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Jörg Neugebauer: Es fehlen heilige Namen - zu Hölderlins Elegie "Heimkunft"

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Jörg Neugebauer
Es fehlen heilige Namen - zu Hölderlins Elegie "Heimkunft"



Heimkunft.

An die Verwandten.

Drinn in den Alpen ists noch helle Nacht und die Wolke,
Freudiges dichtend, sie deckt drinnen das gähnende Thal.
Dahin, dorthin toset und stürzt die scherzende Bergluft,
Schroff durch Tannen herab glänzet und schwindet ein Stral.
Langsam eilt es und kämpft das freudigschauernde Chaos,
Jung an Gestalt, doch stark, feiert es liebenden Streit
Unter den Felsen, es gähnt und wankt in den ewigen Schranken,
Denn bacchantischer zieht drinnen der Morgen herauf.
Denn es wächst unendlicher dort das Jahr und die heilgen
Stunden, die Tage, sie sind kühner geordnet, gemischt.
Dennoch merket die Zeit der Gewittervogel, und zwischen
Bergen, hoch in der Luft weilt er, und rufet den Tag.
Jezt auch wachet und schaut in der Tiefe drinnen das Dörflein,
Furchtlos, Hohem vertraut, unter den Gipfeln hinauf.
Wachstum ahnend, denn schon, wie Blize, fallen die alten
Wasserquellen, der Grund unter den stürzenden dampft,
Echo tönet unher und die unermeßliche Werkstatt
Reget bei Tag und Nacht, Gaben versendend, den Arm.

Ruhig glänzen indeß die silbernen Höhen darüber,
Voll mit Rosen ist schon droben der leuchtende Schnee.
Und noch höher hinauf wohnt über dem Lichte der reine
Seelige Gott vom Spiel heiliger Stralen erfreut.
Stille wohnt er allein, und hell escheinet sein Antliz,
Der ätherische scheint Leben zu geben geneigt,
Freude zu schaffen, mit uns, wie oft, wenn, kundig des Maases,
Kundig der Athmenden auch zögernd und schonend der Gott
Wohlgediegenes Glück den Städten und Häusern, und milde
Regen, zu öffnen das Land, brütende Wolken und euch,
Trauteste Lüfte dann, euch, sanfte Frühlinge, sendet,
Und mit langsamer Hand Traurige wieder erfreut,
Wenn er die Zeiten erneut der Schöpferische, die stillen
Herzen der alternden Menschen erfrischt und ergreift,
Und hinab in der Tiefe wirkt, und öffnet und aufhellt,
Wie ers liebet und jezt wieder ein Leben beginnt,
Anmuth blühet, wie einst, und gegenwärtiger Geist kommt,
Und ein freudiger Muth wieder die Fittige schwellt.

Vieles sprach ich zu ihm, denn, was auch Dichtende sinnen
Oder singen, es gilt meistens den Engeln und ihm;
Vieles bat ich, zulieb dem Vaterlande, damit nicht
Ungebeten uns plötzlich befiele der Geist;
Vieles für euch auch, die im Vaterlande besorgt sind,
Denen der heilige Dank lächelnd die Flüchtlinge bringt,
Theure Verwandte, für euch, indessen wiegte der See mich,
Und der Ruderer saß ruhig und lobte die Fahrt.
Weit in der Ebene wars Ein leuchtend freudiges Wallen
Unter der Seegeln und jezt blühet und hellet die Stadt
Dort in der Frühe sich auf, wohl her von schattigen Alpen
Kommt geleitet und ruht nun in dem Hafen das Schiff.
Warm ist das Ufer hier, und freundlich offene Thale,
Schön von Pfaden erhellt grünen und schimmern mich an.
Gärten stehen gesellt, und die glänzende Knospe beginnt schon,
Und des Vogels Gesang ladet den Wanderer ein.
Alles scheinet vertraut, der vorübereilende Gruß auch
Scheint von Freunden, es scheint jegliche Miene verwandt.

