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Kristian Kühn: Das Ich-Geschenk

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Am 9. September 2022 auf der Wartburg
Das Ich-Geschenk

von Kristian Kühn


In Deutschland hat ein empfindlicher Kampf ums Publikum begonnen. Die Öffentlichkeit ist dabei weniger ein Ziel von Aufklärung oder Information geworden, sondern von Initiative und Präsentation, d.h. von Ausbreitung auch außerhalb des eigenen beschränkten Wirkungskreises, was zu einer Selbst- und Dauerbestätigung kleinster Konventikel, neugegründeter Vereine, sich bildender Verbände führt (Stichwort Erhöhung der Fördersummen), um ein Mitspracherecht zu erwirken oder zu erhalten, um sich als kampfstarke oder zumindest noch vorhandene Lobby zu erweisen, die als staatstragend oder staatszersetzend, was sie natürlich nie zugeben würde, fungieren möchte. So bilden die sozialen Medien auf ihre Weise ein Zerrbild (im wahrsten Sinn des Wortes) dessen, was tatsächlich geschieht. Auch in der Lyrik.
         Parallel dazu entzieht sich das sog. Publikum, also passen Leute, die nicht zur eigenen Gruppe gehören, mehr und mehr. So dass als eigentliches Ziel aller kultureller Bestrebung heutzutage eigentlich nur noch die Eigenwerbung bleibt. Und – natürlich – dieser amerikanische Kampf der Guten gegen das Böse.
            Diese Ichpräsentation, wie klug ich denken kann, was für schöne Augen ich habe, wie tief ich um mich und die Zukunft trauere, wie hübsch ich dabei aussehe, vulnerabel und entleert – scheinbar – zu sein oder zu werden.

Soweit das Netz. Es gibt aber auch Realien. Und Größe. Etwa die Aufbahrung von Elizabeth II. in der kalten Westminster Halle verweist beim Zuschauen auf das Menschliche als das Kleine, oder noch kleiner, deutscher, aber immerhin, ein Betreten des Palas der Wartburg. Dann schrumpft das Eigene und wächst das Ganze als Kontinuum.
         Eine dieser Dauerpräsentationen findet zurzeit noch in Eisenach statt. „Kraft der Worte“ wird die Festwoche zum Lutherjahr 2021/22 dort genannt. Vom 11. bis 18. September, mit dem Grußwort der Oberbürgermeisterin (PDS) und einem weiteren des Superintendenten des evangelischen Kirchenkreises mit der dringenden Empfehlung, „die Kraft der Worte immer neu auszurichten auf ein gelingendes Miteinander.“ Und so werden Sprachvirtuosen vorgestellt, Musiktheater, der jüdische Friedhof, baltische Philharmonie, Rap, Poetry Slam (Bibel reloaded), Kinderorgelkonzerte und eines Morgens (am Mittwoch) gibt es den Morgensegen mit der Samba-Gruppe.

Am 9. September noch endete das sogenannte Wartburg-Experiment – mit dem Finale „Poesie und Polemik“. Dabei handelte es sich um eine doppelte Buchvorstellung mit anschließendem Rundgespräch. Zum einen die drei dichtenden Ichs, die sich im „Wartburg-Experiment“ im Herbst 2021 auf eine Zwiesprache mit der Lutherbibel, der Schreibstube und dem Tintenfass eingelassen hatten, indem sie dort jeweils einen Monat in Klausur schrieben, Iris Wolff, Uwe Kolbe und Senthuran Varatharajah, der auf der Wartburg seinen zweiten Roman („Rot [Hunger]“) zu Ende bringen wollte.
       „Der Augenblick nennt seinen Namen nicht – Wartburg-Tagebücher“ heißt ihre Anthologie, in der die Drei ihre Eindrücke beim Schreiben in Gegenwart der Größe einer anderen Zeit, eines anderen, mächtigeren Ichs, des Kampfes Martin Luthers mit den Widrigkeiten seiner Zeit der Reformation und den Unpässlichkeiten, die solche Größe (im Kampf gegen die Versuchungen des Teufels,) so mit sich bringt. Und zum anderen die Anthologie des Lyrikpreises München 2021, hervorgegangen aus der Shortlist der Einreichungen zum Thema: „Luthers Beitrag zur Mündigkeit des Menschen und das Krisenbewusstsein unserer Zeit“, für die Yevgeniy Breyger die beiden Schlusskapitel seiner in München preisgekrönten sieben Prozessionen „Was lernt man ohne Absicht zu verzeihen?“ vortrug.

