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Katharina Kohm: Vom Knäuel und dem Widerständigen im Gedicht

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Vom Knäuel und dem Widerständigen im Gedicht
Betrachtung zur Münchner Rede zur Poesie Yevgeniy Breygers
von Katharina Kohm

Der Moment, der hier einzufangen und nochmals im Nachhinein zu betrachten ist, war ein besonderer. Innerhalb der Reihe der Münchner Reden zur Poesie, die vom Lyrik Kabinett kuratiert und dort vorgetragen wird, ist diese Rede, die Yevgeniy Breyger am Abend des 5. Dezember hielt, die 24. Münchner Rede zur Poesie.
         Die Reden sind alphabetisch durchdekliniert, und so erscheint die Rede mit dem Titel »Am Anfang knäulte das Wort, am Ende platzt der Gottballon« unter dem Buchstaben X, dem 24. des Alphabets. Ein interessanter Zufall scheint dies zu sein, da der Buchstabe X auch als Stellvertreter für alle anderen Buchstaben gelten kann; er markiert ein Besetzbares, aber auch die Markierung eines Weges.
    Diesen Gedanken der Betrachtung der Rede vorwegzuschicken, soll hier, um nicht missverstanden zu werden, nicht etwa bedeuten, dass Beliebigkeit hier ein Thema wäre, sondern im Gegenteil, vielmehr dass innerhalb der direkten Ansprache an uns, welche die Rede Breygers auch im unmittelbaren Zuhören durchweg charakterisiert, wir uns in einer Art des »wahrhaftigen« Zugangs zu Welt in Sprache verhalten können. Diese Haltung in der Sprache markiert genau jene, die wir heute bitter nötig haben in einer Reziprozität, die Zuhörende auch zu Mitwirkenden macht. Ein Versprechen, das Breyger zu Ende seiner Rede auch seinen Zuhörenden anträgt, ein Versprechen, das er gibt und es auch von den Zuhörenden und Leser*innen erbittet.
         Diese Rede ist besetzbar und markiert in diesem Sinne keine Poetik, sondern eine poetische Rede über die Notwendigkeit von Poesie, gerade in diesen Zeiten.

In seiner vorweggeschickten Einführung schilderte Frieder von Ammon den existenziellen und kulminierten Hintergrund, mit dem der Dichter Yevgeniy Breyger sich mit Worten in Bezug setzt zu gegenwärtigen Kriegen und Anschlägen, die ihn direkter betreffen, als andere.
    Der Gedichtband »Frieden ohne Krieg«, der jüngst bei kookbooks, Breygers dritter Gedichtband in diesem Verlag, erschienen ist, ist direkt als persönliches Verhalten zum Krieg in der Ukraine entstanden.
     Zu diesem unmittelbaren Verhalten musste dieser letzte Band entstehen, nachdem ein Gedichtband, der »Aprillen« heißen sollte, der sich unter anderem, wie es Ammon formulierte, barockhaften Motiven verschrieben hatte und schon druckfertig war, sich plötzlich ganz und gar nicht mehr stimmig angefühlt haben muss, nämlich in dem Moment, als der Krieg regelrecht in die Welt und die Sprache einbricht.
         So schreibt Breyger in kürzester Zeit einen neuen Band, einen, in dem Geschichte (auch die Deutschen waren in die Ukraine einmarschiert) und Aktualität in den Texten persönlich nahe rücken. Von Ammon zitiert dabei aus dem Gedicht »statt erklärung«, an der der Krieg in die Vorhaben eingefallen ist:

»ich will also dieses buch schreiben und habs bis februar fertig / geb fast ab fürs lektorat / aber, erinnerung an leser*in: / *Nach dieser Zeile bricht der Krieg aus« (Frieden ohne Krieg, S. 37).

Wo andere schweigen, einige Plattitüden absondern, andere das Geschehen ignorieren, sucht und findet Breyger Formen des sich Verhaltens dazu in Sprache, immer unter der Prüfung der Wahrhaftigkeit der Rede, des Naherückens der Worte an ihn und auch an uns, in denen es, wie von Ammon es ausdrückte, »buchstäblich um alles geht«. Auch markiere die tiefe Zäsur in diesem Gedichtband eine Grenze, die dort, wie nirgends sonst, in der Gegenwartslyrik spürbar werde.

