Jörn Birkholz: Das Fest
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Jörn Birkholz
Das Fest
Vater ist tot. Er wollte nicht mehr, sagte meine Mutter. Er konnte nicht mehr,
sagte meine Mutter. Herzinfarkt auf Bestellung. Nach nur einem Tag im Heim.
Unruhig die Nacht verbracht, sagten die Pfleger. Morgens, sobald die Türen
offen waren, rannte er in den Garten, um dort seinen tödlichen Infarkt zu
bekommen. "Er hat jetzt seinen Frieden", sagte meine Mutter. "Er
hat einen Scheiß, DU hast deinen Frieden!", hätte ich ihr ins Gesicht
brüllen sollen, hätte sie aber eh nicht begriffen, oder begreifen wollen.
Es war ja auch nicht mehr so leicht mit ihm, er hörte nichts mehr, er sprach
nicht mehr. Aphasie? Demenz? Die Ärzte wussten es nicht. Jetzt braucht man es
nicht mehr zu wissen. Bei seinem letzten Spaziergang in einer fremden Umgebung,
hatte sich sein Herz ausgeschaltet. Die Arterien waren verstopft, sagte der
Kardiologe. Er hatte ein Sportlerherz, sagte der Kardiologe. Anscheinend geht
beides, Sportlerherz und verstopfte Arterien. Wozu dann ein Sportlerherz, wozu
Sport? Meine Mutter pflanzt jetzt eine weiße Kamelie im Garten und sagt, das
ist ihr Mann, und dass sie ihn jetzt immer bei sich hat. Sie verliert langsam
den Verstand, den sie vielleicht nie hatte.
Heute ist Beerdigung. Wobei, es ist keine richtige Beerdigung, es ist nur die
Trauerfeier. Verbrannt und beerdigt wird er später. Wann ist mir nicht bekannt.
Es geht auch nicht um ihn, es ist die Feier meiner Mutter. Sie will ihre Trauer
öffentlich zeigen und zelebrieren. Als einziger Sohn habe ich zu erscheinen,
sonst gäbe es Gerede, und Gerede ist Gift für die stumpfe Seele meiner Mutter,
und das schöne Fest wäre verdorben. Ich bringe meine Frau mit. Meine Frau kennt
sich mit Beerdigungen, sprich Trauerfeiern, viel besser aus als ich. Sie hat
schon viele durchleben müssen. Wenn man im Bürgerkrieg aufgewachsen ist,
geschieht dies zwangsläufig. Bei mir ist es erst die dritte. Die Beerdigung
meiner Oma vor 34 Jahren, kaum noch Erinnerung, und die meines Onkels vor 25
Jahren. Ich war gegangen, nachdem ich mich ins Kondolenzbuch eingetragen hatte.
Die Veranstaltung beginnt vielversprechend; meine Frau wird nicht ins
Beerdigungsinstitut hineingelassen. Sie hat zwar ihr Impf-Zertifikat dabei,
aber leider ihr Portemonnaie mit dem Ausweis im Hotel vergessen. Ich sage der
falsch lächelnden Dame – der Türsteherin – dass ich ohne meine Frau der Feier
nicht beiwohnen werde. Es interessiert sie nicht, bis sie erfährt, dass ich der
Sohn des Verstorbenen bin. Rein will sie meine Frau dennoch nicht lassen, mich
schon, ich habe Ausweis und Zertifikat. Sie ist korrekt. Wir stehen den
hereinströmenden Trauergästen im Weg. Meine Frau und ich schicken uns an, zu
gehen. Meine Mutter erscheint auf der Bildfläche. Mit perfekt eingespielter
leidender Miene bettelt und jault sie doch bitte eine Ausnahme zu machen. Es
funktioniert. Man gewährt uns Einlass in den Club und nimmt uns sogar die
Mäntel ab. Sofort wird andächtig zum ausgeliehenen Sarg marschiert. Dort
drinnen liegt mein Vater und hat keinen Einfluss mehr auf seine letzte Party.
