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Jerome Rothenberg: 12/75 - Ein Brief an Paul Celan zum Gedenken

Montags=Text
Jerome Rothenberg
übersetzt von Norbert Lange


12/75
a letter to Paul Celan in memory

of how your poems
arise in me
alive
my eye fixed on
your line
“light was     salvation”
I remember
(in simpler version)
Paris
nineteen sixty seven
in cold light of
our meeting
shivered to dumbness
you said “jew”
& I said “jew”
though neither spoke
the jew words
jew tongue
neither the mother language
loshen
the vestiges of holy speech
but you said
“pain”
under your eyebrows
I said “image”
we said “sound”
& turned around to
silence        lost
between two languages
we drank wine's words
like blood
but didn't drink toward
vision        still
we could not speak
without a scream
a guttural
the tree
out of the shadow of
the white café was not
“the tree”
roots of our speech
above us
in the sun
under the sewers
language of the moles
“who dig & dig
“do not grow wise
“who make no song
“no language
into the water silence
of your death
the pink pale sky of Paris
in the afternoon
that held no constellations
no knowledge of the sun
as candelabrum
tree        menorah
“light knotted into air
“with table set
“chairs empty
“in sabbath splendor
the old man stood beside
in figure of a woman
raised his arms to reach
axis of the world
would bring
the air down
solidly
& speak no sound
the way you forced
my meaning
to your poem
the words of which still press
into my tongue
“drunk
“blesst
gebentsht

12/75
Ein Brief an Paul Celan zum Gedenken

wie deine Gedichte
sich erheben
aufleben in mir
mein Blick gerichtet
auf deine Zeile
„Licht war       Rettung“
ich erinnere
(eine schlichtere Version)
Paris
neunzehnhundertsiebenundsechzig
im kalten Licht
unseres Treffens
sprachlos erschüttert
sagtest du „Jude“
& ich sagte „Jude“
doch keiner von uns sprach
die Judenworte
Judenzunge
auch die Muttersprache nicht
loshen
die Reste heiliger Worte
doch sagtest du „Schmerz“
unter deinen Brauen
ich sagte „Bild“
wir sagten „Klang“
& wandten uns hin zur
Stille        verloren
zwischen zwei Sprachen
tranken wir
Worte des Weins
wie Blut
aber haben nicht getrunken auf
die Vision        dennoch
sprechen konnten wir nicht
ohne einen Schrei
ein Kehllaut
der Baum
der hervortrat aus dem Schatten
des weißen Cafés war nicht
„der Baum“
unsere Sprachwurzeln
über uns
im Sonnenschein
unter der Kanalisation
die Sprache von Maulwürfen
„die graben & graben“
„sie werden nicht weise“
„erfinden kein Lied“
„keinerlei Sprache“
in die wäßrige Stille
deines Todes
der rosa schillernde Himmel über Paris
am Nachmittag
gab uns kein Sternbild
kein Wissen von der Sonne
als Kandelaber
Baum        Menora
„Licht geknüpft in Luft“
„den Tisch gedeckt“
„den leeren Stühlen“
„im Sabbatglanz“
der Alte stand neben uns
in Frauengestalt
streckte seine Arme danach aus
die Weltachse
würde den Äther
einstürzen lassen
fest gefügt
& sprechen keinen Ton
wie du gewaltsam
meinen Sinn
deinem Gedicht gabst
die Worte noch immer eingeprägt
meiner Zunge
„trunken“
„gesegnet“
„gebentsht“
In Schreibheft No. 93 (2019), Rigodon Verlag, Nieberdingstr. 18, 45147 Essen. 192 Seiten, 15 Euro.

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