Von Ammon ordnete die Rede Breygers mit dem existenziellen Titel: »Am Anfang knäulte das Wort, am Ende platzt der Gottballon« ein und hebt sie gleichsam auch hervor, indem er unter anderem die Beschreibung, den Klappentext der in Broschur erschienenen Rede Breygers zitiert:
»Selten ist ein Autor poetologisch so aufs Ganze gegangen wie hier«.


Vom fremden Tier
Die Unmittelbarkeit und die Notwendigkeit des Gedichts in diesen Zeiten wird schon zu Anfang der Rede klar, indem die poetische Rede im krassen Gegensatz zum automatisch generierten Sprechen gesetzt wird.
        Seine Rede beginnt mit vorangestellter, fremder Rede, mit ganz und gar fremder, künst-licher; nämlich mit ChatGPT. Mit der Anweisung »Schreibe eine Rede zur Poesie mit dem Thema ›Unterschied von Wahrheit und Wahrhaftigkeit‹« stellt Breyger diese mithilfe von Algorithmen generierte Rede seiner eigentlichen Rede zur Poesie voran. Dies ist kein Clou, aber ein Aufhänger, nämlich der Anlass, tote Sprache der »lebendigen und atmenden« Dichtung eines Einzelnen gegenüberzustellen, sie dazu in Kontrast zu setzen.
            Nicht zufällig beginnt die eigentliche Rede Breygers ganz ohne standardisierte Ansprache »Sehr geehrte Damen und Herren«, ganz unmittelbar mit der Rede vom Menschen, enggeführt mit Gesicht/Gedicht, Tier, also Kreatur:

»Die innere Wahrheit des Gedichts ist ein fremdes Tier. Das Tier hat zwar eine tierische Gestalt, ähnelt aber der Sorte von Menschen, die Tieren ähneln.« (S. 9)

Dieser Gedanke von der Verlebendigung der Sprache findet sich im Grunde schon während seines Beitrages zum diesjährigen Bachmannpreis entfaltet, bei dem es um das (individuelle) Gesicht geht. Auch kommt die Rede vom Tier ganz kulminiert in seinem Brief aus der Zukunft an die verstorbene Künstlerin Eva Köstner zur Sprache. Der Band »Nichts« entstand zum Gedächtnis der Künstlerin gemeinsam mit Michael Wagener und erschien im gutleut Verlag. Dieser Brief endet mit:

»Du Brand, du Haus am Wegesrand, du tiefer Rest vom Brot als Spatz getarnt, du Engelstier. Bleib hier.« (Nichts, S. 17)

In der Rede wird ganz direkt technokratischer, algorithmen-generierter Sprachproduktion entgegnet und das lebendige Gedicht entgegengesetzt.
      An dieser Stelle bereits werden die Zuhörenden direkt in den Anblick, den Blick des Gegenübers mit einbezogen, angesprochen und wird somit das gesamte Verhältnis zur Sprache, die Art der Wahrnehmung, verändert. Aus Distanz wird gemeinsame Anwesenheit in der Anschauung.  

Die Rede vom »dunklen Knäuel« wird dabei zum reflektierenden Sprachbild und ist auch im Titel gesetzt als Sprachkomplex der eigenen und auch der mit der eigenen verwandten Rede, das lebendige Gedicht als fremdes Tier, das man streicheln sollte:

»Es ist ein winziges, armes Knäuel, das offen daliegt, aber in ihm pulsiert die Kraft des Wortes.« (S. 9)

Das Tier, das keine Verwandten hat, sich seinen Namen selbst gibt, von keinem Gott abstammt, erinnert ein wenig an das Katzenlamm aus Franz Kafkas Kurzprosatext »Eine Kreuzung« aus dessen Nachlass*. Dass das Gedicht verwaist scheint, allein unterwegs ist und seine so notwendige und schwierige Reise bestreitet, macht seine Wahrhaftigkeit, seinen Widerstand, seine Persönlichkeit (!) aus und nur durch diese Eigenheiten kann es diesen Widerstand durch Unmittel-barkeit überhaupt bilden.


