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Klaus Brinkbäumer: Zeit der Abschiede

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Matthias Messmer

Lob der Verletzlichkeit
Über «Zeit der Abschiede» von Klaus Brinkbäumer


Lieber Klaus:

Vielleicht überrascht es dich, dass ich dich duze. Wir kennen uns schliesslich nicht persönlich. Du sollst mein Du aber keinesfalls als respektlos empfinden, sondern eher als Ausdruck von Sympathie und Vertrautheit.

Lass mich bitte zuerst etwas über die Hintergründe meines Schreibens sagen, bevor ich auf dein neuestes Buch «Zeit der Abschiede» (Verlag C.H. Beck 2025) zu sprechen komme.

Du bist im selben Jahr geboren wie ich und hattest ebenfalls einen Vater, der Lehrer war (deiner im Fach Latein, meiner in Musik). Und du hattest, ebenso wie ich, feine Eltern, die fast sechs Jahrzehnte miteinander verheiratet waren. Ebenso wie ich denkst du mit Wehmut und Dankbarkeit an deine schöne, scheinbar endlose Kindheit zurück. Zudem hast auch du das Glück, dass dir in deinem Leben eine liebe Frau zur Seite steht. Auch du hast lange Zeit im Ausland gelebt und Bücher geschrieben, wenn auch nicht über China wie in meinem Fall, sondern über die USA, etwa den Bestseller «Im Wahn. Die amerikanische Katastrophe». Du warst Chefredakteur des SPIEGEL, ich bin unter anderem freier Mitarbeiter der NZZ.

Die wichtigste Parallele scheint mir jedoch die zu sein: Auch du bist ein Mensch, der versucht, sich einen Reim auf das Leben zu machen. Wie du bin auch ich damit beschäftigt, meine Innenwelt mit dem, was draussen auf der Welt vor sich geht, in Beziehung zu bringen. Ich frage oder versuche zu erahnen, was unser Leben mit dem der anderen zu tun hat, stets auf der Suche nach einer Brücke zwischen gesellschaftlichen und privaten Erfahrungen. Wahrscheinlich ist es diese von mir beim Lesen deines Buches wahrgenommene Resonanz, die mich bewegt hat, dir zu schreiben. Poetisch (und in den Worten von Ingeborg Bachmann) ausgedrückt könnte man vielleicht sagen: «Ich grenz, wie wenig auch, an alles immer mehr.»

Früher, als ich häufig nach China geflogen bin, habe ich die Stewardess meist schon vor dem Start nach dem SPIEGEL gefragt (die ZEIT und die FAZ kamen erst über Putins Reich – damals flog die Swiss noch über Russland – zum Einsatz). Die Lektüre des Hamburger Nachrichtenmagazins bei einem Glas Sekt in der Business Class war damals für mich das Höchste der Gefühle. Man kam sich irgendwie wichtig vor, schob dieses Gefühl aber dann rasch beiseite und freute sich einfach auf die kommenden Lese- und Filmstunden bis zur Landung in der Megastadt Shanghai.

Nur Minuten nach dem Abflug warf ich jedoch diesen alles entscheidenden Blick aus dem Fenster auf die grüne Landschaft der Voralpen, auf meine Heimat. «Da unten: Das muss das Dorf sein, in dem meine Eltern jetzt gerade Mittag essen oder im Garten auf dem Liegestuhl sitzen.» Ob sie mein Flugzeug sahen? Mir vielleicht aus der Ferne zuwinkten und sich fragten, wann sie ihren Sohn wiedersehen werden?

Bei diesem Gedanken bohrte sich jeweils ein Stich durch mein Herz. Manchmal zitterte ich und hatte Tränen in den Augen. Was, wenn es das letzte Mal war? Was, wenn wir uns nicht mehr wiedersehen? Nie mehr? Was, wenn sie krank werden oder einen Unfall haben? Ich legte den SPIEGEL dann immer zur Seite und auch der Sekt schmeckte nicht mehr. Die über dem Schwarzen Meer rasch einsetzende Dunkelheit tat ihr Übriges zur Gefühlslage. Mir blieb nur noch das Händefalten, um Ruhe zu finden.

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Jetzt hast du, lieber Klaus, ein sehr persönliches und kraftvolles Buch mit dem Titel «Zeit der Abschiede» geschrieben. Das Publikationsdatum passt genau zur Jahres-zeit, denn bekanntlich sind die Herbstmonate gleicher-massen Erntezeit wie Zeit des Welkens. Dein Buch lenkt den Fokus auf diesen Moment der Rück- und Vorschau: auf unsere Kindheit, als wir einfach «nur» Kinder von Eltern sein durften, die uns eine Heimat geschenkt und viele mögliche Wege in unserem Leben eröffnet haben.