Freilich wohl! das Geburtsland ists, der Boden der Heimath,
Was du suchest, es ist nahe, begegnet dir schon.
Und umsonst nicht steht, wie ein Sohn am Wellen umrauschten
Thor und siehet und sucht liebende Namen für dich,
Mit Gesang ein wandernder Mann, glückseeliges Lindau!
Eine der gastlichen Pforten des Landes ist dies,
Reizend hinauszugehn in die vielversprechende Ferne,
Dort, wo die Wunder sind, dort, wo das göttliche Wild
Hoch in die Ebene herab der Rhein die verwegene Bahn bricht,
Und aus den Felsen hervor ziehet das jauchzende Thal,
Dort hinein, durchs helle Gebirg, nach Komo zu wandern,
Oder hinab, wie der Tag wandelt, den offenen See;
Aber reizender mir bist du, geweihete Pforte,
Heimzugehn, wo bekannt blühende Wege mir sind,
Dort zu besuchen das Land und die schöne Thale des Nekars,
Und die Wälder, das Grün heiliger Bäume, wo gern
Sich die Eiche gesellt mit stillen Birken und Buchen,
Und in Hügeln ein Ort freundlich gefangen mich nimmt.

Dort empfangen sie mich – o süsse Stimme der Meinen!
O du triffest, du regst langevergangenes auf!
Und doch sind sie es noch! noch blühet die Sonn' und die Freud' euch,
O ihr Liebsten! und fast heller im Auge, wie sonst.
Ja! das Alte noch ists! es gedeiht und reifet, doch keines,
Wer da lebet und liebt, lässet die Treue zurück.
Aber das Beste, der Fund, der unter des heiligen Friedens
Bogen lieget, er ist Jungen und Alten gespant.
Thörig red' ich. Es ist die Freude. Doch morgen und künftig
Wenn wir gehen und schaun draussen das lebende Feld
Unter den Blüthen des Baums, in den Feiertagen des Frühlings
Red und hoff ich mit euch vieles, ihr Lieben, davon.
Vieles hab ich gehört vom großen Vater und habe
Lange geschwiegen von ihm, welcher die wandernde Zeit
Droben in Höhen erfrischt und waltet über Gebirgen,
Der gewähret uns bald himmlische Gaben und ruft
Hellern Gesang und schikt viele gute Geister – o säumt nicht,
Kommt, Erhaltenden ihr! Engel des Jahres! und ihr,

Engel des Hauses, kommt! in die Adern alle des Lebens,
Alle freuend zugleich, theile das Himmlische sich!
Adle, verjünge! damit nichts Menschlichgutes, damit nicht
Eine Stunde des Tags ohne die Frohen und auch
Solche Freude, wie jezt, wenn Liebende wieder sich finden,
Wie es gehört für sie, schicklich geheiliget sei.
Wenn wir segnen das Mahl, wen darf ich nennen, und wenn wir
Ruhn vom Leben des Tags, saget, wie bring' ich den Dank?
Nenn' ich den Hohen dabei? Unschikliches liebet ein Gott nicht,
Ihn zu fassen, ist fast unsere Freude zu klein.
Schweigen müssen wir oft; es fehlen heilige Namen,
Herzen schlagen, doch bleibt die Rede zurük?
Aber ein Saitenspiel leiht jeder Stunde die Töne,
Und erfreuet vielleicht Himmlische, welche sich nahn.
Das bereitet und so ist auch beinahe die Sorge
Schon befriediget, die unter das Freudige kam.
Sorgen, wie diese, muß, gern oder nicht, in der Seele
Tragen ein Sänger und oft, aber die anderen nicht.


Während Rilke inzwischen sogar in den Tagesthemen der ARD vorkommt, gilt Hölderlin weiterhin als schwieriger Dichter. Kein Wunder, er pflegt einen hohen Ton, der aufs erste eine gewisse Distanz erzeugt. Wenn man sich darauf einlässt und ihm einfach zuhört, kommt einem das Gesagte aber auf einmal sehr nah. Es ist Dichtung, die aus dem innersten Herzen spricht und, um sagbar zu sein, die strenge Form, so wie hier das antike Versmaß der Elegie, und den hohen Ton braucht, um zur Sprache kommen zu können. Die Alternative wäre nicht, das, was gesagt werden soll, irgendwie simpler zu sagen, sondern es bliebe dann eben ganz ungesagt, es wäre schlicht und einfach nicht da. Wobei der Autor, Hölderlin, seinen eigenen Text nicht anders begreift als einen "Gesang"; das innerste Herz bliebe verschlossen, gäbe es nicht die Aussageweise der Poesie: Poetisch lässt sich sagen, was sonst unsagbar bliebe.

Was also will der Autor in diesem sechsstrophigen Gedicht aus dem Jahr 1801 besingen? Der Titel verrät es, gibt zumindest einen Hinweis: Es geht um eine "Heimkunft", ein - in diesem Fall langsames - Heimkommen aus der Fremde. Biografisch handelt es sich um die Heimreise - zu Fuß wohlgemerkt! - aus dem kleinen Hauptwil, im Appenzellerland auf der Schweizer Seite des Bodensees gelegen, 20 km von Konstanz entfernt. Und das Ziel des Wanderers ist das heimatliche Nürtingen - jenseits der Schwäbischen Alb zwischen Stuttgart und Tübingen.

