Um ein Mittagsschläfchen zu machen, legte der vorübergehend gesättigte Lyriker sich aufs Bett und las in Mallarmés spätem Prosagedicht „Igitur oder der Wahn der Elbehnon“, wobei er wusste, dass das lateinische Igitur „also“, „folglich“ bedeutet, und Elbehnon von Sartre der letzten Spirale zugeordnet wurde. Er las:
    „Wie der Atem seiner Ahnen die Kerze ausblasen will (dank der die Zeichen des Zauberbuchs vielleicht fortwirken) – ruft er „Noch nicht!“
    Er selbst wird schließlich, wenn die Geräusche verstummt sind, einen Beweis für etwas Gewaltiges (die Sterne vielleicht? Den aufgehobenen Zufall?) sehen in dieser einfachen Tatsache, dass er das Dunkel verursachen kann, indem er das Licht ausbläst –
    Dann – wenn er dem Absoluten gemäß gesprochen hat – das die Unsterblichkeit leugnet, wird das Absolute im Jenseits sein – als Mond über der Zeit: und er wird die Vorhänge gegenüber öffnen.“
    Der Lyriker war so gut wie eingeschlafen. Dennoch zogen alle möglichen Gedanken an ihm vorbei. Rimbauds Postulat ist nicht weniger revolutionär: Das Ich ist ein Anderes. Es ist nicht mehr es selbst. Zumindest ist es für sich selbst nicht mehr es selbst – es lässt sich nicht mehr als Einheit oder Ganzheit fassen. Rimbaud dekonstruiert die Erste Person Singular aller Verben. Das Ich ist ein Anderes dekonstruiert zunächst Gott, der von sich und seinem Namen sagt, ich bin, der ich bin. Rimbaud führt in das Ich nicht nur einen gnostischen Dualismus mit ein, eine Gegen-Persona, sondern eine schrankenlose Pluralität. Ich bin dies und auch das, ich bin alles.
    Wo Mallarmé die „reale Gegenwart“ in eine „reale Abwesenheit“ abändert, stellt Rimbaud in das nun freigewordene Zentrum des Bewusstseins die zersplitterten Bilder anderer und nur zeitweiser Manifestationen des Selbst.
    Diese Linguistik „realer Abwesenheit“ stimmt mit der Physik der schwarzen Löcher überein. Rimbauds Sprengung eines psychischen Zusammenhalts in aufgeladene Bruchstücke von Energie korrespondiert mit der Quantenphysik der Elementarteilchen, ja eigentlich vor allem mit den Spekulationen über Anti-Materie.
    Rimbauds anarchischer Pluralismus macht aus dem kartesianischen Daseinsbeweis (Ich denke, also bin ich) eine leere Prahlerei. Übersetzt in Rimbauds Gegen-Syntax liest sich das kartesianische Postulat so: „Ich denke (fühle), also bin ich nicht.“
    Wieder sah sich der nicht ganz eingeschlafene Lyriker einer Buchseite gegenüber, auf der stand: „Durchwachte Nächte – Die lichte Ruhe ist es, nicht matt, nicht fiebernd, auf dem Bett oder auf der Wiese.

Der Freund ist es, nicht feurig, nicht schwach. Der Freund.
Die Geliebte ist es, nicht quälend, nicht gequält. Die Geliebte.
Die nicht gesuchte Luft, die nicht gesuchte Welt. Das Leben.
-         Wirklich, war es dies?
-         Und der Traum frischt auf.“

