Jan Kuhlbrodt: Krüppelpassion
Rezensionen/Lesetipp > Rezensionen, Besprechungen
Monika Vasik
Jan Kuhlbrodt: Krüppelpassion oder Vom Gehen. Berlin (Gans Verlag, Gegenwarten Band 4) 2023. 240 Seiten. 30,00 Euro.
„Ich sollte mir keine dicken Bücher mehr kaufen“
1. Vielleicht ist es unklug, meine Einschätzung von Jan Kuhlbrodts „Krüppelpassion oder Vom Gehen“ an den Anfang zu stellen. Doch für mich ist dieses Werk das mutigste, wichtigste und eindrücklichste dieses Literaturherbstes, ein Buch, das exemplarisch von einer Tragödie des Menschseins erzählt, vom jahrzehntelangen Leben mit einer chronischen, fortschreitenden Er-krankung und von der Auseinandersetzung mit dem eigenen Sterben. Denn „die Krankheit führte mir mein Vergehen vor Augen und lässt mich ein Ende des Lebens absehen“.
Im Abschnitt „Der letzte Roman“, der sich ungefähr in der Mitte des 230 Seiten dicken Buchs befindet, skizziert der Autor sein Vorhaben:
„Mein Entwicklungsroman: Der Roman des Beginns und des Verlaufs einer Krankheit. Meiner Krankheit. Der Roman eines Gehenden, der seine Gehfähigkeit nach und nach verliert. Der Roman eines Sitzenden. Eines Rollenden. Letztlich eines Liegenden, der nach und nach das Atmen einstellt.“
Die Krankheit ist benannt: Multiple Sklerose. Kuhlbrodt macht früh Erfahrungen mit ihr, ohne noch selbst erkrankt zu sein. Denn seine Mutter hat MS, möglicherweise auch der jung verstor-bene Vater seiner Mutter, ein Zufall, da „die familiäre Häufung nur bei 5 Prozent liegt“ und „diese Krankheit nicht als Erbkrankheit gilt“. Außerdem betreut er in jungen Jahren als Pflegehelfer MS-Patienten, um sich das Philosophiestudium zu finanzieren. Sein Vergleich mit der Gegenwart:
„Mein Rollstuhl aber ist rot metallic. Diese Farbe gab es damals noch nicht. Ein Fort-schritt!“
2. Laut einer Pressemitteilung des Statistischen Bundesamts Wiesbaden lebten Ende 2021 in Deutschland rund 7,8 Millionen schwerbehinderte Menschen, das sind 9,4% der Gesamt-bevölkerung. Da Menschen mit Behinderung auch Bezugspersonen haben, ist der Kreis der Betroffenen deutlich größer, Stichwort Care-Arbeit usw. Man kann also nicht behaupten, das Thema betreffe nur eine Minderheit. Als schwerbehindert gelten Personen, denen als Maßeinheit ein Grad der Behinderung (GdB) von mindestens 50 amtlich zuerkannt wurde, wobei 100 der höchste GdB ist. Voraussetzung für die Bemessung sind schwere, länger als sechs Monate andauernde Beeinträchtigungen der körperlichen, seelischen oder geistigen Gesundheit. Aufgabe der Politik ist es, Rahmenbedingungen zu schaffen, um eine inklusive Gesellschaft und die Gleichstellung von Menschen mit und ohne Behinderung in möglichst vielen Bereichen zu erwirken und damit einhergehend wichtige Rechtsansprüche.
Auch für den Kulturbereich wäre folglich ein Desiderat, dass die Teilhabe für Behinderte selbstverständlich überall möglich ist und zwar unkompliziert, ohne zusätzliche Behinderung von behinderten Menschen. Denn es geht um gleiche Möglichkeiten, um Inklusion, Repräsentation und Sichtbarkeit. Desiderat wäre zudem, dass solch eine Teilhabe von allen, also auch von (vermeintlich) Gesunden, gefordert und erwünscht ist, man sich daher im Vorfeld bereits Gedanken macht, wie solch eine Teilhabe aussehen und gelingen könne – was in der Realität, wie man weiß, oft anders aussieht.
