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Jan Kuhlbrodt: Zur Realismusdebatte - an Stelle einer Erwiderung

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Jan  Kuhlbrodt

Zur Realismusdebatte – an Stelle
einer Erwiderung



Meine liebsten Romane habe ich nicht zu Ende gelesen, genauso wie die, die ich nicht mochte. Aber sie übten keinerlei Zwang auf mich aus.


Zum Beispiel Pynchon

Vielleicht sollte ich mir keine dicken Bücher kaufen, aber ich kann mich kaum vor ihnen schützen. Zu verlockend klingen die Ankündigungen, zu verlockend die guten Rezensionen und zu sehr regt sich mein Widerspruchsgeist, wird ein Text einmal verrissen.

Man sollte ihn retten, denke ich.

Dass da nichts sei, woran man sich halten kann, habe ich irgendwo gelesen, bei Brecht wahrscheinlich, dem alten Nihilisten, der seinen Nihilismus derart gut verbarg, dass meine Tante Ruth sich guten Gewissens zum Brechtfan erklären konnte. (Brechtanhänger wäre ihre eigene Wortwahl gewesen, mit der sie sich dem imperialen Zugriff des amerikanischen Englisch zu entziehen suchte, als hätte sie ihre Bewunderung für den Dichter zum Teil einer Kette gemacht.) Zu mir sagte sie immer, ich solle nicht so negativ sein.

Aber Brecht war ein lausiger Prosaautor. Sein Versuch die Dreigroschenoper als Dreigroschenroman zweitzuverwerten, ging gründlich schief.

Wie nennt man ein Interesse, das sich einer Erfüllung verweigert, ein schwebendes Interesse, dessen Gegenstand sich ihm beständig entzieht? Ein Gegenstand, vollkommen verschieden von Gott. Wer hat schon die Gelegenheit, Welten zu schöpfen, und wer hat die Geduld dazu?

Was ist Prosa. Worin liegt ihr Realismus.

Nehmen wir Pynchons Roman „Gegen den Tag“, Schon im Titel wird dem Leser ein Universum versprochen, eine Gegenwelt, die sich andersherum dreht, als wir es gewohnt sind, etwas also, das schon am Strudel im Handwaschbecken augenfällig wird.
Ein „rasendes Feuerrad“, schreibt Raddatz, der Kritiker, in der Zeit „eine fast einmalige epische Leistung“, die vom Ende des neunzehnten und aus dem Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts heraus, ein Alternativuniversum entwickelt. Die Umwertung aller Werte also.

Aus dieser Höhe war es, als sähen die Freunde, die früher oft beobachtet hatten, wie die riesigen Rinderherden in wechselnden, wolkenartigen Mustern über die westlichen Ebenen zogen, diese ungeformte Freiheit nun zu einer Bewegung rationalisiert, die sich nur in geraden Linien, rechten Winkeln und einer fortschreitenden Reduktion von Alternativen vollzog, um schließlich in das letzte Tor einzumünden, das zur eigentlichen Schlachtstätte führte.“ (Th. Pynchon: Gegen den Tag. Dt. von Nikolaus Stingl und Dirk van Gunsteren)

Seit Nietzsche werden die Weltbilder verworfen, kaum dass sie formuliert worden sind, nachdem man alle Gewissheit aus den Schreinen gerissen hat, und sie im Naturlicht verfielen. Die Schreine stehen nun offen wie Schlafzimmermöbel in verlassenen Häusern, wenn die Flut dann doch nicht hereingebrochen ist, oder die Feuersbrunst nicht kam. Möbel wie offene Münder, eingefroren im Moment größten Schreckens. Schränke und Kommoden wie die offenen Fragen angesichts der ausgebliebenen Katastrophe. Oder war gerade das Ausbleiben der Katastrophe die Katastrophe?

Später trifft man nur noch auf Geste. Was hat die Bewohner dazu getrieben, die Wohnstatt Hals über Kopf zu verlassen, und was haben sie mitgenommen? Wie sehen die Gebäude aus, die sie jetzt bewohnen und wo wohnen sie jetzt? Vielleicht sind genau das die Fragen die sich fremde Raumfahrer einst stellen werden, wenn sie eine verlassene Erde vorfinden. Und sie werden versuchen, die Inschriften zu entziffern, die mit Lippenstift oder Rasierschaum auf die Spiegel geschrieben worden sind.

Pynchon weiß das, und er formuliert alle zehn Jahre ein neues Weltbild, meist aus irgendeinem Physikalischen Phänomen heraus, eines aber, dass im Gegensatz zur Physik seine Vergängnis schon in sich tragt. Auf eintausendsechshundert Seiten (deutsche Übersetzung, im Original – scheint es –ist man lakonischer.). Nicht viel Raum im Grunde, für eine neue Welt.

Vielleicht liegt das eigentliche Verdienst seiner dicken Bücher gerade darin, den Rezensenten durch gedankliche Breite eine dieser kurzen Besprechungen abzuringen, die voller Versprechen sind. Vielleicht ist Pynchons Leistung vor allem das, einer Verheißung Raum gegeben zu haben, die der papierne Quader birgt, der auf meinem Tisch lastet. Die Verheißung und die Hoffnung, dass es ein Ensemble möglicher Welten gibt, ein Ensemble von Wirklichkeiten. Freiheit mithin. Und vielleicht ist genau das der Sinn eines jeden Buches: Nicht dass es gelesen wird, sondern dass es lesbar ist. Und die Lesbarkeit erweist sich anhand exemplarischer Lektüre weniger.