Iris Wolff hatte sich in ihrer Wartburgzeit mit Begriffen auseinandergesetzt, mit Worten wie Verwandlung, Chaos, Offenheit – diese für sich „gewinnen“ können und deshalb dann auch ihren Beitrag zur Wartburg-Anthologie „Fische fangen – Unterwegs in der Sprache“ genannt. Auf die Frage, wie die Anwesenheit der Toten auf sie gewirkt habe, antwortete sie sibyllinisch „die Toten, die Lebenden und das Selbst“ zu gleichen Teilen, womit sie wohl auch meinte, dass dieses hellenistische „Am Anfang war das Wort“ oder dieses protestantische „sola scriptura“ (Nur die Schrift! Sprich die Bibel) bewusst auf sie gewirkt habe und auch gerade die Lebenden ihr den Weg zum Selbst weisen konnten. Auf den Abstieg in die Unterwelt (oder die Nekyia als Heraufholen des Dämonischen) ist sie nicht weiter eingegangen, sondern lieber auf das alltägliche Netz der immer zu Hilfe bereiten Lebenden.
          Uwe Kolbe, in dieser Runde als Urgestein mit literarischen Wurzeln aus DDR-Zeiten, hatte seine 28 Tage auf der Wartburg damit verbracht, 28 „Konglomerat-Steine“ zu inspizieren und zu zerlegen, denn geologisch bildet die Erhebung, auf der die Wartburg errichtet wurde, ein Konglomerat, sprich ein Gemisch aus sehr verschiedenartig Grobkörnigem. Und so nennt er seinen Beitrag „Das Wartburg-Konglomerat“.
        Auf Wolff bezugnehmend, begann Senthuran Varatharajah damit, dass er nicht Wörter auf der Wartburg gewonnen, sondern verloren habe. Und im Gegensatz zu Luther habe er auch, wie immer, wenn er schreibe, anschließend alles widerrufen. Und er habe nicht seinen Roman zur Welt gebracht, sondern dieser ihn. Jeder Roman sei eine Geburt des Ichs. Ein Ich-Geschenk. Und so las er über das Absinken, über die Tiefe in der Nähe des Schweigens. Und über das Neugeborenwerden in Sprache: „Deutsch ist die Sprache, die zu meinem Fleisch geworden ist!“
Über das Körperwerden von Sprache handelt auch Breygers Text:

Ein Werk, ein Frieden, tausendfach verkleinert bis zur Größe
einer Drüse, um meinen Blick zu richten.
        […]
Die Dunkelheit verwandelt sich
in Fieberglut, weil ich Gedanken fasse, als hielte ich den Abgrund
fest, der vor mir flieht. Darin durch das Vergessen watend, und wie
es langsam durch die Mäntel der Arterien dringt als uferloser heller
Gruß.  (6. Prozession, 1f.)

