Jón úr Vör: Kleine Schale
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Jón úr Vör
Kleine Schale
(Aus: Þorpið /
Das Dorf, 1946, Neuauflage Verlag Mál og menning, Reykjavík 1999 /
Queich Verlag 2011 / als Hörbuch in Das Alphabet des
Feuers – Wolfgang Schiffer liest Gedichte aus Island, ELIF Verlag 2021)
Aus dem Isländischen
von Jón Thor Gíslason und Wolfgang Schiffer
Kleine Schale
Kleine Schale
auf kleinem Meer.
Du denkst
vielleicht, dass deine Pfütze das Meer sei,
du denkst
vielleicht, alle Wellen brächen sich
am Strande kleiner Seen,
und wenn eine kleine
Schale in eine kleine Tiefe sinkt
mit voller
Mannschaft – sechs Kieselsteine –
dass es kein
anderes Meer gäbe
das große Meer
das Meer des Todes.
Und dein Vater
küsst dich, wenn er zum Schiff geht,
und nimmt den
schwarzen Seesack nicht vom Rücken.
Das ewige Meer
ist vielleicht
eine kleine
Pfütze.
Eines Tages sagt
der Tod zum Leben:
Oh, gib mir deine
Schale, Bruder.
Jón úr Vör (bürgerliche
Name: Jón Jónsson), geb. 1917 in Patreksfjörður im Nordwesten Islands, gest. 2000 in Kópavogur,
einer Stadt in der Nähe der Hauptstadt Reykjavík, war Dichter,
Herausgeber und Bibliothekar. Unter seinen zahlreichen Poesieveröffentlichungen
ist die Gedichtsammlung Þorpið /
Das Dorf, eine Art
Sozialreportage in Versen, zweifellos sein bekanntestes Werk.
Erstveröffentlicht 1946, brach er in ihm
mit den bis dahin gültigen Traditionslinien isländischer Dichtkunst, sagte sich
los von Reim und Versmaß, und markierte derart eindrucksvoll den Beginn der
Moderne in der isländischen Lyrik.
Von seiner Wirkkraft zeugt noch heute ein jährlicher Poesiewettbewerb in
der Stadt Kópavogur, dessen Preis seinen Namen trägt: Jón-úr-Vör-Poesiestab.