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Jan Kuhlbrodt: Überblendungen. Zu Roloffs neuem Gedichtband

Diagramme
Jan Kuhlbrodt
Überblendungen
Zu Roloffs neuem Gedichtband

Viktor Schklowskis berühmter Aufsatz „Kunst als Verfahren“ setzt mit der Kritik-Vorstellung ein, dass Kunst Denken in Bildern sei, um dann das Verfahren in den Vordergrund zu schieben. Die Art und Weise der Bildgebung zum Beispiel und die Momente der Entfremdung. Dieser meiner Meinung nach epochale Aufsatz nimmt vieles vorweg, was man gegen gegenwärtige Dichtungsvorstellungen vorbringen könnte. Bei den Gedichten Marcus Roloffs meine ich diese Kritik gewissermaßen praktisch verwirklicht zu sehen.

Roloffs Gedichtband, der gerade in der Stadtlichter Presse erschienen ist, heißt „Gespräch mit dem Horizont“. Und schon dieser Titel baut eben diese Beziehung auf, den Horizont als Abbild aber auch als Aussicht auf Möglichkeiten.

Ich musste mich etwas freilesen, weil ich vor einiger Zeit die Orlovsky-Übersetzungen des Autors gelesen hatte, und deshalb natürlich zunächst nach den Spuren des Russo-Amerikaners suchte. Aber außer dem Motto im letzten Kapitel des Buches, das „Familienalbum heißt, wurde ich nicht unmittelbar fündig.
       Und auch hier verhalten sich Roloffs Texte gewissermaßen diametral zu Orlovskys Versen: Ich mag die Trauer nicht/ die von … meinem Stammbaum hängt. Denn da ist zum Beispiel ein Gedicht, das vom Sterben eines Großvaters spricht, der über lange Jahre davor einen wandernden Granatsplitter im Kopf trug. Eine manifeste Erinnerung, die selbst im Vergessen vorhanden ist, und sich um das Bildungsgut französischer Literatur bewegt. Das Bild aber ist selbst Erinnerung. Die Potenz des Gedenkens. Und das, was wir gern als Gefühl wüssten, gerinnt hier zum Sprachbild. Insofern bleibt auch dieses letzte Kapitel, das eines Memento Mori im klassischen Sinn. Das Eingedenken des Todes als ihm vorangehende Präsenz im Lebenden.

Wenn ich den Band von hinten aufrolle, dann, weil mir am Ende der Lektüre erst auffiel, wie sich die Texte am Bildhaften finden. Und zwar nicht im übertragen-literarischen Sinn, sondern durchaus im kompositorisch-tätigen der bildenden Kunst oder im fotografischen Moment.
  Und auch der erste Text im Kapitel „Waldstücke“ gleicht einer kriminalistischen Tatortfotografie. Er nimmt Spuren auf, die im Weiteren vielleicht ein Fachmann zu Indizien verdichtet:

„skelettrestefund
waldstück bei gundelsheim
vermisst seit achten oktober.“

Allerdings ist das das zweite Kapitel eben. Der Band setzt ganz anders ein und befragt von Anfang an die Möglichkeit des Wiedergebens von Gesehenem. Zumal der Blick, wenn er sich vom Papier wegrichtet, nach Heidelberg und in die Umgebung gerät.

„da ist eine art heidelbergeinschluss“

Das Fehlen der Bilder aber wird durch Bilder ersetzt, und Bilder schieben sich übereinander. Malereien, Zeitungsfotografien, Erinnerungsfetzen. Es wird bildgestapelt. Diaphan – die einzelnen ergeben Schärfe erst in der Komposition, die Ordnung schaffen will, doch mephistophelisch das Ich zuweilen ordentlich vor sich hertreibt.

Auf Seite 33 heißt es in einem kompakten Text, der so etwas wie eine Flucht beschreibt vielleicht:

„entbergung denk ich aus dem Bild heraus, als bauland-
waise geh ich restlos auf im rahmenlosen ...“


Marcus Roloff: Gespräch mit dem Horizont. Gedichte. Wenzendorf (Stadtlichter Presse) 2021. 82 S. 14,00 Euro.
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