Hölderlin war in Hauptwil von Januar bis April als Hauslehrer tätig gewesen, sein Engagement dort hatte ein rasches Ende gefunden. Die Gründe dafür kennen wir nicht, es ist lediglich ein sehr positives Zeugnis seines Dienstherrn erhalten, wahrscheinlich waren es Gründe, die mit Hölderlin gar nichts zu tun hatten. Zu diesem Zeitpunkt ist er 31 Jahre alt und eigentlich immer noch ohne Beruf. Er schlägt sich als Hauslehrer durch, will aber eigentlich nichts anderes sein als ein Dichter. Gut, dass es in Nürtingen wenigstens noch die Mutter und auch die Schwester gibt und ein eigenes Zimmer dort auf ihn wartet!
      Von alledem aber ist in dem Gedicht erstmal gar nicht die Rede, das er nach seiner Rückkehr im Juni 1801 verfasst und das in mehreren Handschriften überliefert ist.

In Strophe 1 ist es früher Morgen, der Tag in den Alpen dämmert, der Dichter beschreibt das als wilden Kampf der Elemente untereinander, die Schilderung mutet an, als werde die Welt neu erschaffen an jedem einzelnen Morgen. Eine Welt zunächst scheinbar noch ohne den Menschen, die schaffenden Naturgewalten bleiben vorerst unter sich und bekämpfen einander in einem chaotischen Schöpfungsprozess. Dann öffnet der Blick sich auf eine kleine menschliche Siedlung.
          In Strophe 2 wird deutlich: bei alledem ist keine blindwütig schaffende Naturgewalt am Werk, vielmehr ist das Ganze durchdrungen von einer energetischen Kraft, die über den Elementen ebenso steht wie über dem Menschen. Und diese greift auch unmittelbar ein - nicht nur als Quelle des Lebens in allen materiellen Erscheinungen, sie schenkt auch die Freude und andere Erregungen unseres Gemüts. Obwohl Hölderlin dafür die Formulierung "Gott" verwendet, handelt es sich dabei nicht einfach um den christlichen Gott der Bibel, dem Hölderlin skeptisch gegenüberstand - "Gott" ist hier eher die Personifikation einer spirituellen Sphäre, ohne die die ganze materielle Welt und ihre Erscheinungen sinn- und seelenlos wären.

In Strophe 3 spricht erstmals in diesem Gedicht ein lyrisches Ich. Das Ich des Wanderers, den es heimwärts zieht. Dieser lässt sich über den Bodensee übersetzen und er ist in freudiger Stimmung - wie überhaupt das Wort Freude ein Grundwort des ganzen Gedichts ist. Nirgendwo sonst finde ich die Empfindung der Freude so subtil zugleich und intensiv gestaltet wie in diesem Gedicht - zum Beispiel im Unterschied zu Schillers "Ode an die Freude", die doch recht dick aufgetragen wirkt mit Formulierungen wie "Diesen Kuss der ganzen Welt" usw.
       Davon ist Hölderlin, der in seinen frühen Jahren viel von Schiller gelernt und ihn zeitweise geradezu nachgeahmt hat, in diesem Gedicht "Heimkunft", das ja leider bereits in seine Spätzeit gehört, zum Glück sehr weit entfernt. Des weiteren ist es der Dank, der diese Strophen durchweht, ein Gefühl der Dankbarkeit, dies alles erleben zu dürfen, das sich verbindet mit Vorstellungen weiterer Wanderungen, die in dem den See Überquerenden aufsteigen, während er sich in seinem Boot allmählich dem Ufer nähert. Alles geschieht in Langsamkeit, jeder Moment und jede Vorstellung ist wertvoll und mündet in die Vorfreude auf die Landschaft der Heimat. Diese Überfahrt in Strophe 4 lässt ein Bild entstehen wie auf einer Breitwandleinwand, ein Film, der große Ruhe ausstrahlt.

