Karin Fellner: Brennnesselspur
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Karin Fellner
Brennnesselspur
Es gibt da einen Ort. Ort wie Port, Support. Einen offenen
Ort.
Ort zum Käsebrotschmieren?
Ein Ort mit zwei, vier, vielen Ohren. Offenen Ohren.
Ort mit Orchester vielleicht?
Eher Choral, Chor von Stimmen, dort gespeichert. Zeitgleich abgespielt
– das gäbe ein dichtes Summen, quasi-orkanisch,
eine Unsumme von Gedichten, die uns umschwirrten.
Stechen die?
Hoi, das kommt vor. Aber ihr Stich
macht euphorisch.
Und wie könnte man Euphorie auf- oder erzählen? Es gab so
viele euphorisierende Momente im Lyrik Kabinett:
die Auftritte mit Lust-auf-Lyrik-Schüler*innen,
die auf Arabisch, Deutsch, Krio, Vietnamesisch, Türkisch und zahlreichen anderen
Sprachen ihre eindrucksvollen Verse vortrugen. Anmoderationen und eigene Lesungen.
Doch nichts übertrifft für mich die infizierende Begegnung mit live gehörten
Gedichten. Dass die Stimme einer Person, ihr Ton, ihre Diktion wie ein
Brennnesselstich ins Hirn fährt, ein lichtes Brennen, das sich noch Jahre später
aktivieren lässt: Wie geht das?
Als so eine Brennnesselspur ist mir
Friederike Mayröckers Lesung „Ideen sind Himmelfahrten“ vom 15. Mai 2006 im Gedächtnis.
Das Lyrik Kabinett war ausverkauft und ich viel zu spät für einen Sitzplatz und
froh, mit Seitenblick auf die Bühne stehen zu dürfen. Frieder von Ammon
moderierte an. Dann betrat die Dichterin den Raum, durch die Tür rechts hinter
der Bühne. Und dann wird das Kabinett in meiner Erinnerung zu so etwas wie
einer Kapelle. Mayröcker setzt sich an den Tisch. Keine Begrüßung, kein Dank,
keine Präliminarien. Sie geht sofort ins Lesen, zurückhaltend und eindringlich,
mit sanfter Vehemenz. Mit dem Auf und Ab ihrer Stimme erstehen die Gedichte als
eine Architektur, Gewölbebogen, gestützt vom Lauschen des Publikums. Friederike
Mayröcker im Profil, ihr Gesicht nahezu versteckt hinter den schwarzen Haaren,
die Haare wie ein Vorhang, „das Wort ist ein Fächer“, fällt mir ein, aber
Goethes Vers will nicht recht passen. Was ist es dann? Dass das Publikum so
aktiv zuhört? Dass mit und in den flüchtigen Wortkörpern, die Mayröcker so
konzentriert in den Raum entlässt, ständig und fließend etwas sich öffnet? Nie
habe ich eine solche Kongruenz von Lesender und Gedicht erlebt. Auf dem Heimweg
werden Bordsteine, Randbegrünung und Verkehr zu einem Teil von Mayröckers
Kosmos aus „zirpenden Zungen“, die Lesung hat mir die Welt transmutiert.
Dass es einen Ort gibt, der solche
Transmutationen ermöglicht – der wunderbaren Frau Haeusgen und dem gesamten
Lyrik Kabinett sei Dank!
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