Die meisten Trauergäste haben schon Platz genommen in der kleinen Kapelle. Das
furchtbare Foto meines Vaters, das meine Mutter ausgewählt hat, fällt mir als
erstes auf. Auf dem Bild steht er verzweifelt grinsend in einer viel zu großen
billigen orangen Plastikjacke auf irgendeinem Strandweg, vermutlich auf Usedom,
Rügen oder Sylt. Ich würde meine Mutter am liebsten drauf ansprechen, aber das
hier ist nicht der passende Ort. Warum er in letzter Zeit immer so hässliche
grelle Sachen trug, hatte ich sie zwei Monate vor seinem Tod gefragt. Sie
entgegnete; damit die Autos ihn besser sehen, wenn er ohne zu schauen über die
Straßen läuft. Das leuchtete mir ein; was mir aber nicht einleuchtete, warum
sie so ein debiles Foto für die Feier ausgewählt hatte. Kaufhausmusik lenkt mich
ab, die aus kleinen an der Decke befestigten Boxen dröhnt. Wäre zum Beispiel
Bachs Matthäus-Passion nicht etwas passender? Ein junger Kirchenmann mit
blonden Locken betritt die Bühne. Salbungsvoll blickt er auf die
Trauergemeinde. Er beginnt mit einer Bibelstelle aus dem Neuen Testament. Ich
höre nicht zu. Die Stühle sind unbequem. Meine Mutter sitzt grade und
ehrfürchtig, also perfekt einstudiert, da. Meine Frau sitzt zwischen uns. Das
ist gut. Ich schaue den Kirchenmann an. Ich trage eine Maske. Auch das ist gut,
so kann er mein Minenspiel, das ich kaum kontrollieren kann, nicht erkennen.
Wir alle sollten die Masken ewig tragen, wenigstens hierzulande. Hartmut Rudolf
war ein Bewegungsmensch, höre ich ihn plötzlich sagen. Ein abrupter Übergang
von der Bibel zu meinem Vater. Hartmut Rudolf war gesellig, liebte Tennis und
Verreisen. Das wars, das war die Zusammenfassung eines achtundsiebzigjährigen
Lebens, so wie meine primitive Mutter es sah. Wäre meine Mutter die Frau von
meinetwegen Beethoven gewesen (vorausgesetzt natürlich Beethoven hätte eine
Vorliebe für einfältige Frauen gehabt), hätte der lockige Kirchenmann nach dem
Vorgespräch sicher verkündet: Ludwig mochte spazieren gehen und hörte gerne
Musik, bis seine Ohren ihn leider im Stich ließen. Punkt.
Meine Mutter und mein Vater waren knapp fünfzig Jahre verheiratet gewesen und
kannten sich außer einiger trivialer Vorlieben kein Stück. Zugegeben, auch ich
kannte meinen Vater kaum, es hatte sich nie richtig ergeben. Meine Mutter kenne
ich besser, jedenfalls so weit, um zu wissen, dass sie eine ängstliche,
einfältige und schwache Frau ist.
Gedenken wir Hartmut Rudolf mit einem Lied, kommt es jetzt aus der Blondlocke
heraus. Enya schmettert aus den Lautsprechern. Anstatt meines Vaters zu
gedenken, habe ich die Überreste der Twin Towers, stolz dreinblickende New
Yorker Feuerwehrleute, die von George W. Bush umarmt werden, und gigantische
weißgräuliche Staubwolken vor Augen. Meine Frau und ich drücken unsere Knie
gegeneinander. Auch ihr scheint die Absurdität der Situation nicht entgangen zu
sein. Wann ist dieser grotesque Zirkus zu Ende? Meine Mutter quetscht eine
Träne aus ihren zugekniffenen kalten Augen. Die "Emotionen"
überwältigen sie. Enya kommt zum Ende. Der Kirchenmann stimmt das Vater Unser
an. Alle erheben sich. Überrascht stelle ich fest, dass ich es auswendig kann.
Meine Mutter deutet uns mit einer unbestimmten Geste, ihr zu folgen. Wir
gehorchen, schweben aus der Kapelle und erwarten die Trauergemeinde am Ausgang.
Innerhalb von etwa fünfzehn Minuten reichen mir etwa fünfzig hinter Masken
verborgene Menschen die Hand und bekunden ihr tief empfundenes Beileid. Ich
nicke und bedanke mich artig. Dieser im Grunde sehr gesittete Vorgang wird nur
durch meine schluchzende Tante gestört, die meiner Mutter zitternd und heulend
in die Arme fällt. Nach den Schilderungen meiner Mutter, war es gerade diese
Tante, die Monate oder auch Jahre vor dem Tod ihres Bruders, ihm nicht mal
einen Besuch abgestattet hatte, obwohl sie nur drei Straßen entfernt wohnte.
Dann umarmte sie mich (meine Frau verschonte sie zum Glück) heulend und nach
Knoblauch riechend. Wer zum Teufel frisst morgens schon Knoblauch? Ich stimmte
ihr zu, dass alles ganz schrecklich sei, und sie entfernte sich endlich. Ein
plötzlicher Hagelschauer erschütterte das Glasdach des Instituts und hinderte
die Trauergemeinde daran, den Heimweg anzutreten. Die Straße war weiß und
übersät von Hagelkörnern. Der letzte Akt meines Vater. Der Gedanke gefiel mir.