Jörn Birkholz: Nur ein Traum
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Jörn Birkholz
Nur ein Traum
Nina wollte raus. Sie
konnte nicht mehr zuhause sitzen und ständig heulen wie ihre Mutter. Sie machte
sich fertig und packte ihre Sachen zusammen, ohne dass Mama es mitbekam. Die
war eh nur noch mit sich selbst beschäftigt, normale Gespräche waren schon
länger kaum noch möglich. Nina lugte ins inzwischen spärlich möblierte
Wohnzimmer. Ihre Mutter schlief, oder vielmehr dämmerte auf der Couch vor sich
hin. Der günstigste Zeitpunkt zu verschwinden. Sie steckte ihre Mappe, ihre
Bücher, ein bisschen Zwieback und die schottische Stricknadel in ihre
Umhängetasche. Ihre Freundin Tamara hatte ihr gesagt, die eignete sich besser
als Kugelschreiber. Nina zog ihre Wollmütze an, warf den Mantel über und
verließ die Wohnung. Leise schloss sie die Haustür. Im Treppenhaus kam ihr die
alte Maisuradse entgegen. Diese grüßte lustlos, fragte aber dennoch, wo sie
denn hinwolle. »Ich habs eilig«, entgegnete Nina bloß und trat aus dem Haus.
Sie hatte keine Lust auf ein Gespräch mit der neugierigen Alten, sie wollte nur
weg.
Die Luft war kalt und
schneidend für Frühherbst. Von irgendwo schrie jemand. Es klang glücklicherweise
weit entfernt. Sie schlug den Kragen hoch und marschierte los. Auf den Straßen
war weniger los als sonst, oder schien es ihr bloß so? Egal, sie hatte ohnehin
kein Bedürfnis auf Menschen zu treffen, die in diesen Zeiten eh zumeist barsch
und rücksichtslos waren. Ein leichter Nieselregen setzte ein, sie ging zügiger
und erreichte den Eingang der U-Bahn schon nach einigen Minuten. Nina wurde wie
immer nervös, wenn sie die Rolltreppe hinunterfuhr. Sie hasste es dort unten,
das Licht (wenn es funktionierte), die Kälte, die Luft, alles roch nach
Bedrohung. Dazu wusste man nie, wann die Bahn kam, oder ob wieder was passiert
war. Unten war es bereits voller Leute. Nina zog die Mütze tiefer ins Gesicht,
achtete darauf, dass möglichst wenige oder besser keine ihrer schönen blonden
Haare hervorlugten. Sie ärgerte sich sofort, dass sie ihren Schal vergessen
hatte, mit dem sie ihr Gesicht hätte verhüllen können. Egal, es war jetzt nicht
mehr zu ändern. Vielleicht würde sie eh gleich wieder verschwinden, wenn keine
Bahn kommen würde. Doch welch ein Wunder, kaum näherte sie sich der wartenden
Masse, vernahm sie das quietschende bedrohlich wirkende Dröhnen der Schienen,
die das baldige Einfahren des Zuges ankündigten. Die Bahn rauschte heran, die
Menschen wurden unruhig. Nina vermied es, in die Gesichter zu schauen. Sie
wollte die unfreundlichen, dreisten und anzüglichen Blicke einfach nicht sehen.
Sie sah sie schon zu oft. Von irgendwo aus der Menge drang dreckiges Lachen. Am
liebsten wäre sie unsichtbar oder gleich wieder gegangen, aber das nahezu
sofortige Einfahren des Zuges, wertete sie als Zeichen (was natürlich
Schwachsinn war), welches ihr befahl einzusteigen (was ebenfalls Schwachsinn
war). Viel Zeit groß nachzudenken, ließ man ihr ohnehin nicht mehr. Nachdem der
Zug laut quietschend hielt, begann die Masse zu drängeln und Nina stellte
erschrocken fest, dass sie bereits mitten in der Menge war, da sich inzwischen
auch hinter ihr weitere Personen, zumeist männlich, eingefunden hatten.
Zurückzugehen wäre jetzt unmöglich gewesen, alles strebte in den schon fast
vollen Zug. Sie achtete panisch darauf, soweit es ihr möglich war, nicht noch
einmal mit dem Bein in die schmale Lücke zwischen Bahnsteig und Zug zu geraten,
wie es ihr einmal als junges Mädchen passiert war. Die Leute trampelten damals
einfach über sie rüber und sie konnte überhaupt nichts machen, das Bein steckte
fest. Sie wusste, würde sie ihr Bein gleich verlieren, würde sie sterben
wollen, als Krüppel hätte sie als damals knapp Sechzehnjährige nicht
weiterleben wollen, doch da spürte sie, wie ihr jemand unter die Arme griff,
sie grob hochzog und sofort darauf in der unbekannten Masse untertauchte. Die
Türen schlossen sich und der Zug fuhr los. Paralysiert und Angstschweiß gebadet
stand sie da, stieg danach jahrelang in keinen Zug mehr ein und brauchte ewig,
um dieses Trauma einigermaßen zu verarbeiten. Ihren Retter hatte sie wie gesagt
nie zu Gesicht bekommen. Sie konnte sich nicht einmal bedanken.