Der unruhige Lyriker hört Stimmen auf der Straße, kann sich weder konzentrieren, noch einschlafen. Nicht ich denke, es denkt mich/uns/irgendetwas. Ich schwanke in meinen löcherigen Wahrnehmungen. Dabei streift sein Blick den Spiegel an der Wand über der Konsole. Also bin ich nicht.*** Bestenfalls kurzzeitig. Die sinnliche Wahrnehmung hat sich verselbständigt – sie erzeugt eine Erosion und in letzter Konsequenz das, was heute die Partei der Piraten fordert, eine Abschaffung des Urhebers.
    Mallarmé war Esoteriker. Er suchte das blitzartige Aufleuchten einer anderen, sonst nicht erreichbaren „reinen“ Welt in seinen Sätzen. Nicht nur für Rimbaud, auch für Mallarmé ist die Auslöschung von Urheberschaft (auctoritas) fundamental. Wo es kein „Ich“ gibt, sondern ein Eintauchen in eine energetische Wolke bei einem erstrebten Prozess ständiger Spaltung, kann es keine Urheberschaft in einem stabilen Sinn eines Ich-Namens geben. Nur einen Trick, der mit Hilfe von Meditation, Versenkung oder abwartendem Empfang, mit Spiegeln aller Art funktioniert, doch handelt es sich bei Spiegeltricks um bewegliche Scheinbilder, die andere Bilder reflektieren. Doch ohne eine auktoriale Welt der Ideen über uns, von der man empfängt, ist alles Mimesis, Nachahmung, Zitat, Zuschreibung, Kompilation – im Sinne heutiger Aberkennung der Doktorwürde beispielsweise.
    Wieder greift der unruhige Lyriker nach Mallarmés „Verskrise“ und liest: „Das reine Werk impliziert das sprechende Hinwegtreten des Dichters, der die Initiative den Wörtern überlässt, den durch den Anprall ihrer Ungleichheit mobilisierten; sie entzünden sich im gegenseitigen Widerschein wie ein virtuelles Gleiten von Feuern über Edelsteine, die im früheren lyrischen Wehen hörbaren Atemzüge oder die persönlich-enthusiastische Satzführung ersetzend.“
    Immer denkt Mallarmé an ein Bild „voll von Traum und Leere“. Dies erwirkt ein sehr starkes archetypisches Gefühl: wenn der Blick kein Bild hat, auf dem er ruhen kann, beschleicht ihn Bangigkeit. Als ob der Verlust jedem Dasein vorausginge.
    Es stimmt nicht, hatte Marcel Proust einmal in einem Brief bemerkt, dass bei Mallarmé die Bilder verschwinden. Nein, es sind „noch immer die Bilder der Dinge, denn über andere verfügt unsere Einbildungskraft nicht, doch erscheinen sie gleichsam gespiegelt in der dunklen, glatten Oberfläche des schwarzen Marmors“. Dieser „schwarze Marmor“ ist der Geist. Mit Mallarmé wird der Stoff der Dichtung so streng, wie es nie zuvor geschehen war und niemals wieder geschehen sollte, auf geistige Erfahrung zurückgeführt. Eingeschlossen in einen unsichtbaren Tempel, ruft das Wort nacheinander Trugbilder, Veränderungen, Geschehnisse herauf, die allesamt in diesem versiegelten Raum entstehen und wieder verschwinden, dort, wo der Schmelztiegel glüht. Das ist der Ort, an den der Leser eingeladen wird, doch um Zugang zu erlangen, muss er in sich denselben Weg durchlaufen. Darauf wollte Mallarmé hinweisen, als er sagte: Niemals den Gegenstand geben, sondern allein den Widerhall des Gegenstands.
    Er sagte über die Spiegelung der Worte: „Ich glaube, dass … wir vor allem darauf abzielen sollen, dass die Worte in der Lyrik … sich ineinander reflektieren, bis sie nicht mehr ihre eigene Farbe zu besitzen scheinen, sondern nur noch Übergänge auf einer Skala sind.“
    Erneut griff der unruhige Lyriker nach Mallarmés Prosagedicht „Igitur“ und las:
    „… Und diese Zeit wird nicht wie einst in einem kalten Schauern auf den ebenholzschweren Möbeln verweilen, deren Zierfiguren die Lippen mit einem lastenden Gefühl des Endlichen schlossen, nicht mehr Gelegenheit finden, sich in die übersättigten und dumpfen Vorhänge zu drängen, und den Spiegel mit Überdruss füllen, in dem ich, erstickend und erstickt, eine undeutliche Gestalt zu bleiben beschwor; die ganz in den verwirrten Spiegel zurücktauchte; bis sie schließlich, als ich meine Hände für einen Augenblick von meinen Augen nahm, über die ich sie gebreitet hatte um ihr Versinken nicht zu sehen, in einem grauenhaften Gefühl der Ewigkeit, darin der Raum zu erlöschen schien, sich mir wie der Schrecken dieser Ewigkeit offenbarte. Und als ich im Spiegel die Augen wieder auftat, sah ich die Schreckgestalt, das Schreckgespenst allmählich aufsaugen, was noch an Empfindung und Schmerz im Spiegel verblieben war, und seinen Schrecken mit dem erhabenen Schauern der Zierfiguren und der Unruhe der Vorhänge nähren und sich vollenden, indem es den Spiegel bis zu einer Ur-Reinheit verdünnte …“
    Auch heute noch Durs Grünbein, fiel dem eifrigen Lyriker ein, nach „Vom Schnee, 7: Selbstportrait als leerer Teller“ greifend, und las, was Descartes bei Grünbein sagt:

