Jan Kuhlbrodt: Kanäle
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Jan Kuhlbrodt
Kanäle
Ein trüber Bach, der nach und nach
aufklart, aufgeklärt wird. Schon sammeln sich an den Staustufen Junglachse. Die
Flüsse seien früher voll davon gewesen. Bachneunaugen. Waren die nicht
ausgestorben? Über Jahrzehnte nicht gesehen. Wölfe. Und kommen noch neue Arten
dazu, Nutria, Waschbär. Verrottete Zäune aufgegebener Pelztierfarmen.
Nächtliche Schreie aus der Kadaververwertung.
*
Als in den Neunzigern die Kanäle in
Leipzig geöffnet wurden, um die Bach- und Flussläufe wieder ans Tageslicht zu
bringen, habe man blinde hundertjährige Karpfen gefunden, las ich. Und ich muss
an das Wespennest denken, das mein Vater, als die Welt für mich noch in Ordnung
war, zumindest noch geordnet, mit einem Wasserstrahl aus dem Gartenschlauch von
der Schuppenwand spülte.
Mit den Tieren kamen die
Kriege zurück.
Abwechselnd Meldungen über
gesichtete Luchse und Wölfe, einmal auch über einen Bären. Meldungen zwischen
den Kriegen, die inzwischen die Nachrichten bestimmten. An ihnen scheiterten
meiner Interpretationsmodelle, die ich mühsam über die Grenze gerettet hatte.
Es sollte um Öl gehen, um Bodenschätze. Das hätte ich noch verstanden Christian
aber sprach von Identitätskonstruktionen, und ich fing an, mir die Menschen wie
Schaufensterpuppen vorzustellen. Zusammengesteckt aus robusten Einzelteilen,
die frei kombinierbar waren. So einfach sei das aber dann doch nicht, sagte
Christian.
*
Der Materialismus kommt immer zu spät. Er
sitzt mit seiner Angel am Kai oder am Bachrand, er fischt mit künstlichen
Fliegen, und hofft zu wissen, worauf er zu achten hat; aus der Situation des
Wartens folgert er seine Überlegenheit. Lachs, ein Lachs, zappelt im Kescher.
Wenn nichts passiert, meint der Materialist, er habe alles im Griff und ihm
könne nichts passieren. Der Materialist meint, sein Material zu beherrschen,
seinen Lachs, und er beherrscht sein Material so, wie es ihn beherrscht. Aber
das teilte ich damals noch nicht. Noch fühlte ich mich stark und überlegen.
Ich beharrte darauf, dass es
einfach ist.
*
Der Bach war weit weniger abstrakt, als
ich angenommen hatte. Er war nur übermauert. Jetzt ist er freigelegt, und man
fand auch, als man die Röhren öffnete, jene Karpfen dort vor, lebendig,
ungenießbar, blind. Bleihaltige Ablagerungsfische. Fortschritt ist, das, was
einst als Fortschritt galt, wieder zu beseitigen. Mauern, Staaten, Religionen.
Show, don’t tell.
Ich hatte mich immer für
einen Materialisten gehalten, auch am Ende noch, auch noch gegen besseres
Wissen. Und als Materialist hatte ich gegen besseres Wissen natürlich eine
gewisse Arroganz entwickelt, gegen das Material, gegen den Lachs, auch wenn ich
es selber war, der es besser wusste, es besser wissen musste.
*
Das Bachneunauge ist nicht zu angeln, mit
der letzten Metamorphose, zum Ende hin, zur Eiablage, büßt es sein Maul ein.
Verhungert. Versprüht aber seinen Samen. Immerhin.
Aus Jan Kuhlbrodt: Die Rückkehr der Tiere. Berlin (Verlagshaus Berlin) 2020. 120 Seiten. 17,90 Euro.