»Das Leben schlägt das Gedicht« – Das Problem der Metapher

Grundsätzliches und Existenzielles des Gedichts werden im Laufe der Rede, die man reflexiv als ebenjenes Knäuel verstehen kann, in ihrer Entfaltung poetologisch verschlungen mit drei Gedichten anderer Lyrikerinnen, Dagmara Kraus, Matthea Harvey (in der Übersetzung von Uljana Wolf) und Christine Lavant, deren Gedichte zu Wegmarken der Rede werden.
       Gleichzeitig arbeitet sich die Rede an der Metapher ab. Paul Celan, den die Metapher in ähnlicher Weise umgetrieben hat, formulierte es einmal so:

»Wer nicht mittragen will, spricht von Metaphern.«

Die Gefahr der Metapher als Mittel der Entfremdung, der Distanzierung oder Ignoranz gegenüber dem Leben und auch der furchtbaren Geschehnisse darin, gerade auch aktuell, lässt Metaphorik, artifizielles Sprachspiel und Wortakrobatik grotesk, ja schon auch zynisch erscheinen. Breyger setzt das Schweigen, eine Minute Schweigen dagegen. Und er lässt Leben und Gedicht in einen Dialog treten:

»›Das Leben schlägt das Gedicht‹. sagt das Gedicht.
›Nein, wir sind ein und dasselbe‹, sagt das Leben, ›ein und dieselbe‹.
›Nicht immer‹, sagt das Gedicht, ›da gibt es die Wahrheit auf der einen Seite und auf der anderen Seite die Wahrhaftigkeit. […] Wo die Wahrheit privat ist, ist die Wahrhaftigkeit persönlich.‹«(S. 11)

Wo es persönlich wird, wird es politisch. Wo es uns angeht, wo es uns betrifft, beziehungsweise berührt, sind wir dazu angehalten, uns nicht in einer Betroffenheit, in einer Schockstarre zu verschweigen, sondern durch Berührbarkeit Wege der Begegnung zu finden, das Angesprochen-Sein zu erwidern.
         So wendet sich Breyger dem Märchen zu, der, wie er schreibt »Königin der Metaphern« (S. 13). Auch hier wird deutlich, dass er die Sprache des Märchens nicht als reine Symbolik, als Vehikel, Transportmittel von auflösbaren und encodierbaren Inhalten versteht – was codiert ist, lässt sich rechnen. Auch gehe es nicht um das reine Abarbeiten von Traumata (diese Wendung ist sicherlich der beliebten und langen Tradition der psychoanalytischen Märchendeutung zu verdanken), es gehe um Trost, auch um Humor und darum, dass Märchen im Laufe der Zeit umgeschrieben, verwandelt werden, gerade auch im Hinblick einer emanzipatorisch-feministischen Lesart, die in aktuelle Gedichte eingeht.
       Zur Verdeutlichung deutet er das Gedicht »dagmärchen vom aal« von Dagmara Kraus im Sinne der Auflösung von Hierarchie- und Machtverhältnissen. Es gehe dem Gedicht, und das wird schon am Anfang der Rede deutlich, um eine »gleichberechtigte Koexistenz zwischen Autorin und Leser*innen« (S. 16). Diese Auflösung des hierarchischen Blicks aktiver Sprachproduktion und passiver Rezeption ist in der Literaturwissenschaft durch jüngste poststrukturalistische Theoreme längst in der Diskussion, nur in der alltäglichen Praxis, im Leben, eben noch nicht ganz angekommen. Das Gedicht arbeitet sich ab an dem Clash zwischen Märchen und Krieg, zwischen Leben und Entfremdung und formuliert seine Fragilität.


Die verwundete Rede von der Wunde

Wer unmittelbare und wahrhaftige Rede äußert, setzt sich aus, auch einem Risiko der Verwundbarkeit. Auch des verwundet Seins von Welt. Die Rede von der Wunde, dem Trauma, kann, laut Breyger nur durch das Wort davon, auch durch Selbstbefragung, Reflexion und Offenheit im Sinne von unentwegter Berührbarkeit geheilt werden; so kann in der Legende oder im Mythos auch nur jener Speer die Wunde heilen, der sie geschlagen hat.
          Dieses gleichnishafte Bild erscheint als fundamental für das Reden über diese existenzielle Verwundung, die erneute Verwundbarkeit offenlegt, die aber nur durch das Offenlegen Hoffnung zur Heilung erfährt. Gerade durch das Nicht-Verschleiern und der wahrhaftigen Auseinander-setzung auch in poetischer Sprache, lassen sich die Zusammenhänge, die sich teilweise widersprüchlich verhalten, eben nicht glätten und ausschmücken, sondern durch Bildlichkeit engführen und so wahrhaftig darstellen »durch den Odem des Gedichts, durch die Kunst, also der Dauer.« (S. 23)

