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Karin Fellner: Brennnesselspur

Werkstatt/Reihen > Reihen > Dreißig Jahre Lyrik Kabinett
Karin Fellner
Brennnesselspur


Es gibt da einen Ort. Ort wie Port, Support. Einen offenen Ort.
Ort zum Käsebrotschmieren?
Ein Ort mit zwei, vier, vielen Ohren. Offenen Ohren.
Ort mit Orchester vielleicht?
Eher Choral, Chor von Stimmen, dort gespeichert. Zeitgleich abgespielt – das gäbe ein dichtes Summen, quasi-orkanisch, eine Unsumme von Gedichten, die uns umschwirrten.
Stechen die?
Hoi, das kommt vor. Aber ihr Stich macht euphorisch.

Und wie könnte man Euphorie auf- oder erzählen? Es gab so viele euphorisierende Momente im Lyrik Kabinett: die Auftritte mit Lust-auf-Lyrik-Schüler*innen, die auf Arabisch, Deutsch, Krio, Vietnamesisch, Türkisch und zahlreichen anderen Sprachen ihre eindrucksvollen Verse vortrugen. Anmoderationen und eigene Lesungen. Doch nichts übertrifft für mich die infizierende Begegnung mit live gehörten Gedichten. Dass die Stimme einer Person, ihr Ton, ihre Diktion wie ein Brennnesselstich ins Hirn fährt, ein lichtes Brennen, das sich noch Jahre später aktivieren lässt: Wie geht das?
Als so eine Brennnesselspur ist mir Friederike Mayröckers Lesung „Ideen sind Himmelfahrten“ vom 15. Mai 2006 im Gedächtnis. Das Lyrik Kabinett war ausverkauft und ich viel zu spät für einen Sitzplatz und froh, mit Seitenblick auf die Bühne stehen zu dürfen. Frieder von Ammon moderierte an. Dann betrat die Dichterin den Raum, durch die Tür rechts hinter der Bühne. Und dann wird das Kabinett in meiner Erinnerung zu so etwas wie einer Kapelle. Mayröcker setzt sich an den Tisch. Keine Begrüßung, kein Dank, keine Präliminarien. Sie geht sofort ins Lesen, zurückhaltend und eindringlich, mit sanfter Vehemenz. Mit dem Auf und Ab ihrer Stimme erstehen die Gedichte als eine Architektur, Gewölbebogen, gestützt vom Lauschen des Publikums. Friederike Mayröcker im Profil, ihr Gesicht nahezu versteckt hinter den schwarzen Haaren, die Haare wie ein Vorhang, „das Wort ist ein Fächer“, fällt mir ein, aber Goethes Vers will nicht recht passen. Was ist es dann? Dass das Publikum so aktiv zuhört? Dass mit und in den flüchtigen Wortkörpern, die Mayröcker so konzentriert in den Raum entlässt, ständig und fließend etwas sich öffnet? Nie habe ich eine solche Kongruenz von Lesender und Gedicht erlebt. Auf dem Heimweg werden Bordsteine, Randbegrünung und Verkehr zu einem Teil von Mayröckers Kosmos aus „zirpenden Zungen“, die Lesung hat mir die Welt transmutiert.
Dass es einen Ort gibt, der solche Transmutationen ermöglicht – der wunderbaren Frau Haeusgen und dem gesamten Lyrik Kabinett sei Dank!


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