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Jayne-Ann Igel: alles lichter winter

Rezensionen/Lesetipp > Rezensionen, Besprechungen


Dirk Uwe Hansen

Jayne-Ann Igel: alles lichter winter. Gedichte. Frankfurt a.M. (gutleut Verlag) 2019/20. 84 Seiten. 22,00 Euro.

was bleibt, sind abgesänge


Buchbesprechungen, die mit langen Entschuldigungen anfangen, sind genauso wenig erfreulich wie solche, in denen die Rezensent*innen zuviel von sich selbst reden. Aber da müssen wir jetzt durch. Denn eigentlich sollte ich Jayne-Ann Igels neuen Band lieber nicht besprechen. Und mache es doch. Einerseits, weil es, wenn Lyrik ins Spiel kommt, ohnehin nicht immer zu vermeiden ist, dass Autor*in und Rezensent*in aus derselben Blase kommen, andererseits, weil einer, den die Begeisterung überkommt, eben nur schwer den Mund halten kann. Und doch ist die Blase zu klein und die Begeisterung zu groß, um eine abwägende und auch nur halbwegs objektive Besprechung liefern zu können. Denn seit ich vor sieben Jahren „umtriebe“ von Igel besprochen habe, bin ich ein Fan ihrer Texte und Jayne-Ann Igels im gutleut-Verlag erschienene Bücher sind einer der Gründe, warum es mich so glücklich macht, auch selbst Autor dieses Verlages zu sein — natürlich kann ich da nicht einmal mir selbst einreden, dass ich ganz objektiv und unvoreingenommen über Igels Band sprechen kann.

Nachdem ich das nun vom Gewissen habe, kann ich den Platz, den die Signaturen mir trotz all dieser Bedenken zur Verfügung stellen, nutzen, um allen, die es hören wollen „alles lichter winter“ ans Herz zu legen.

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nachher werde ich verstehen, vielleicht, und schreiben,
welcher zeit hinterher, wem, wo es doch keinen trifft, über
die zaunkrone vom nachbargrundstück gleitet eine mütze
dahin, rot, der ich mit blicken folge, nachher oder später
sage ich, nie —

Es sind wieder solche Prosagedichte oder -miniaturen, zwischen drei Zeilen und einer halben Seite lang, die Igel in dem neuen Band in vier Kapitel gesammelt hat, vier Spaziergänge zur Standortbestimmung im Unbestimmten, vielleicht im Unendlichen.

Das erste Kapitel, Ephemere, versetzt uns sofort in einen Zustand äußerster Anspannung, zwischen Unendlichkeit und Vergänglichkeit („... sie glichen gefallenem schnee, der / vergänglich —"). Engel tauchen hier auf, die so konkret („der engel im parterre“) wie unbestimmbar sind, vielleicht hilfreich das Geschehen kommentieren, vielleicht auch unerreichbar bleiben. Surreale Bewegungen prägen diese Texte, wie Farben sich aufspalten in ein Farbenspektrum, das dann „allmählich verlischt“, oder wie entstehende Nähe, die zu Fremdheit führt („... man fremdet sich an ... sagte der engel“). Die Bewegung, in die man hier lesend versetzt wird ist atemberaubend, und doch bleibt, nach dem auf und ab, „nur der blick in den fahrstuhlschacht“ und die „seiten im buch der richter bleiben leer“.

Aber das Buch bleibt nicht stehen vor Abgrund und Leere. „tröstung der landschaft“ erwartet uns im zweiten Kapitel „Alles Licht“. Ich bin geneigt oder versucht, die Texte dieses Kapitels als poetologische zu lesen, wie die des folgenden als autobiographische. Wieder geht es hier um Bewegungen zwischen Un- oder Schwerveinbarkeiten („schnecken, morgens, im gewerbegebiet nord“), aber dabei ist alles eine Frage der Beleuchtung — ob etwas durchscheinend gemacht oder mit dem Kamerablitzlicht ins Leben geholt wird.

****
nachts mit kopfschmerz aufgewacht, lange herumgegangen,
mit dem sich auflösenden ich, ein ums andere mal das licht
des bewegungsmelders draußen an der klinikmauer aufblitzen
sehen, die wipfeln der kiefern krümmten sich im schlaf,
vibrierten, während ich keinen gedanken zu fassen
vermochte —

Immer konkreter wird der Blick im folgenden Kapitel „Von wo her“. Und tatsächlich meine ich, hier die Herkunft der in den Texten sprechenden Person zwischen hortgruppe, fahrradschuppen und stampfkartoffeln erkennen zu können, die langen Schatten der Familie ebenso wie bisweilen ein vertrautes Gegenüber. Aber natürlich ist das, was wir hier lesen, keine intime Autobiographie. Einmal, weil diese Texte eben nicht auf einen vorgegeben Punkt zulaufen (viele von ihnen enden entsprechen mit drei Punkten), zum anderen, weil Igel es in bewundernswerter Weise beherrscht, ihr Schreiben zwischen persönlichem und allgemeingültigem Sprechen, zwischen Voraussetzen und präzisem Beschreiben anzusiedeln. Hier zum Beispiel:

Platanen
                                                                          für oleg jurjew
vom stamm schälte es sich ab, das rindenlaub noch im
dunst ende november, ende der leutseligkeit von abhängig-
keitsverhältnissen, ich blicke nicht hinauf in die kronen am
clarapark, nur die stämme interessieren mich, deren
grün-gelbfleckige leopardenhaut, war ganz ergeben, es
zählte die entfernung zwischen baum und baum, der weg,
der vordergründig, und waren wir verwandt, irgendwie, der
bruder und ich, die ich immer ein paar schritte näher an der
vergangenheit (so schien mir), während der bruder schon
das klingelbrett einer der villen im platanengürtel inspizierte
— hier ist es, wo du dich herausschälen wirst aus dem
anthrazit des raums —                          

„Von jetzt zu nachher“: Das letzte Kapitel „Fortschritten“ setzt wieder in Bewegung. Aber („schlafen wir noch, oder sind wir schon tot?“) so unbestimmt die Orte im ersten, die Räume im zweiten und die Herkunft im dritten Kapitel waren, so unbestimmt ist es, ob das fortschreiten nicht auch ein zurückschreiten ist, ob die Bewegung sich nicht zurückkrümmt, jedoch dann als „beschreibung von was, das so nie gewesen“. Mir geht es merkwürdig mit den Texten dieses Kapitels. Einerseits sind sie kalt und düster (Winter ists hier und Nacht, öfter als in den anderen Kapiteln), Hoffnung vermittelt hier niemand („da wächst nichts anderes mehr, und hatten das mal zukunft genannt“), und doch steckt in diesen Hoffnungs- und Ausweglosigkeiten eine Schönheit, die, wie kann es anders sein, wieder Hoffnung macht; auf den Moment, den „die brailleschrift des regens, auf dem tisch draußen“ bleibt, auch wenn niemand sie ertasten kann, auf die „sehnsucht der bäche“, die dem Schlagbaum trotzt, auf die „frist im vergehen“.

Fünfminutenterrine

auf mich macht keinen vers, dante verloren, von draußen das
gelächter der spechte, jetzt im schwindenden februarfrost;
wir haben keine idylle vor augen, die dünkt uns kitsch, die
beschreibung von was, das so nie gewesen, man schwört es
her und nimmt das wenige, das bar zu haben, vorweg,
hoffnung auf dauer, auf eine frist, im vergehen, gleich
zerlassener butter das graubrot drückt —                  

Erschienen ist das Buch — wie passend! — in der Reihe „licht“ im gutleut -Verlag, ausgestattet von Michael Wagener.


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