„Wie kann das sein? Derselbe Spiegel, der mir früh
Im Winterlicht am Kinn die schwarzen Stoppeln zeigt –
Jetzt steht er grau, ein Glas halbvoll, am Fensterbrett.
Und nichts verrät, wie eben noch im Streichholzglühn,
Was er enthielt: mein Bild, die Psyche, tief verzweigt.
Mein Konterfei, herausgeschält aus Nacht und Bett.
Jetzt scheint er blind. Im Staub ein bloßer Scherben dort
In meinem Rücken. Dabei weiß ich nur zu gut:
Sein Glas schöpft weiter, heimlich, aus der Bilderflut.
Nur ich bin hier – an einem ungenannten Ort.“

Um sich zu entspannen und auf andere Gedanken zu kommen, griff der erschöpfte Lyriker nach der Wochenschrift „Spiegel“ und blätterte darin, bis er auf ein Interview mit Martin Walser (vom 10.05.12) stieß. Darin sagt der greise Dichter:

„Die meisten Leute erzählen nicht den Traum, sondern was er ihnen bedeutet. In den Träumen sind wir alle Dichter. Es muss riskiert werden, dass der Traum keine Bedeutung hat. Aber jeder Traum, der als Traum gerettet wird, ist schön.“
   
„Sobald man das Wort erwähnt, sind die Dämonen da“, ruft Grünbein in einem Interview. Wortdämonen, nicht in den Griff zu kriegen so leicht, kommen und gehen, denkt der geplagte Lyriker und wirft den „Spiegel“ auf den Boden. Wie soll man da ein Gedicht schreiben? Vielleicht eins, das nur aus Lücken besteht.
    In ihrer herausforderndsten Form geht, wie gesagt, die Kritik an der Sprache auf Wittgenstein zurück. Der Schluss des Tractatus siedelt die Bereiche von Religion, von Moral, von ästhetischer Erfahrung außerhalb der Sprache, außerhalb beweisbarer Konventionen, ohne Verstehens-möglichkeit und damit auch der der Falsifikation an. Er engt die Grenzen dessen, worüber man sinnvoll sprechen kann, streng ein. Das existentielle Reich „jenseits der Sprache“ ist beim frühen Wittgenstein dennoch vorhanden, die Kategorien empfundenen Seins, zu denen nur das Schweigen oder die Musik Zugang ermöglicht, sind bei ihm weder fiktiv noch trivial. Im Gegenteil. Sie sind eigentlich die wichtigsten, lebensverwandelnden Kategorien. In ihnen definiert sich die Menschlichkeit. Für den Tractatus ist das wahrhaft menschliche Wesen, ist der Mensch derjenige, der angesichts des Wesentlichen Schweigen bewahrt. Damit kommt er den hermetischen Traktaten der Spätantike auf fast mystische Weise nahe.
 
Doch schweigen wir, verstehen wir; (heißt es dort)
reden wir, so reden wir nur.
Und unser Reden ist eine Menge.
Der Sprache aber kommen Worte im Schweigen.

