Direkt zum Seiteninhalt

Joachim Frank: Die Ernte der Seltenheit, Teil 2 (5, 8, 10)

Montags=Text
Joachim Frank

Die Ernte der Seltenheit
Teil 2


5. Inventur

Der Sog, der Wirbel, der Strudel, die Zeit.
Der Apfel, der Baum, die Krone, der Kaiser, der Schnitt, das Gold, die Zeit.
Der Wurm, die Linde, der Drache, das Fenster, der Herbst, die Zeit.

Die Körnigkeit des Rezeptes, die Größe des Arztes, der Schwung der Locke.
Die Härte des Weizens, die Güte der Ernte, die Betonung der Seltenheit.
Die Schönheit  des Frostes, die Verläßlichkeit der Stadt, das Los des Weins.
Die Verwegenheit des Bösen, die Rundheit des Gedankens, die Gelblichkeit von heute.

Die Seltenheit der Größe, der Schwung der Härte, die Güte der Betonung.
Die Schönheit der Verläßlichkeit, das Los der Verwegenheit, die Rundheit der Gelblichkeit.

Das Fenster des Arztes, die Locke des Weizens, die Ernte der Seltenheit.
Der Frost der Städte, der Wein des Bösen, der Gedanke von gestern.



8. Tus-Kus

Die Leute auf Hin, einem Planeten, der seit beträchtlicher Zeit um Tus-Kus kreist, sind von großer Fröhlichkeit, wenn auch kleinem Wuchs. Sie leben fröhlich in dem pulsierenden Licht des Doppelgestirns, das den Himmel erfüllt und nie vergeht. Seltene Naturerscheinungen wie die bifokalen Neutrinoschauer oder Annihilationen am Meridian werden von ihnen mit einem Fest gefeiert, das diesen Namen trägt: “Tag der anderen Wesen auf Hin.” Während dieses Festes begatten sich die Leute auf Hin ausgiebig, nur von gelegentlicher Nahrungsaufnahme unterbrochen, nach dreitägiger Massage ihrer komplizierten Organe.
    Ein solches Fest wurde auch gefeiert, nachdem eine gelb-schimmernde Platte mit einem rätselhaften Muster vom Himmel gefallen war.  Das Muster zeigte ein Doppelgestirn, war aber weiter nicht zu entziffern. Es wurde angenommen, daß die beiden Götter Tus und Kus eine Botschaft gesandt hatten, und dass diese Botschaft verheißungsvoll war. Einige sagten sogar, dass dies ein Stück Haut von Tus oder Kus sei und deshalb einen so un-hinnischen Glanz austrahlte.  Und das Muster sei nur ein kleiner Teil der großen allumfassenden Zeichnung, die den Leib sowohl von Tus als auch von Kus umhüllt und bekanntlicherweise alles enthält: die Vergangenheit, die Gegenwart, und die Zukunft. Andere sagten, das herausgefallene Stück habe ein Loch gelassen, durch das Tod und Unheil stürmen würden. Doch die Mehrzahl nahm es als Freudenbotschaft.
    Eine große Prozession bewegte sich langsam an der Platte vorbei, die auf einem Podium ausgestellt war.  Jeder berührte sie ehrfürchtig, mit Lippen, Händen, und After.
     Alle, die am Fest teilgenommen hatten, starben noch am folgenden Tag.  In den feinen Linien der Gravur nisteten Bakterien vom Typ Escherichia coli. Sie stammten von Speichel von Linda Salzmann Sagan, aus Ithaca, New York, Vereinigte Staaten von America, Erde, “Sonnen-system”, Galaxis, eines der kleinen Nebel der Uokisgruppe, die von Hin aus bei gutem Wetter und bei der Konstellation Kus-Tus des Doppelgestirns Tus-Kus mit blossem Nefti am Nachthimmel sichtbar ist.