Im anschließenden Rundgespräch „Poesie & Polemik“ wurde deutlich, dass für alle Anwesenden der Geist auch im Tode steckt. Im Leichnam, in der Nigredo, aus der (wie durch Verrat, durch eine Variation) das Neue entstehen kann, wenn es weitergegeben und übertragen wird. In dem Gift des Verfalls liege latent also die Weitergabe des Geistigen zugleich.
    Der das Gespräch zusammen mit der Burghauptfrau Dr. Franziska Nentwig leitende Landesbischof der Evangelisch-lutherischen Landeskirche Hannovers, Ralf Meister, begann leise mit der Frage nach den anfänglichen Schwierigkeiten, in Klausur auf der Wartburg dichtend oder übersetzend Fuß zu fassen. Denn auch Luther hatte die ersten Monate dort Depressionen und Verdauungsschwierigkeiten. Varatharajah, auch katholischer Theologe, mit tamilischer Abstammung, fasste sich als erster und gab zurück, dass für ihn als Katholiken das Große immer auch mit Tragik verbunden sei. Mit einer Vielzahl an Versuchungen, einem möglichen Tod bei der Hingabe und dem Schweigen gegenüber den Mysterien.
        Der Teufel auf der Wartburg beginnt nun nicht mit Luthers Tintenfass, das er im Zorn gegen die Schreibwand warf. Schon in den Legenden um den Sängerkrieg auf der Wartburg am Hofe Hermanns von Thüringen (1190 – 1217) ist von ihm die Rede. Bei E.T.A. Hoffmann („Der Kampf der Sänger“) singt Heinrich von Ofterdingen von Anfang an anders als die frommen Sänger. Zunehmend in heftiger Liebe zur Gräfin Mathilde entflammt, singt er Lieder voll „Ruchlosigkeit“ und erfährt nichts als Ablehnung. Ihm zu Hilfe kommt Klingsohr mit seinem Teufel Nasias, der vor Wolfram von Eschenbach ein Lied von den „überschwenglichen Freuden des Venusbergs“ singt. Ein dem altvorderen Sängerkrieg fremdes Motiv: die erotische Wirkung der Musik auf die Zuhörer. Eros, der dazu da ist, das Oben (den Überfluss) mit dem Unten (der Bedürftigkeit) zu verbinden, das Göttliche mit dem Profanen, hat immer auch etwas Raubendes, vielleicht das Bewusstsein oder gar den Tod durch einen Kuss. Auch Novalis schreibt über diesen Teufel und den Hokuspokus, der zwischen Sprache und Schweigen stattfinden kann. Und so ist das Teuflische eigentlich das Gegenteil des Schöpfungsprozesses, die Begegnung mit Widerständen, wie mit dem Teufel – dies die Jugendschutz-Variante. Es gibt auch den verlockenden Teufel, den Titanen Satan, manche nennen ihn auch Prometheus, der glaubt, allein durch seine Schönheit und seinen luziferischen Glanz, aber auch durch das Herunterholen des Feuers und Wissens Herr der Welt zu sein. Der Teufel also bin ich manchmal selbst. Weil der Widerstand in mir größer ist als die Freude an Zuneigung und Vereinigung. So in etwa klingt es, wenn Varatharajah sich zu seinen Tagebuchaufzeichnungen auf der Wartburg bekennt.
         Die Wartburg-Tagebücher zeigen uns heute eindrücklich, dass das Experiment erfolgreich war, freute sich Michael Jahnke, der Leiter des Bibelprogramms der Deutschen Bibelgesellschaft. Allen Vortragenden sei es gelungen, das Geistige mit diesem besonderen Ort, seiner Geschichte „und unserer Gegenwart ins Gespräch zu bringen“.
    Wie gebildet und freundlich, wie wohlwollend und inkludierend sie auch sind, wie zuvorkommend, sympathisch und modern, diese Pfarrer*innen und ihre Familien, immer noch als Ganzes für die Staatraison mitentscheidend (so wie einst Gottfried Benns Aufsatz: Zucht und Zukunft, 1933: „Da ist zunächst das Erbmilieu des evangelischen Pfarrhauses. Aus diesem Pfarrhausmilieu sind, wie bekannt, statistisch nachweisbar über 50 Prozent aller großen deutschen Männer hervorgegangen. (…) Es entstand dort jener Typ des Denkers, der zugleich Dichter oder der des Dichters, der zugleich Philosoph und Gelehrter ist.“), doch mit der aufkommenden Gegenmoderne haben sie eigentlich wenig zu tun, die evangelisch Gebliebenen, sie sehen darüber und über andere Unebenheiten schweigend hinweg, mit einem Angebot an Diversität, also gleichzeitig zu den Resten des Flickwerks, das einst eine Lehre war, und zwar die des Kreuzes, an dem der Gottessohn sich für die Schuld der Menschen aller Zeiten geopfert hat.
        Da wo es einst, in der Nähe des Mysteriums, Silentium! Und Sigé, sigé, sigé geheißen hat (und in der Antike bei Kallimachos im Apollon-Hymnos: hinfort hinfort, wer unrein!), da sind sie jetzt alle fort, woanders halt, weil es woanders spannender ist, oder mal kurz mit blasphemischen Interjektionen zurück. Weil sie in ihrer Weltsicht lieber glauben wollen, selbst Schöpfer*in zu sein. Die meisten selbstredend auf recht kümmerliche Weise. Aber sie wollen demokratisch mitbestimmen und sich nicht unterordnen oder gar einer dubiosen Autokratie hingeben.

Oder wie Breyger in seiner 7. Prozession fortfährt:

Zu einem Fest da Blumenköpfe umgekehrt nach unten sprießen
und Wurzeln blühen aus der Erde, am heißen Morgen,
da die Insekten Lieder spielen vom Verschwinden einer Wiese
Sauerampfer, träge wie ein Sonntagsvolk – Und Massen Klee
in jeder Farbe, junge Minze, entzweite Töne über Wiederkehr
und Auszug, Laub. Ein kleines Hoffen auf ein wenig Wasser

im Wandel hin von Luft zu Wind.


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