Die Wahrheit wird wahrhaftig, d.h. Leben wird Gedicht, d.h. »das Persönliche [wird] politisch«, wenn es sich um ein solcherart Gedicht handelt und solcherart formuliert wird, dass es auch den Widerstand verkörpert, den lebendige Dichtung freisetzt, indem es sich ihm auch aussetzt. So könnte man sagen, gibt es kein unpolitisches Gedicht, das wahrhaftig (wirklich empfunden) ist.
        So spricht Breyger in seinem letzten Teil, dem er den Zwischentitel »Durchgeistert von Widerstand« gibt, ganz von einer Notwendigkeit des Gedichts in diesen Zeiten:

»Dort, wo ein Gedicht die Notwendigkeit erkennt, nicht bloß Spiegel der Gesellschaft zu sein, verzaubertes Kästchen, Trillerpfeife, Gummihandschuh zum Einmalnutzen und weg damit, sondern sich aufmacht, die Zusammensetzung der Welt zu verstehen, übertritt seine Substanz die Grenze von Gas zu Flüssigkeit, es kondensiert und gerät in – reale – Bewegung. […] Kunst ist, diesen [Text-]Körper zu erfüllen und ihn auf eine Reise zu schicken gegen Empathielosigkeit, gegen Dummheit, gegen Gewalt, stellvertretend für sich selbst immer und immer, verletzlich als Text, Rüstung und zugleich Gefährt.« (S. 25)

So öffnet die Rede schließlich das Knäuel durch diesen roten, entfalteten Faden, zur Not-wendigkeit des Gedichts hin, mit einer direkten Ansprache an die Zuhörenden, die Lesenden. Ohne prätentiös zu werden oder in Appelle zu verfallen, ringt Breyger uns dennoch das ureigenste, menschliche Versprechen ab, sich dazu ins Verhältnis zu setzen und betont im letzten Satz den Hauch, den Ach-Laut, die Interjektion des Atems, mit dem er nicht nur den Widerstand ins Wort setzt, sondern auch das Lebendige selbst, auch um damit nochmals den fundamentalen Unterschied zu Kybernetik und deren Entwicklung bis hin zu ChatGPT, zu Cyborgs und Transhumanismus zu betonen. Aus der technokratischen, distanzierten und funktionalisierenden Haltung entsteht ja gerade Krieg, Unmenschlichkeit, Zerstörung.

Das Versprechen, das er gibt, ist Widerstand. Dasjenige, was er einfordert, ist ein Gleiches.
           Am Ende kommt er auf den Anfang zu sprechen, den biblischen Anfang: »Am Anfang war das Wort, wer es sprach, ist nicht von Bedeutung. Mit dem Hauch des Worts wurde ein Ballon aufgeblasen, Gott genannt, Leben genannt. Der Ballon platzt, nicht weiter schlimm, ein Odem entweicht dem Knall und ich atme, atme. Ach, ich atme.« (S. 28)

Das Knäuel und der Ballon bilden die ersten und letzten (wahrhaftigen) Bilder der Rede, die auch den Titel prägen: »Am Anfang knäulte das Wort, am Ende platzt der Gottballon«.
         Sie markieren Anfang und Ende eines Knäuels, einer poetischen Rede, die berührbar gemacht hat, was auch an diesem Abend spürbar gewesen ist. Die Titelei ist Ankündigung der Anfangs- und Endpunkte der Rede, der Reflexion über Sprache und Leben, Atmen und Gedicht.
            Man möchte erwidern und antworten, vielleicht auch mit fremder Rede, mit der letzten Strophe des – in der Rede auch erwähnten – Gedichts von Robert Frost »Stopping by woods on a snowy evening«:

»The woods are lovely, dark and deep,
But I have promises to keep,
And miles to go before I sleep,
And miles to go before I sleep.«