„Die Zahl meiner Freunde wird sehr überschaubar“, schreibt Kuhlbrodt. „Ich sitze also nicht mehr in Kneipen herum.“ Er wollte sich einst eine Welt entwerfen, die das Versprechen von Weite enthält und immer größer wird. Stattdessen schrumpft seine Welt durch die Krankheit und den dadurch erzwungenen Rückzug „auf diese paar Quadratmeter mit Fenster zum Hof“ seiner Wohnung. Wenn er einmal mit Freunden unterwegs ist, ist eine Kommunikation auf Augenhöhe nicht möglich, weil er im Rollstuhl die hinter ihm Gehenden nicht sieht und sein Kopf sich obendrein vierzig Zentimeter tiefer befindet als die der anderen. Er wird kaum mehr zu Festen eingeladen, hat Schwierigkeiten, an Lesungen und anderen Veranstaltungen teilzunehmen, da Stiegenhäuser, fehlende Aufzüge und beengte Verhältnisse die Teilnahme mit einem Rollstuhl verunmöglichen. Selbst da, wo Rampen vorhanden sind, seien diese manchmal zu steil für das Befahren mit einem Rollstuhl und „die meisten Bühnen haben unüberwindbare Rampen“. Besonders bitter stoßen Kuhlbrodt die baulichen Barrieren am Deutschen Literaturinstitut in Leipzig auf, wo er einst studierte und später unterrichtete, denn das Institut sei „nur für Gehfähige“ erreichbar, die Treppen sind heute für ihn unüberwindbar. Illusionslos und mit verhaltener, doch unüberlesbarer Wut resümiert er:
„Solidarität hieße im übrigen, dass solang das so ist, ALLE draußen blieben. Das wird allerdings nicht eintreten. Solidarität wird nicht eintreten, weil sie dem Interesse der Mehrheit zuwider läuft. (Solidarität ist meist nur ein Lippenbekenntnis.)“
3.
Es wird etwas
schwerer
Es wird etwas schwerer,aber man gewöhnt sich, dann geht’s wiederund es wird etwas schwerer, man gewöhnt sich,dann geht’s wieder, es wird schwereres wird schwerer,dann geht’s
4. Nach ihrer Meinung befragt, würden sich vermutlich viele
im Kulturbetrieb für die Gleich-stellung aller Menschen aussprechen. Die
Erfahrung meiner eigenen Schwerbehinderung lehrt, dass für sich gesund und
völlig unversehrt Fühlende behinderte Menschen oft nicht ihresgleichen, sondern
stets die Anderen sind, daher Themen wie Barrierefreiheit und Inklusion als
bloß abstrakte Begriffe wenig Relevanz haben. Gradmesser ist die Norm der
Gesunden und die Gleichgültigkeit. Man ist lieber ignorant, macht sich eben keine
Gedanken, ist ja nicht selbst betroffen oder beklagt das Einmahnen von gleichen
Möglichkeiten gar als Fordern von Privi-legien. Ein Beispiel: Bei der Planung
einer Lesereihe merkte ich an, dass der vorgesehene Veranstaltungsort nicht
barrierefrei erreichbar sei. Es waren mehrere Stufen zu überwinden und keine
Rampe vorhanden. Lautstark beschwerte sich ein Mitorganisator, auf was man
nicht noch alles achten solle, jede Gruppe fordere Sonderregeln und wolle heute
berücksichtigt werden und genau darüber sollten wir jetzt mal „offen“ reden,
denn von uns sei ja niemand behindert. Als ich widersprach, diagnostizierte er
mit verächtlichem Blick: „Du bist nicht behindert“. Damit war die Diskussion
beendet, das Machtwort eines Gesunden hat sich durchgesetzt. Frei nach Hannah
Arendt bedeutet, nicht zu widersprechen zuzustimmen. Allein, es überspannt die
Kräfte, ständig gegen (strukturelle) Diskriminierungen anzurennen. Ein zweites
Beispiel: Bei einer Diskussion zum Thema „Awareness im Vereins- und
Veranstaltungskontext“ sprach ich von Misogynie und Ableismus und dass ich mich
dem nicht gut gewachsen fühle. Ein Mitte 40-jähriger belehrte mich sogleich mit
Hinweis auf seine philosophischen Forschungen an Universitäten, dass ich nicht
sagen dürfe, ich sei behindert, nie. Nun hat schon Rebecca Solnit dazu
Erhellendes in ihrer 2014 erschienenen Essaysammlung „Men explain things to me“
geschrieben. Aber in manchen Situa-tionen hilft dieses Wissen gegen übergriffige
Zurechtweisungen wenig.