Oder Sokrates bei Platon, dem im Schweigen von Diotima die großen Mysterien erklärt werden, indem er nicht redet oder denkt oder etwas erklärt bekommt, sondern sie in tiefer Stille erlebt. Wittgenstein hat dies bei Tolstoi entlehnt, für den der wahre Aussagemodus und das richtige Verhalten auch das Schweigen ist. Der bessere Teil der Menschlichkeit in uns „bewahrt seinen Frieden“ heißt es bei Tolstoi.
    Es gibt Parallelen, grübelt der Lyriker, zur Methode der Dekonstruktion, und schaltet den Fernseher ein. Auch die moderne Psychoanalyse dekonstruiert die Sprache, indem sie zwiebelartigen Schichten, nicht-authentische Ablagerungen abschält, die den Kern eines vitalen Ausdrucksbedürfnisses umhüllen, und indem sie dies tut, unterhöhlt sie den Status des Wortes. Nur Träume und Wahnsinn und teilweise die Übersetzungen dieser „Anbrüche“ in große Kunst und Dichtung können diesen Durchgang umgehen oder erleben.
    Sprache kann weder die tieferen Wahrheiten des Bewusstseins artikulieren noch die sinnfällige, autonome Evidenz der Blume, des Lichtstrahls, des Vogelrufs in der Morgendämmerung vermitteln. Es ist nicht nur so, dass Sprache diese Dinge nicht offenbaren kann: ihre Bemühungen darum, ihnen näherzukommen, verfälschen und verderben das, was sich im Schweigen, was sich uns in den unaussprechlichen und sprachlosen Begegnungen – Joyce‘ Ausdruck dafür ist Epiphanie, der Walter Benjamins „Aura“ – in privilegierten Momenten mitteilen kann.**** Solche Intuitionen haben Quellen, die tiefer liegen als die Sprache, und müssen, sollen sie ihre Wahrheitsansprüche aufrechterhalten, unerklärt bleiben. Dem nach Luft schnappenden Lyriker, der sich ein Stück Kuchen kaufen geht, fällt die Enthaltung, die Hofmannsthals Lord Chandos gegenüber dem Wort übt, ein und auch Moses‘ Aufschrei am Ende von Schönbergs „Moses und Aaron“: „Oh Wort, du Wort, das mir fehlt.“ (oder: „das sich mir entzieht,“ fügt der Lyriker hinzu, nachdem er den Kuchen, auf der Straße schon, verschlungen hat.)
    Derridas Formulierung ist einschneidend: „Die verständliche Seite des Zeichens bleibt der Welt und dem Antlitz Gottes zugewandt.“ Wenn Roland Barthes lehrt, dass ein Text keine Abfolge von Worten ist, von syntaktischen Formen, die irgendeine einzelne, bestimmbare Bedeutung aussagen, so ist seine Absage begrifflich unmissverständlich. Keine diskursive Äußerung hat irgendeine „einzelne theoretische Bedeutung“. Bedeutungslosigkeit, bzw. Willkürlichkeit von Bedeutung ist immer offen für Aufschub oder Leere.
    Aber was ist Leere? Westliche Theologie ist selbst, wenn es um einen deus absconditus geht, oder um eine Wolke des Nichtwissens oder allgemein um Ästhetik auf den logos konzentriert, der quasi eingegeben allen Dingen ist, aus dem sie ja hervorgegangen sind wie aus einem Bauplan. Sie geht von einer göttlichen Gegenwart in allen Dingen, selbst den schlechtesten, und einer zumindest potentiellen Teilnahme daran aus, selbst für die größten Verbrecher. Dann war es die kartesianische Selbsterkenntnis; die der transzendentalen Logik Kants bis hin zu dem Heideggerschen „Wesen“ im Seienden. Deshalb ist etwas an dem, was wir sagen.
    Die Dekonstruktion dagegen stellt diese Annahme in Frage. Hier herrscht die Abwesenheit. Gertrude Stein sagt: there is no there there (da/dort gibt es kein da/dort).
    Zeichen sind seit de Saussure in der Linguistik dazu da, zu unterscheiden und bestenfalls sind sie Vertröstung.
    Daher die Rolle, die heute Zwischenräume, Lakunen, Risse und Brüche in dekonstruk-tionistischer Argumentation, ja selbst in der Poesie spielen. Auch hier ist Mallarmé die Quelle, dessen typographische Experimente mit „les blancs“ – den Leerstellen auf der Druckseite, den weißen Abgründen schweigenden Nichts zwischen den Zeilen – sich als wegweisend für moderne Literatur erwiesen haben, so wie sich Malewitschs Leerstellen und sein „Weißes Quadrat auf weißem Feld“ als wegweisend für moderne Kunst erwiesen haben. All das soll zerreißen, zerstreuen: Thomas Kling nennt in seinem letzten Gedichtband vor seinem Tod „Poetik“ eine disiectio membrorum (eine Sprengung, Zerstreuung der Glieder). Er sagt: die schamanistische Gliederverstreuung. Eben auch: Die Wortauswerfung. Sowie: die Wortverwerfung.“ Eine naive Vorstellung eines bedeutungshaften Kontinuums, einen lesbaren „Text der Welt“, dem Grammatik und Logik innewohnen, soll es nicht mehr geben. Sichere Brücken zwischen Wort und Gegenstand, zwischen den Zeichen, dem Sprecher und Empfänger sollen zum Tanz werden, spielerisch, satirisch, wie es ja auch angesichts der Tragödien in der Antike die Satyrspiele waren – große Untergänge, gesehen vom kleinen, ungelenken Standpunkt aus. Erfüllt von Traurigkeit, dass nur das Kleine bleibt, derweil das Große verbannt ist.
    Der Lyriker weiß nicht, ob er noch fernsieht oder schon auf der Couch eingeschlafen ist, jedenfalls denkt er noch: Im dekonstruktiven Modell ist es der Leser, der den Text hervorbringt, ist es der Betrachter, der das Bild erzeugt.
    Wer weiß schon, ob er den Vortrag von John Cage, dem Komponisten, 1959 über Nichts als Ausstrahlung empfängt oder über andere Quellen, weil er bereits nicht mehr Herr seiner Sinne ist. Der Vortrag hat vier Takte in jeder Zeile und zwölf Zeilen in jeder Einheit der rhythmischen Struktur.
Ich bin hier                     ,                 und es gibt nichts zu sagen                           .
                                                                                                                           Wenn unter Ihnen
die sind, die irgendwo    hingelangen möchten    ,                                              sollen sie gehen,
jederzeit                         .                                                                Was wir brauchen                      ist
Stille                              ;                     aber was die Stille will
               ist,                   daß ich weiterrede        .
                                                                                                                            Gib einem Gedanken
                      einen Stoß                    :                                             er fällt leicht um
;                   aber der Stoßende           und der Gestoßene                           er-zeugen          die Unter-
Haltung                   die man                       Dis-kussion nennt             .           .
                               Wollen wir nachher eine abhalten                                    ?
(übers. von Ernst Jandl)
                       