Ich habe auch Pynchons inzwischen dritt- oder viertletzten Roman (Mason & Dixon) nicht komplett gelesen, nicht komplett lesen können, zu langwierig wäre es gewesen, zu viel Lebenszeit hätte es gekostet, zu viele neue Verheißungen gruppierten sich neben und um dieses Buch, aber den ersten Satz kann ich auswendig. Sowohl auf Deutsch als auch auf Englisch. Und ich kann mir das System der Groß- und Kleinschreibung nicht erklären, das Pynchon benutzt! Vielleicht könnte ich es am Ende des Buches. Aber so gut ist mein Englisch nicht, und der Übersetzer hat sich an die deutsche Regel gehalten. Hat er sich ihr Unterworfen oder hat er sie gewählt? Und kommt eine Wahl nicht einer Unterwerfung gleich?

Snow-balls has flown their arcs, starred the Sides of Outbuildings, as of Cousins, carried Hats away into the brisk Wind of Delaware,-the Sleds are brought in and their Runners carefully dried and greased, shoes deposited in the back Hall, a stocking’d-foot Descend made upon the great Kitchen, in a purposeful Dither since Morning, punctuated by the ringing Lids of various Boilers and Stewing-Pots, fragrant with Pie-Spices, peel’d Fruits, Suet, heated Sugar, -- the Children having all upon the fly, among rhythmic slaps of Batter and Spoon, croax’d and stolen what they might, proceed, as upon each afternoon all this snowy Advent, to a comfortable Room at the rear of the House, years since given over to their carefree Assaults.*

Ich liebe dieses Buch wie kein zweites. Es ist das Kernstück meiner Sammlung nicht zu Ende gelesener Bücher. Manchmal nehme ich es eine Weile aus dem Regal, schlage es an irgendeiner Stelle auf, und betrachte die Seiten, komme ins Lesen, breche bald ab, ich bin auf der Suche nach einer mechanischen Ente und einem sprechenden Hund.

Ich sollte mir keine dicken Bücher mehr kaufen.

Ich lese seit Jahren eigentlich immer nur erste Sätze und Gedichte und auch wenn ich ein Buch an irgendeiner Stelle aufschlage, bleibe ich am ersten Satz hängen, den ich zu Gesicht bekomme. Ich beziehe mein Wissen aus vergangenen Lektüren. Lektüren aus einer Zeit, als mir ein Buch gar nicht dick genug sein konnte, weil ich mit ihm die Zeit tot geschlagen, mithin tote Zeit ausgefüllt habe.

Am meisten habe ich gelesen, als ich Soldat war. Mehrere Bücher die Woche (unter anderem Pynchons „Versteigerung von Nummer 49“, das einen Satz enthielt, den ich erst vergessen habe, als ich ihn in meiner Diplomarbeit zitiert habe). Denn Soldat sein, hieß warten. Sinnlos in Militärstuben herumsitzen und warten. Ich glaube, die Militärführung versprach sich davon, dass man einen Krieg als willkommene Abwechslung begriffen hätte. Das man bereit gewesen wäre zu töten, nur um der Langeweile zu entgehen. Ich weiß nicht, was geschehen wäre, wenn während ich Wache stand, jemand in meinen Postenbereich eingedrungen wäre. Ich war ausgerüstet mit sechzig Schuss scharfer Munition und dem Befehl, nach dreimaliger Ansprache zu schießen.

Einmal, während einer Nachtwache hätte ich den Befehl beinahe ausgeführt. Stehen bleiben! Der erste Ruf. Stehen bleiben, oder ich schieße! der zweite. Jetzt hätte ich durchladen müssen, und ich hätte die Hoffnung gehabt, dass das eindringliche Ladegeräusch, das klicken des Schlosses der Kalaschnikow den Eindringling davon abgehalten hätte, sich meinen Rufen weiterhin zu widersetzen. Im trüben Schein einer Postenlampe wühlte sich ein Igel durchs Unterholz, und ich beließ es beim zweifachen Rufen. Den Rest meiner Zeit auf Wache zitterte ich wie Espenlaub. Mensch, was hatte ich dort zu suchen gehabt.



* Dt. von Nikolaus Stingl: "Schneebälle haben ihre Bahn gezogen, die Wände von Nebengebäuden ebenso wie Vettern und Basen besternt und Hüte in den frischen Wind vom Delaware geschleudert – nun schafft man die Schlitten unter Dach, trocknet und fettet sorglich ihre Kufen, stellt Schuhe im hinteren Flur ab und fällt strümpfig in die große Küche ein, die von früh an in planvollem Aufruhr, untermalt vom Deckelgeklirr verschiedener Pfannen und Schmortöpfe. duftend von Küchengewürz, geschälten Früchten, Nierenfett, erhitztem Zucker – und nachdem die Kinder, in fortwährender Unrast, zum rhythmischen Geklatsch von Teig und Löffel, alles Erdenkliche erschmeichelt und stiebitzt, begeben sie sich, wie den ganzen verschneiten Advent lang an jedem Nachmittag, in ein behagliches Zimmer im hinteren Teil des Hauses, das schon seit Jahren ihrem unbekümmerten Ansturm überlassen."

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