Für mich ist dein Rundumblick eine Art «Sehnsuchtsschau», eine besondere Anlage, durch die Luke in unser Innerstes und in die Ewigkeit zu blicken, dorthin, wo wir ganz allein sind, es aber nicht sein wollen, obwohl wir es allem An-schein nach sein müssen. Es sind die Themen Loslassen, Vergänglichkeit und Alleinsein, die unweigerlich mit Äng-sten, mit Schmerz und Trauer in Verbindung stehen.
Neben deinen individuellen Erfahrungen und Erlebnissen, über die du im Buch so trefflich sinnierst und erzählst, stehen dir (und jetzt auch uns) «Helferinnen und Helfer» zur Seite, um in Momenten des Abschieds mit den damit verbundenen Gefühlen und Emotionen fertig zu werden. Ein Beispiel ist der renommierte CNN-Moderator Anderson Cooper mit seinem preisgekrönten Podcast «All there is», in dem prominente Persönlichkeiten ihre Trauer-geschichten teilen. Oder die verstorbene Schriftstellerin Joan Didion, die schreibt, dass sich das Leben anfühlt wie in einem U-Boot auf dem Meeresgrund, wenn die Eltern sterben.

Der Essayist Roger Angell empfiehlt dir, «ein witziger und grossherziger Gastgeber zu sein». Erwähnenswert ist auch das von dir wiedergegebene Zitat des allzu früh verstorbenen Theaterregisseurs Christoph Schlingensief: «Wenn sich dein Leben in eine Tragödie verwandelt, versuche, sie als Zuschauer zu betrachten.» Solche und andere Gedanken können gewiss vielen Menschen Trost spenden bei unheilbaren Krankheiten und Abschieden, aber auch bei der Reue über Verpasstes, bei Verlustängsten und realen Ängsten.

Auch die Worte der Schriftstellerin und Psychologin Helga Schubert in deinem Buch sind Balsam für die Seele: Es geht, so schreibt sie angesichts des Abschieds von ihrem Mann, um das Loslassen, das Annehmen, es geht um das Friedenschliessen, das Einverständnis, das Nicht-dauernd-Ändern-Wollen von anderen, sich selbst und dem Leben. Danke auch für die Zitate aus den Werken von Paul Auster («Baumgartner»), Roger Willemsen («Der Knacks») und natürlich Olga Martynova («Gespräch über die Trauer») – sie alle haben sich mit dem Thema Verlust und Trauer aus ganz persönlicher Erfahrung auseinandergesetzt.

Die Perlen in deinem Buch sind für mich die Stellen, an denen du über deine Eltern sprichst. Darin widmest du ihnen ein unsterbliches Denkmal, etwa mit den Worten: «Ich sehe meine Mutter und weiss, dass es in meinem Leben nie wieder einen Menschen geben wird, der derart ausnahmslos alles verteidigen wird, was ich tue, auch den Unfug.» Oder wenn du über deinen Vater schreibst: «Sehe ich meinen Vater vor mir, dann wird mir warm.» Das sind wunderbar heilsame Worte für Leserinnen und Leser deines Buches.

Die Liebe zu deinen Eltern – und umgekehrt – wirkt in die Zukunft. Diese seelische Verbindung, die Spuren deiner Mutter und deines Vaters, gibst du an deine Kinder weiter. Ist das nicht das wertvollste Vermächtnis überhaupt? Seit 1947 gab es fast zwanzig SPIEGEL-Chefredakteure, aber nur einen Klaus Brinkbäumer. Das ist es, was in deinem Leben wirklich zählt.

Das Buch «Zeit der Abschiede» hast du sowohl für dich wie auch für all jene Menschen geschrieben, die sich – gewollt oder ungewollt – mit den Themen Abschied, Trauer und Tod beschäftigen. Für deine ermutigenden Gedanken und fruchtbaren Impulse danke ich dir herzlich! Ich wünsche dir auf deinem weiteren Lebensweg alles Liebe und Gute und grüsse dich herzlich aus der Schweiz, Matthias  

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Randbemerkung: Buchbesprechungen zu schreiben ist keine einfache Sache. Denn nicht selten tangieren sie die Eitelkeit des Kritikers. In manchen Fällen kommen sie auch seiner Überheblichkeit in die Quere. Rezensenten urteilen oft ungerecht über das schriftliche Werk eines Menschen, der lediglich versucht hat, seine Gedanken und Gefühle zu Papier zu bringen. Wenn man selbst Autor ist, weiss man, was das bedeutet.
Ich habe mich deshalb entschlossen, die Devise «Ansprechen statt Besprechen» zu verfolgen und dem Autor des soeben erschienenen Buches «Zeit der Abschiede. Sieben Jahre des Loslassens und Wiederfindens» (Verlag Beck 2025) direkt zu schreiben.
Klaus Brinkbäumer ist ein deutscher Journalist, Moderator und ehemaliger Chefredakteur des Nachrichtenmagazins «Der Spiegel». Er ist Träger zahlreicher Journalistenpreise und noch vieles mehr. Und er ist – eine nicht ganz übliche Kombination für Leute seines Berufs – mutig und feinfühlig zugleich, «zu lieb», wie er einmal über sich selbst anlässlich eines Interviews mit US-Präsident Obama gesagt hat.


Klaus Brinkbäumer: Zeit der Abschiede. Sieben Jahre des Loslassens und Wiederfindens. München (C.H. Beck Verlag) 2025. 208 Seiten. 24,00 Euro.


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