 
*   "Coleridge hat Kubla Khan mit einem Vorwort versehen, das erklären soll, wie das Gedicht entstanden ist, und warum es ein Fragment geblieben ist. Gemäss dieser Beschreibung schlief er über der Lektüre eines Buchs aus dem 17. Jahrhundert ein, in dem von Kubla Khan die Rede war. Im Traum hatte er eine Vision, in deren Verlauf ihm nicht nur Bilder erschienen, sondern zugleich die zugehörigen Verse eingegeben wurden. Das Gedicht entstand also im Traum und musste nach dem Erwachen nur noch aufgeschrieben werden. Bei dieser Tätigkeit wurde Coleridge durch einen Besuch (a person from Porlock) gestört, und als er sich später wieder an die Arbeit machen wollte, war die Vision verblasst und der Rest des Gedichts verloren, weshalb der Leser nur den vor der Unterbrechung niedergeschriebenen Anhang zu lesen bekommt."
(Hans-Jost Frey: Kubla Khan (Stellung des Vorworts) in  Mütze 12.)

** Meinolf Reul wendet hier ein: "Ideen bestehen aus Worten" - meines Erachtens eine leichte Sinnverschiebung bezüglich der von Valéry kolportierten Anekdote, die doch zum Inhalt hatte, dass Degas ein Zuviel an Ideen beklagte, was ihm das Schreiben eines Sonetts erschwerte (mit der bekannten Entgegnung Mallarmés), also erst einmal: Sonette bestehen aus Ideen - und Ideen aus Worten. - Bei diesem Gedankengang finde ich interessant, dass Mallarmé darin als Parteigänger Verlaines erkennbar wird ("Musik vor allen Dingen ...").

*** Vgl. Ernst Bloch: „Ich bin. Aber ich habe mich nicht. Darum werden wir erst.“ Perspektiven der Philosophie Ernst Blochs. Berlin (Suhrkamp) 1997.
 
**** Vgl. Walter Benjamin: Über Sprache überhaupt und über die Sprache des Menschen, 1916:
Was teilt die Sprache mit? Sie teilt das ihr entsprechende geistige Wesen mit. Es ist fundamental zu wissen, daß dieses geistige Wesen sich in der Sprache mitteilt und nicht durch die Sprache. Es gibt also keinen Sprecher der Sprachen, wenn man damit den meint, der durch diese Sprachen sich mitteilt. Das geistige Wesen teilt sich in einer Sprache und nicht durch eine Sprache mit – das heißt: es ist nicht von außen gleich dem sprachlichen Wesen: Das geistige Wesen ist mit dem sprachlichen identisch, nur sofern es mitteilbar ist. Was an einem geistigen Wesen mitteilbar ist, das ist sein sprachliches Wesen. Die Sprache teilt also das jeweilige sprachliche Wesen der Dinge mit, ihr geistiges aber nur, sofern es unmittelbar im sprachlichen beschlossen liegt, sofern es mitteilbar ist.
    Die Sprache teilt das sprachliche Wesen der Dinge mit. Dessen klarste Erscheinung ist aber die Sprache selbst. Die Antwort auf die Frage: was teilt die Sprache mit? lautet also: Jede Sprache teilt sich selbst mit.
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