10. Die Gallenblasenoperation

Ich habe meine entzündete Gallenblase in einer Do-it-yourself-Operation herausgelöst.  Sie hängt jetzt im Freien vor meinem Bauch. Sie hat die Form und Größe etwa eines Schraubenziehergriffs. Ich steche sie am Ende auf, um die Heilung einzuleiten und den Schmerz zu lindern. Ich wickle saubere Tücher um meinen Leib, die die Gallenblase warm und sicher auf meiner Haut fixieren.

Nur um sicher zu gehen, zeige ich das Ergebnis einem Arzt in der Klinik. Der macht ein besorgtes Gesicht: an und für sich habe ich alles richtig gemacht, aber es besteht die Gefahr einer Infektion mit Strombose, die die italienischen Gastarbeiter eingeschleppt haben, und die in sechzig bis achtzig Prozent tödlich ausgeht. Ich solle deshalb mehrere Tage in der Klinik verbringen, um dieses Risiko auszuschließen.

Ich danke ihm für die Auskunft und verlasse das Gebäude.  Man hätte Lust, schwimmen zu gehen. Die Bäume stehen in Blüte.  Ich setze mich auf eine Bank, um die Pracht zu genießen. Dann fällt mir ein, dass der Arzt gemeint haben könnte, dass ich sofort in der Klinik hätte bleiben müssen. Ich gehe zur Klinik zurück und finde sie verschlossen.  Der Pförtner und ein paar Schwestern sind in der Eingangshalle zu sehen.  Ich gestikuliere und zeige wiederholt auf meinen Verband, dahin, wo unter einer sanften Ausbuchtung meine rekonvaleszente Gallenblase liegt. Die Schwestern zeigen Erbarmen und öffnen die Tür.

Während ich beginne, meine Geschichte zu erzählen,m versammelt sich mehr und mehr Klinikpersonal, Ärzte, Schwestern und Pfleger in der Eingangshalle. Schließlich erscheint der Klinikleiter und möchte alles wieder von vorne hören.  Er regt an, die Sache doch lieber in der Gaststätte nebenan zu verhandeln, und alle stimmen freudig zu. Wir trinken Wein, und der Klinikleiter wird redselig. Dann fordert er mich auf, die Geschichte mal ausführlich zu erzählen.  Ich stehe auf und beginne erneut, immer wieder von Klinikwitzen, sarkastischen Bemerkungen und Lachsalven unterbrochen. Die Operation muss ich in allen Einzelheiten schildern. Der Klinikleiter unterbricht mich immer wieder mit einer Handbewegung und flicht eine Seitengeschichte über seine Zeit als Sanitätsarzt im Zweiten Weltkrieg ein, oder über schwierige Operationen mit lethalem Ausgang. Die Ärzte sind inzwischen ebenfalls in Form geraten und wagen hin und wieder eine Richtigstellung; schließlich tragen sie zur Unterhaltung bei mit kleinen Geschichten, die sich freilich bescheiden ausnehmen gegenüber der Epik des Chefs.

Mühselig kämpfe ich mich auf den Besuch in ihrer Klinik zu, kann aber die Sätze nicht mehr beenden und sehe auch nicht mehr die Notwendigkeit, ganze Sätze zu produzieren.  Hin und wieder kommt ein verständnisloser Blick, so als sei ich es, der eine zusammenhängende Story zu Fall bringt.  Zuletzt sind wir ein vielstimmiger Chor, der ein Lied von der conditio humana singt; jeder trägt sein Scherflein bei.  Brausend erhebt sich der Gesang von Freud und Leid einer Menschheit, die es fast zu etwas gebracht hätte, und schwebt über unseren Häuptern; das Exempel der Gallenblase tritt hier und da als Leitmotiv hervor.


Joachim Frank, geboren 1940, ist ein in den USA lebender, deutsch-amerikanischer Naturwissenschaftler (Nobelpreis für Chemie 2017), Schriftsteller, Lyriker und Fotograf. Seine Kurzgeschichten und Gedichte erschienen bisher auf verschiedenen Internetplatt-formen, z.B. The New Poet, Offcourse, Raving Dove u.v.a.
Zurück zum Seiteninhalt