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Jean Genet: Über die Maskierung des Publikums

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Jean Genet

Aus "Notizen von einem Tag zum anderen"

(in: Briefe an Roger Blin, 1966)  


Vielleicht werdet ihr einmal ähnlich wie die Griechen Theater mit zehntausend Zuschauern haben, die bescheiden auf ihren Plätzen sitzen, zu denen sie durch Glück, Geschicklichkeit, oder spontane List, nicht aber durch Reichtum und Rang gekommen sind. Das Schauspiel auf der Bühne wird sich also an das Nackteste und Reinste im Zuschauer richten. Ob die Kleider der Zuschauer bunt sind oder nicht, mit Schmuck beladen oder mit sonst etwas, das tut der Redlichkeit des Schauspiels auf der Bühne keinen Abbruch. Im Gegenteil, es wäre sogar gut, wenn eine Art Verrücktheit und Dreistigkeit die Zuschauer dazu triebe, sich seltsam für das Theater anzuziehen - unter der Bedingung, daß nichts getragen wird, was die Sicht wegnimmt: zu lange Spieße, Degen, Stöcke, Eispickel, Lampen unterm Hut, gezähmte Elstern ... und nichs Betäubendes: Lärmgegenstände, Transistoren, Raketen etc. Aber jeder soll sich schmücken, wie er will, damit er das Schauspiel auf der Bühne besser aufnehmen kann: Der Saal hat das Recht, verrückt zu sein. Je ernster das Schauspiel auf der Bühne ist, um so deutlicher verspüren die Zuschauer vielleicht die Notwendigkeit, ihm geschmückt gegenüberzutreten, und sogar maskiert.

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