In den beiden Schlussstrophen dann schließlich die Ankunft bei den Verwandten - denen ja auch das ganze Gedicht gewidmet ist: Untertitel: "An die Verwandten". Jetzt wird die Freude zum Überschwang. Doch es ist nicht nur "einfache" Wiedersehensfreude, der heimkehrende Dichter sucht zugleich nach Worten, die sein Empfinden ausdrücken können. Auf seiner Wanderung hat er die Spiritualität erfahren, die sowohl der Natur innewohnt als auch den engen Beziehungen zwischen den Menschen - den "Spirit", wie wir Heutigen sagen. Davon möchte er seinen Lieben auch etwas mitteilen, aber er weiß nicht recht, wie. Weil es schwierig ist, davon zu sprechen, es fehlen einfach die Worte dafür. Darüber sich Gedanken zu machen und, so könnte man hinzufügen, eine Sprache zu schaffen, die nicht stumm und hilflos bleibt, wenn es gilt, spirituelle Erfahrungen mitzuteilen, ist Los und Aufgabe des Dichters:

Sorgen, wie diese, muß, gern oder nicht, in der Seele
  Tragen ein Sänger und oft, aber die anderen nicht.

Was macht nun den - für mich - unwiderstehlichen Reiz dieser Verse aus? Hölderlin verwendet, quasi nebenbei, außerordentlich kühne sprachliche Bilder, die so vollkommen in den rhythmischen Duktus der Verse eingebettet sind, dass man aufs erste fast drüber hinwegliest. Zum andern seine Spiritualität, die stets angebunden ist an konkretes Erleben. Wenn er von "Gott" spricht, kann es sich zum einen um eine örtliche Gottheit handeln, was - von Asien her stammend - antikem Denken entspräche, dem Hölderlin zeitlebens nahestand. Das heißt, dass einzelne Orte eine spezifische, an den jeweiligen Ort gebundene Energie aufweisen. Zugleich ist zu bedenken, dass Hölderlin, wie auch aus anderen Gedichten aus dieser Entstehungszeit hervorgeht, generell von einer dem Materiellen übergeordneten geistig-spirituellen Sphäre ausgeht, die schwer bis gar nicht eindeutig zu benennen ist. Wie es im Text heißt: "es fehlen heilige Namen". Es ist offenkundig, dass er das nicht bloß irgendwie theoretisch annimmt, sondern konkret gespürt und so empfunden hat - am eigenen Leib sozusagen. Seine schon in früher Jugend zutage getretene sehr empfindsame Konstitution mag ihn dazu befähigt haben, zu spüren und zu empfinden, was andere, die meisten, ja beinahe alle anderen nicht spüren oder empfinden. Doch das, man muss es nicht betonen, ist Segen und Fluch zugleich. Soviel kann man jedoch sicher sagen: Wenn er von "Gott", "dem Göttlichen, "den Himmlischen" und auch vom "Vater" spricht, hat er dabei kein abstrakt-theologisches Konstrukt im Sinn, sondern etwas, das mit seiner konkreten Erfahrung zu tun hat und das in diesen Formulierungen mehr umschrieben als benannt wird. Eben deshalb, weil sie fehlen, die "heiligen Namen".

Hölderlin betrachtet es aber als Aufgabe des Dichters, diesem Mangel abzuhelfen, also eine Sprache zu schaffen und zu verwenden, in der die spirituelle Dimension unserer Welt in all ihren Erscheinungen greifbar und erkennbar wird. Als Jüngling hat er das in Nachahmung Schillers mit der Verwendung abstrakter Begriffe versucht. Das konnte nicht gutgehen, weil abstrakte Begriffe mit dem lebendigen Leben weniger zu tun haben als wir oft annehmen. Später fand er dann seine eigene unverwechselbare poetische Sprache, die sich bewusst von der Alltagssprache abhebt, in dieser aber verwurzelt bleibt. Es ist dies eine Synthese aus sprachlicher Nüchternheit und Begeisterung: Im poetischen Sprechen beides zugleich zu sein - ganz bei sich und ganz außer sich, das ist das Ziel. Eine Art Trunkenheit, mit höchster Klarheit verbunden - so kann Poesie gelingen. In Hölderlins heute berühmtesten, zu seiner Zeit auf völliges Unverständnis gestoßenes Gedicht "Hälfte des Lebens" finden wir es ausgedrückt in den Versen

Und trunken von Küssen
Tunkt ihr das Haupt
Ins heilignüchterne Wasser

Eine Zeitlang, fünf Jahre vielleicht oder auch sechs, hielt Hölderlin diese Balance, in "Heimkunft" kann man sie spüren. Heute vielleicht sogar besser als damals, als zwar ab und zu eines oder mehrere seiner Gedichte in Anthologien gedruckt wurden, insgesamt aber blieb das Echo doch sehr verhalten.  
        Vielleicht auch deshalb, weil die damals literarisch tonangebenden Autoren, Goethe und Schiller, mit Hölderlins Texten nicht viel anfangen konnten oder auch wollten: Goethe erteilte ihm von oben herab ein paar Ratschläge nach dem Motto "Fasse dich kurz", Schiller beantwortete seine Briefe irgendwann gar nicht mehr. Das alles bedrückte Hölderlin als jemanden, der zeitlebens seine Bestimmung als Dichter sah, der etwas bewegen will, und brachte seine auch seelische Balance zunehmend ins Ungleichgewicht.