* Franz Kafka: Eine Kreuzung
Ich habe ein eigentümliches Tier, halb Kätzchen, halb Lamm. Es ist ein Erbstück aus meines Vaters Besitz. Entwickelt hat es sich aber doch erst in meiner Zeit, früher war es viel mehr Lamm als Kätzchen. Jetzt aber hat es von beiden wohl gleich viel. Von der Katze Kopf und Krallen, vom Lamm Größe und Gestalt; von beiden die Augen, die flackernd und wild sind, das Fellhaar, das weich ist und knapp anliegt, die Bewegungen, die sowohl Hüpfen als Schleichen sind. Im Sonnenschein auf dem Fensterbrett macht es sich rund und schnurrt, auf der Wiese läuft es wie toll und ist kaum einzufangen. Vor Katzen flieht es, Lämmer will es anfallen. In der Mondnacht ist die Dachtraufe sein liebster Weg: Miauen kann es nicht und vor Ratten hat es Abscheu. Neben dem Hühnerstall kann es stundenlang auf der Lauer liegen, doch hat es noch niemals eine Mordgelegenheit ausgenutzt.
Ich nähre es mit süßer Milch, sie bekommt ihm bestens. In langen Zügen saugte es sie über seine Raubtierzähne hinweg in sich ein. Natürlich ist es ein großes Schauspiel für Kinder. Sonntag Vormittag ist Besuchstunde. Ich habe das Tierchen auf dem Schoß und die Kinder der ganzen Nachbarschaft stehen um mich herum.
Da werden die wunderbarsten Fragen gestellt, die kein Mensch beantworten kann: Warum es nur ein solches Tier gibt, warum gerade ich es habe, ob es vor ihm schon ein solches Tier gegeben hat und wie es nach seinem Tode sein wird, ob es sich einsam fühlt, warum es keine Jungen hat, wie es heißt und so weiter.
Ich gebe mir keine Mühe zu antworten, sondern begnüge mich ohne weitere Erklärungen damit, das zu zeigen, was ich habe. Manchmal bringen die Kinder Katzen mit, einmal haben sie sogar zwei Lämmer gebracht. Es kam aber entgegen ihren Erwartungen zu keinen Erkennungsszenen. Die Tiere sahen einander ruhig aus Tieraugen an und nahmen offenbar ihr Dasein als göttliche Tatsache gegenseitig hin.
In meinem Schoß kennt das Tier weder Angst noch Verfolgungslust. An mich angeschmiegt, fühlt es sich am wohlsten. Es hält zur Familie, die es aufgezogen hat. Es ist das wohl nicht irgendeine außergewöhnliche Treue, sondern der richtige Instinkt eines Tieres, das auf der Erde zwar unzählige Verschwägerte, aber vielleicht keinen einzigen Blutsverwandten hat und dem deshalb der Schutz, den es bei uns gefunden hat, heilig ist.
Manchmal muß ich lachen, wenn es mich umschnuppert, zwischen den Beinen sich durchwindet und gar nicht von mir zu trennen ist. Nicht genug damit, daß es Lamm und Katze ist, will es fast auch noch ein Hund sein. — Einmal als ich, wie es ja jedem geschehen kann, in meinen Geschäften und allem, was damit zusammenhängt, keinen Ausweg mehr finden konnte, alles verfallen lassen wollte und in solcher Verfassung zu Hause im Schaukelstuhl lag, das Tier auf dem Schoß, da tropften, als ich zufällig einmal hinuntersah, von seinen riesenhaften Barthaaren Tränen. — Waren es meine, waren es seine? — Hatte diese Katze mit Lammesseele auch Menschenehrgeiz? — Ich habe nicht viel von meinem Vater geerbt, dieses Erbstück aber kann sich sehen lassen.
Es hat beiderlei Unruhe in sich, die von der Katze und die vom Lamm, so verschiedenartig sie sind. Darum ist ihm seine Haut zu eng. — Manchmal springt es auf den Sessel neben mir, stemmt sich mit den Vorderbeinen an meine Schulter und hält seine Schnauze an mein Ohr. Es ist, als sagte es mir etwas, und tatsächlich beugt es sich dann vor und blickt mir ins Gesicht, um den Eindruck zu beobachten, den die Mitteilung auf mich gemacht hat. Und um gefällig zu sein, tue ich, als hätte ich etwas verstanden, und nicke. — Dann springt es hinunter auf den Boden und tänzelt umher.
Vielleicht wäre für dieses Tier das Messer des Fleischers eine Erlösung, die muß ich ihm aber als einem Erbstück versagen. Es muß deshalb warten, bis ihm der Atem von selbst ausgeht, wenn es mich manchmal auch wie aus verständigen Menschenaugen ansieht, die zu verständigem Tun auffordern.


Yevgeniy Breyger: Am Anfang knäulte das Wort, am Ende platzt der Gottballon.
24. Münchner Rede zur Poesie. Stiftung Lyrik Kabinett München 2023. 28 Seiten. 14,00 Euro.
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