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Jayne-Ann Igel: Unversiegelte Botschaften

Memo/Essay > Aus dem Notizbuch > Essay

Reiner Kunze (2012). Foto: Jürgen Bauer.

© S. Fischer Verlag


Jayne-Ann Igel

Unversiegelte Botschaften.
Anmerkungen zu Reiner Kunzes Dichtung



Über Jahrzehnte habe ich wohl keine Gedichte von Reiner Kunze gelesen, oder sie doch nur gelegentlich in diversen Jahrbüchern, Anthologien wahrgenommen. Dabei sie mir in der zweiten Hälfte der siebziger Jahre so dringlich und gegenwärtig gewesen, diese zumeist kurzen, streng gearbeiteten Texte, die 1973 in einer aus den in Westdeutschland publizierten Bänden „Sensible Wege“ (1969) und „Zimmerlautstärke“ (1972) kompilierten Auswahl in der DDR erschienen waren, unter dem Titel „Brief mit blauem Siegel“ im Leipziger Reclam Verlag. Zu dieser Zeit erst sollte mir auch der Name ihres Autors bekannt werden, über ein zerlesenes Reclam-Bändchen, das im Freundeskreis von Hand zu Hand ging. Mit Gedichten, von denen sich viele aus meiner Generation angesprochen fühlten, ob ihrer sprach-, zeit- und gesellschaftskritischen Haltung; in ihnen fand sich kaum verschlüsselt auf den Punkt gebracht, was die Verhältnisse in der DDR ausmachte, oft formelhaft, eingängig, zuweilen auch didaktisch (wie wenig später in „Die wunderbaren Jahre“), die Verse dabei von einer Klarheit und Klarsichtigkeit, mit einem Impetus von Aufklärung, in einer Zeit, in der es noch nicht obsolet war, in Zusammenhang mit Lyrik von Botschaften zu sprechen. Reiner Kunzes ab Mitte der fünfziger bis in die siebziger Jahre hinein entstandenen Gedichte sind ohne den Kontext des obrigkeitlich verordneten Schweigens über die tatsächliche Verfaßtheit des Landes, in dem sie verortet, kaum denkbar, sie bildeten nicht zuletzt eine poetische Antwort darauf. Bestechend ist die epigrammatische Kürze vieler Texte, ihre Pointiertheit, die sie mit wenigen Metaphern auskommen läßt – und was die Peripetie, der Umschlag in eine neue Weise des Sehens, der Wahrnehmung, die zumeist in den letzten drei vier Zeilen dieser Gedichte statthat, an veränderten Sichtweisen, Perspektiven generiert, eignet mitunter Sentenzcharakter. Beispielhaft dafür wie auch für die Arbeitsweise des Autors, der sinnliche Eindrücke zu einprägsamen Metaphern zu verdichten weiß, mag hier ein Auszug aus den 21 Variationen über das Thema „Die Post“ stehen:

1
Wenn die post
Hinters fenster fährt blühn
Die eisblumen gelb

2
Brief du
Zweimillimeteröffnung
der tür zur welt du
geöffnete öffnung du
lichtschein,
durchleuchtet, du

bist angekommen

3
Tochter, briefträgerin vom
briefkasten bis zum
tisch, deine stimme ist
das posthorn
[...]


Dabei schwingt in diesen Gedichten etwas mit, das unauflösbar und nicht einfach als Subtext oder Anspielung zu verstehen ist, sondern in dieser strengen Diktion auf kleinstem Raum, der Reduktion bis fast auf den Kerneinfall Atmosphäre und Weite entstehen läßt, Allgemeingültigkeit besitzt. Liest man diese Gedichte heute, entkleidet der Vordringlichkeit des Kontextes, in dem sie entstanden sind und auch rezipiert wurden, vermittelt das Unauflösbare ein Gefühl von Lebendigkeit, Aktualität und entfaltet poetische Wirkkraft. Diese an chinesische oder ostasiatische Dichtung gemahnende Strenge seiner Arbeiten der 60er/70er Jahre findet eine Fortsetzung in neueren Gedichten, die von einem Aufenthalt 2005 in Südkorea und der Auseinandersetzung mit altkoreanischer Dichtung inspiriert sind („lindennacht“ 2007).
Nach seinem Weggang aus der DDR 1977, aufgrund der über ein Jahrzehnt lang erduldeten Repressionen, hat Reiner Kunze sich sofort auf die Verhältnisse im anderen Teil Deutschlands eingelassen und sie in seine dichterischen Erkundungen einbezogen, wovon auch der erste nach seiner Übersiedelung publizierte Gedichtband „auf eigene hoffnung“ (1981) Kunde gibt.

Kunzes frühe Gedichte (zum Teil in den Bänden „Die Zukunft sitzt am Tische“ 1955 und „Vögel über dem Tau“ 1959 im Mitteldeutschen Verlag Halle/S. publiziert) geben sich erzählerischer, bildreicher, etwa wenn von den Bergbaulandschaften der Kindheit die Rede ist, der Arbeit seines Vaters, der als Hauer tätig war. Ein thematischer Faden, der dann in den späten Arbeiten der „lindennacht“ wieder aufgenommen wird, hinübergeleitend zu Texten, in denen Altersthemen Niederschlag finden. Aber bereits in den frühen Texten kann man zum Teil vorgebildet entdecken, was auch späterhin sein Schreiben bestimmen sollte. „Gespräch mit der Amsel“:

Ich klopfe an bei der amsel
Sie
zuckt zusammen
Du? fragt sie

Ich sage: es ist still

Die bäume
loben die lieder der raupen, sagt sie

Ich sage: ... der raupen?
Raupen können nicht singen

Das macht nichts, sagt sie,
aber sie sind grün


Reiner Kunze ist in einem Elternhaus ohne Bücher, doch mit viel Liebe aufgewachsen. Krankheitsbedingt lebte er zeitweise isoliert von anderen Kindern, und in dieser notgedrungenen Einsamkeit ist er zum Schreiben gelangt, vermittels dieses metaphorischen, schöpferischen Sehens, das allen Kindern eigen ist und poetische Einfälle zu generieren vermag, wie er in einem Fernsehgespräch mit Peter Voß im Jahre 2013 auf 3sat bekannte. Wenn Ihnen solche Einfälle kommen, so führte der Autor in diesem Gespräch weiter aus, und Sie schreiben die Gedichte nicht, versündigen Sie sich an der Poesie, der Freiheit und den Menschen.

Die Zeitgenossenschaft etwa mit der Dichtung Huchels und des späten Brecht, aber auch die Einflüsse der tschechischen Dichtung der fünfziger und sechziger Jahre, für die stellvertretend Jan Skacel, Miroslav Holub oder Ivan Blatny genannt seien, von denen er auch Arbeiten nachdichtete, sollten dabei stilbildend wirken. Über seine spätere, aus einem deutsch-tschechischen Elternhaus in Böhmen stammende, Ehefrau Elisabeth, die dort als Ärztin arbeitete, kam Reiner Kunze mit einer tschechischen Literatur- und Kulturszene in Berührung, die sich nach der Entstalinisierung ab der zweiten Hälfte der fünfziger Jahre weit liberaler und vitaler als die in der DDR gab. Sie lieferte auch die Übersetzungen tschechischer Texte, auf deren Grundlage seine Nachdichtungen basieren. Und die Beschäftigung mit dieser Lyrik, die selbstbewußt mit den Ausdrucksformen der europäischen Moderne hantierte, zeitigte auch Auswirkungen auf sein eigenes Schreiben, brachte beispielsweise ein spielerisches Moment hinein.


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