Dass nun Jan Kuhlbrodt sich als Krüppel bezeichnet, feiere
ich, um mal beim Jargon meiner Kinder Anleihe zu nehmen, als Akt der
Selbstermächtigung. Ich vermute, er wäre verärgert, wenn ihn andere als Krüppel
bezeichneten. Kuhlbrodt wählt diesen Ausdruck bewusst, was manch zartes
Seelchen irritieren mag. Das Wort Behinderter wäre diskreter, weniger unschön,
doch es gibt nichts zu bagatellisieren. Mit „Krüppel“ weist der Autor
einerseits auf seine tatsächlich erlebte, Tag für Tag auszuhaltende körperliche
Versehrtheit hin, auf Verluste wie jene der Geh-fähigkeit und des sozialen
Austauschs sowie sein Angewiesensein auf Hilfen. Anderseits steht Krüppel für
Reaktionen der Mitwelt auf sein Anderssein. Er hört „volkssokratisches Gerede“,
das nahe legt, dass der Tod eine Möglichkeit sei, Freiheit von Krankheit und
Leid zu erlangen, „Alltagskommentare, vor allem von jungen, gesunden Menschen“
wie „Eh’ ich mich nicht mehr regen kann, bring ich mich um“ oder den Kommentar
einer flämischen Kollegin, die ihm unvermittelt sagt, „dass sie so nicht leben
könnte.“
„Ich wüsste nicht, ob ich das könnte, höre ich oft, und frage mich dann, warum man mir den Verlust als Vermögen unterstellt. Oder das Weiterleben mit dem Verlust, als hätte ich eine Wahl.“
Das Wort „Passion“ wiederum, das den zweiten Teil des
Buchtitels bildet, zeigt die Passion als Leiden, als Leidensgeschichte, aber
auch die Passion als Emotion, als Leidenschaft, die verhalten zwischen den
Zeilen, manchmal herrlich offen und ungezügelt zu spüren ist.
5. Besonders erwähnenswert ist die literarische Form. Es ist
kein chronologisch erzähltes Protokoll einer langen Krankheit und ihres
Verlaufs, sondern ein Puzzle aus Fragmenten verschiedener Zeitebenen, aus
Erinnerungen, Symptomen und Reflexionen, ein Mosaik des Skizzierens und des
Nachdenkens über Philosophie und Lektüren, in dem sich Steinchen an Steinchen
zu einem Bild fügt, jenem „Gewimmel, das Leben heißt“. Das Buch beginnt mit dem
Tod der Mutter, als würde erst dieser eine Kaskade an Erinnerungen und Reminiszenzen
ins Rollen bringen. Das Erinnern ist sprunghaft und assoziativ. Wir erfahren
von Kuhlbrodts Kindheit und Jugend in der DDR, von Familienkonstellationen und
Urlauben, von seiner Selbst-verpflichtung zu einer Berufsoffizierslaufbahn, weil
er als Jugendlicher nach der Lektüre von Stanisław Lems Science-Fiction-Romanen
von einem Leben als Kosmonaut träumt. Als angehender Soldat wiederum wünschte
er sich eine schwere Erkrankung, um dieser Verpflichtung entkommen zu können
und fragt sich später, ob dieser intensive Wunsch nicht Mitauslöser seiner MS
gewesen sein könnte, zugleich wissend, dass ihm „derartige Psychologisierei
auch nicht hilft“. Als sich „kleine Körperzickereien“ einstellen, das
Umknicken, Stolpern, Stürzen, ein Hinken, kann er sie über Jahre verdrängen,
ehe ihm eines Tages die Diagnose gleichsam den Boden unter den Füßen wegzieht.
Die Vorstellung, man könne seine Schritte lenken und setzen
wie man will, stellte sich als Illusion heraus. Kuhlbrodt kann sich nicht mehr
erinnern, wie es ist, zu gehen. Er weiß wohl, wie es aussieht, aber nicht mehr,
wie es sich anfühlt. „Und zuweilen beneide ich jenen, der ich einmal gewesen
sein muss, um sein Vermögen zu gehen.“ Seine Gedanken kreisen um Vergangenes,
die Gegenwart und seine kleiner werdende Zukunft. Anderes wird plötzlich
wichtig, etwa die nervende alltagspraktische Frage: „Hast du die Bremsen drin“,
denn wenn diese einmal nicht drin sind, kann es für Rollstuhlfahrer wie
Umgebung fatale Folgen haben.
Kuhlbrodt bezeugt mit seinem Buch souverän, dass er mehr ist
als bloß eine Krankheit, die ihn vieler Möglichkeiten beraubt. Zu diesem Mehr
gehört u.a. das Lesen und Nachsinnen, das Rezensieren, mit dem er seine
„schmale Invalidenrente“ verbessert, der Austausch über Soziale Netzwerke. Er
erzählt von Lektüren, flechtet philosophische und literarische Zitate ein,
bekennt seine Liebe zu Texten von Georg Trakl und Franz Fühmann, von Inger
Christensen und Anne Carson sowie vielen anderen. Weil ihm stets bewusst ist,
wo seine Lebensreise hinführen wird, trifft er seine Wahl, hält gefasst und mit
widerständigem Witz an einem Ziel fest:
„Später einmal, wenn ich aus dem Leben entlassen werde, werde ich es sein, der das so lange es geht hinauszögert, auch weil auf der anderen Seite niemand mit einem Kasten Bier warten wird.“
Anmerkungen:
Für Auszüge aus seinem Roman wurde Jan Kuhlbrodt im Frühjahr
mit dem Alfred-Döblin-Preis 2023 ausgezeichnet.
Und ich hätte dem Buch die Sorgfalt eines Lektorats
gewünscht, um etliche kleine Fehler vor Drucklegung zu korrigieren.