Johann Christian Friedrich Hölderlin war ohne Vater aufgewachsen. Er ließ sich im Tübinger Stift zum Theologen ausbilden, weigerte sich aber, Pfarrer zu werden, und zog es vor, immer wieder als Hauslehrer tätig zu sein. In dieser Eigenschaft machte er die Bekanntschaft der fast gleichaltrigen Frankfurter Bankiersgattin Susette Gontard. In ihr fand er eine Seelenverwandte und zugleich die Inkarnation der Diotima aus seinem Roman Hyperion, den er kurz zuvor veröffentlicht hatte. Nach einer Auseinandersetzung mit Susettes Ehemann verließ er das Haus Gontard und bezog ein Zimmer im nahegelegenen Homburg zur Höhe. Heimlich trafen sich die beiden Liebenden alle paar Wochen, auch wurden Briefe ausgetauscht. Schließlich verließ Hölderlin Homburg, um woanders eine neue Hauslehrerstelle anzutreten. Die letzte führte ihn bis nach Bordeaux, wo sein Engagement jedoch wie das in Hauptwil nur von kurzer Dauer war. Die gesamte Strecke nach Bordeaux und wieder zurück legte er zu Fuß zurück - den Hinweg mitten im Winter. Ein Freund überbrachte ihm nach seiner Rückkehr die Nachricht, dass Susette Gontard in Frankfurt mit 33 Jahren gestorben war - sie hatte sich bei einem ihrer Kinder mit einer Kinderkrankheit angesteckt.

Ein Bekannter aus der Zeit in Homburg verschaffte ihm dort eine Stelle als Hofbibliothekar, und so zog er wieder dorthin. Er hatte keine eigentlichen dienstlichen Pflichten und widmete sich ausschließlich dem Schreiben. Dabei verfasste er viel Neues, das oft unvollendet blieb, überarbeitete aber auch bereits fertige und nach heutigen Maßstäben künstlerisch vollkommene und teilweise bereits publizierte Gedichte. Diese zum Teil sehr langen Texte zu überarbeiten, weil er mit ihnen inhaltlich und stellenweise auch sprachlich nicht mehr einverstanden war, zehrte an Hölderlins Kräften. Seine psychische Verfassung wurde derart bedenklich, dass er - gegen seinen Willen - nach Tübingen in die psychiatrische Klinik am Neckar gebracht wurde. In dem Gebäude ist heute die philosophische Fakultät untergebracht. Dort wurde er viele Monate festgehalten und mit inzwischen als menschenunwürdig geltenden Methoden behandelt.

Schließlich entließ man ihn als unheilbar, und Hölderlin wurde Pflegling der Handwerkerfamilie Zimmer, die im heutigen Hölderlinturm wohnte und dort ihre Werkstatt hatte. Hier lebte er noch über 30 Jahre. Durch seine Publikationen hatte er einen gewissen Ruf als Dichter, und da er als verrückt galt, stellte er eine Art Attraktion dar. So erhielt er des öfteren Besuch. Auf Wunsch verfertigte er gleich im Stehen zweistrophige Reimgedichte, die meist Jahreszeiten zum Thema hatten. Sie hatten nichts mit seinem früheren Stil mehr gemein. Meist unterzeichnete er sie mit dem Fantasienamen Scardanelli und schrieb ein Fantasiedatum daneben. Als Herr Hölderlin angesprochen zu werden, verbat er sich. Der Hyperion sowie einige seiner früheren Gedichte wurden immer wieder nachgedruckt, bis zum Ende des 19. Jahrhunderts. Erst im 20. Jahrhundert begann man sich um die Originalmanuskripte zu bemühen, sie zu entziffern und neu herauszugeben. Gleichzeitig damit wuchs auch das Ansehen Hölderlins als Dichter. Heute gilt er als einer der größten Lyriker weltweit.

Es gibt Menschen anderer Nationen, die die deutsche Sprache erlernen, nur um Hölderlin im Original lesen zu können.


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