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Jaromír Typlt: Lebensaufgabe

Werkstatt/Reihen > Reihen > Über die Schwelle - Neues aus Tschechien


Jaromír Typlt
Lebensaufgabe

übersetzt von Patrik Valouch


Die Knie am Pflaster, die Ellbogen am Pflaster, er kniete vornübergebeugt über die gesamte Breite des Gehsteigs. Vom Boden kroch bereits Kälte hoch, aber ihn schützte nichts weiter als ein paar schäbige Lumpen. Nicht einmal Schuhe, er war barfuß. Eine wunderliche Erscheinung an diesem dunklen Novembernachmittag auf einer Straße zwischen Nürnberg und Fürth. Mit seiner freien Hand klaubte er abgefallene Blätter aus den Fugen zwischen den Pflastersteinen. Jedoch war er kein Angestellter des kommunalen Ordnungsdienstes. Um ihn einordnen zu können, reichte ein Blick auf das mobile Heim, das nur ein Stück weiter an der Ecke abgestellt war: ein Einkaufswagen vom Supermarkt mit einem mehrstöckigen Aufbau aus Kisten und Kartons. Er war so hoch wie ein Schrank, es war wohl nicht einfach hinaufzulangen.

Aber gerade nun war der Blick eher vom Geschehen am Boden eingefangen. Denn da war nichts. Der Mann erweckte den Eindruck, als hätte er etwas Verstreutes am Boden vorgefunden, was es wert gewesen wäre, aufgesammelt zu werden. Aber da war wirklich nichts. Nur bräunlich zertretenes Laub, das in diesen Wochen überall haufenweise herumlag. Der Gehsteig war damit bis weit über die Sichtweite hinaus übersät.

Bis auf diese eine Stelle, an der es sich änderte. Der Mann klaubte bedächtig Blatt für Blatt auf und mit bloßer Hand fegte er alles weg, was die Sauberkeit der Pflastersteine störte, aber noch mehr wohl die Fugen zwischen ihnen. Er selbst war von den nassen Blättern völlig verklebt, um seine Kleidung kümmerte er sich aber nicht. Es war wohl völlig egal, wie er aussah und lebte. Er konzentrierte sich auf etwas, was er offensichtlich als seine Aufgabe betrachtete. Dass es irgendwelche Passanten gab, interessierte ihn überhaupt nicht. Ob sie ihn nun umgingen, ohne ihn zu beachten, oder ihn neugierig beobachteten… Wie lange schaue ich ihn an, der ich hier in meinem Leben zum ersten Mal gehe… Warum sollte er mich beachten? Sobald mir die Lust dazu vergeht, werde auch ich weiter meines Weges gehen.

Ich bin wirklich nicht lange geblieben, aber für eine Weile vertiefte ich mich in sehr seltsame Überlegungen, als würde ich zum ersten Mal lernen zu verstehen, wozu etwas in der Welt da ist. Wer sind die Menschen, denen in der Welt die Aufgabe zukam, die Fugen zu säubern? Steinmetze, die waren seit jeher auf Perfektion aus – ich erinnerte mich daran, wie er heute vor einigen steinernen Kathedralen stehen geblieben war und sie bewundert hatte. Maurer, Bauarbeiter. Die, die das Pflaster verlegen oder Fliesen in der Küche, in Badezimmern oder in Fluren verkleben. Putzfrauen. Gärtner, Wartungsarbeiter.

Zu ihnen gehörte entschieden auch dieser Mann. Er war einer von ihnen, aber auf irgendeine Weise verpönt, verkannt. Auf Geheiß von etwas, das ihn dazu auserkor. So vergeblich. Am vergeblichsten. Damit bis auf ihn niemand mehr wusste, wie unermesslich viel daran liegt.

Als ich ungefähr nach einer Stunde zurückkam, war er immer noch da. Er kniete nicht mehr, sondern lag auf der Seite. Etwa einen Meter weiter, bei einem Kanaldeckel, gerade beunruhigte ihn das Moos zwischen den Pflastersteinen. Langsam kratzte er die grüne Schicht mit seinem Finger ab und fegte alles schnell beiseite, was die Regelmäßigkeit der Quadrate störte. Seine nackten Füße leuchteten in das Dunkel des frühen Abends. Und ich wartete nicht länger und verschwand lieber schnell von dieser Stelle, da mich plötzlich eine Erinnerung an die Lücken zu verfolgen begann, die ich zwischen Wörtern und Sätzen lasse, wenn ich schreibe. An die winzigen, sich windenden Fugen in den Satzspiegeln zwischen Punkten und Großbuchstaben. So vergeblich. Am vergeblichsten.

Jaromír Typlt, Nürnberg, 4. November 2023


Jaromír Typlt (*1973): tschechischer Dichter, Performer und Kunsthistoriker. Auf Deutsch erschienen zwei Bücher: die Lyriksammlung oder schnurstracks (hochroth, Edition OstroVers 01, 2018) in der Übersetzung von Martin Mutschler und auch Prosa Michal über Nacht (Kant, 2019) in der Übersetzung von Max Zaloudek (in der Zusammenarbeit mit Nikola Mizerová).

Der vorliegende Text des Autors ist im Zuge des diesjährigen vom Prager Literaturhaus (Pražský literární dům) vergebenen Writers-In-Residence-Programms „Grenzenlos: ein mittelfränkisch-tschechischer Literaturaustausch“ während seines Aufenthalts in Nürnberg entstanden.
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