Mit einem möglichst
großen Schritt stieg sie ein. Sofort wurde von allen Seiten geschoben und
gedrängelt. Man schimpfte und hustete, und dreckig geflucht wurde auch. Wieso
tat sie sich das einmal die Woche an? Doch, die Antwort kannte sie. Zuhause war
es nicht auszuhalten, mir ihrer apathischen Mutter und ihrem aggressiven Bruder
mit seinen psychotischen Launen. Dazu war ihr Vater selten zuhause und wusste
kaum was vorging. Sie brauchte wenigstens einmal in der Woche diese bestimmte
Ruhe, diese Oase des Wissens, diese kleine Zuflucht der Zivilisation, dort
konnte sie Kraft tanken, dort konnte sie durchatmen, dort war sie frei, sogar
frei von Angst. Nur dafür nahm sie all das hier in Kauf, auch wenn es ihr fast
alles abverlangte.
Die Bahn setzte sich
zügig in Bewegung. Die Menschen, zumeist waren es Männer, wankten hin und her.
Die wenigen weiblichen Passagiere hielten sich in kleinen Gruppen zusammen,
soweit es bei dieser Enge möglich war. Nina versuchte sich auch in der Nähe ihrer
Geschlechtsgenossinnen, egal welchen Alters, zu positionieren. Aber meist war
das aufgrund der Enge unmöglich. Sie umklammerte ihre Tasche, als würde ihr
Leben davon abhängen und versuchte ihre unmittelbare Umgebung einzuordnen. Lag
Bedrohung in der Luft oder blieb alles neutral? Bisher war alles in Ordnung
soweit - eine vermeintlich normale Fahrt in einer überfüllten U-Bahn in einer
Großstadt. Solange sie hier eingezwängt war, versuchte sie an Nichts zu denken.
An Nichts zu denken, hatte ihr schon oft geholfen, um nicht durchzudrehen,
nicht hysterisch zu werden, sprich die Fassung zu bewahren. Nina war hundemüde,
doch auch gleichzeitig hellwach. Die Luft war stickig, aber damit konnte sie
leben. Plötzlich spürte sie Bewegung hinter sich. Menschen hinter ihr schoben
aneinander, wechselten die Positionen. Der harmlos aussehende ältere Herr, der
gerade noch hinter ihr gestanden hatte – sie hatte beim Einsteigen drauf
geachtet sich möglichst in seiner Nähe aufzuhalten - stand jetzt leicht
seitlich neben ihr, er wurde einfach ein Stück weit von ihr fortgeschoben. Wer
jetzt direkt hinter ihr stand, wusste sie nicht, konnte sie nicht sehen, aber
sie spürte augenblicklich die unguten Vibes. Sie schlummerten wie ein
bedrohlicher Schleier direkt hinter ihr. Nina kontrollierte ihren Atem, ihr
kompletter Körper war augenblicklich angespannt. Sie verspürte sofort den
unangenehmen Drang auf die Toilette gehen zu müssen, was natürlich unmöglich
war. Ihre Hand griff in die Tasche. Schon bemerkte sie einen Druck von hinten,
ihr Hintern, präziser, die rechte Seite ihres Hinterns wurde berührt. Sie
begann leicht zu zittern, versuchte die Kontrolle zu bewahren, sie suchte in
ihrer Tasche und wurde fündig. Die fremde Hand war dreist und grob, und versuchte
sich jetzt von hinten ihrem Schritt zu nähern. Ihre Kommilitonin Tamara hatte
es ihr eingebläut, bloß nicht zu zögern. Nina hatte die Stricknadel bereits in
der Hand, holte, soweit das in der Enge möglich war, aus, und stach mit voller
Wucht nach hinten. Augenblicklich vernahm sie einen kurzen Schrei hinter sich,
darauf unkontrollierte hektische Bewegung. Die Hand, die bereits ihren Schritt
erreicht hatte, zuckte augenblicklich zurück. Nina wagte es nicht sich
umzudrehen, sie spürte, die Enge hinter ihr, hatte sich ein Stück weit gelöst.
Noch eine Station und sie war am Ziel. Sie umklammerte Tasche und Nadel, bereit
wieder zuzustoßen, wenn es sein musste. Es war nicht mehr nötig. Der Zug hielt
kurz darauf, spuckte sie aus, und flink huschte sie raus nach draußen an die
Oberfläche. Sie zitterte noch eine Weile, versuchte ihre Atmung zu
kontrollieren und ging dann geschwinden Schrittes die Petre Melikishvili Straße
entlang Richtung Tifliser Universität. Entfernt fielen zwei drei Schüsse, wie
so oft. Nina kann schon länger nicht mehr weinen wie ihre Mutter oder viele
ihrer Freundinnen. Sie will wieder leben, sie will wieder Normalität, und wenn
man diese „Normalität“ mit der Brechstange erzwingen muss. Wann würde dieser
Ausnahmezustand endlich enden? Sie hatte es fast geschafft, gleich war sie am
Ziel. Nur noch ein paar Meter. Gestern ging in der Ostsee bei Finnland eine
riesige Fähre unter, und hier ein ganzes Land, dachte sie. Der offizielle
Frieden ist eine Farce. Das Land steht weiter am Abgrund. Und auch Kurt Cobain
ist vor Kurzem gestorben. Nina betritt das Universitätsgelände, erleichtert,
ruhig atmend und sowas wie glücklich.