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Jan Kuhlbrodt: Eine unzeitgemäße Betrachtung

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Jan Kuhlbrodt

Adorno zum 50. Todestag

Eine unzeitgemäße Betrachtung


I.

Philosophie seit Ende des zwanzigsten Jahrhunderts scheint sich weitgehend mit den Orten ihrer Zuordnung abgefunden zu haben und sich in ihnen einzurichten. Sie zielt kaum noch auf etwas, was über das Bestehende hinausweist. So korrespondiert sie mit der Siegesfeier der Marktwirtschaft und singt deren bedachte Liedchen. Wenn also der freie Geist in der DDR noch Gegenstand der Unterdrückung war, d.h.  ihm ein subversives Potential zumindest unterstellt wurde, und er sich in der Bundesrepublik redlich um Kritik der gesellschaftlichen Verhältnisse bemühte, scheint er sich, angesichts der heute bestehenden gesellschaftlichen Verhältnisse, in unverstellte Affirmation zu ergeben. Das Überleben der Marktwirtschaft neben einem Zusammenbruch der 'Planwirtschaften' erscheint als Beweis für deren Existenzberechtigung.

Geschichte aber speichert sich in Artefakten. An ihnen vermag man noch etwas von jener geschichtlichen Bewegung erahnen, deren Ergebnis die Gegenwart ist. Ganz auf dem Boden dieser Gegenwart entledigt Philosophie sich ihrer Geschichte, indem sie sie entweder postmodern negiert oder positivistisch als Datensammlung archiviert. Die These von der Offenheit der Geschichte konvergiert mit der von ihrem Ende. Philosophie ordnet sich fröhlich in die Reihe der anderen Wissenschaften ein, oder versucht zumindest sich diesen anzudienen. Als Komplementär-disziplin bleibt sie jedoch unauffällig und bedeutungslos.
  Ihre Kompetenzen hat sie längst an die Naturwissenschaft abgetreten und gebärdet sich, wenn überhaupt, so als ethisches Korrektiv, wo sie sich nicht zur Wissenschaftstheorie verkürzt hat, nach der sich kaum ein Forscher richtet und die in der Politik, mit dem Verweis auf 'Sachzwang', außer Kraft gesetzt wird.


II.

Im Verlust der Geschichte präsentiert sich das Gegebene als Schicksal. Kein Wunder ist es also, wenn sich bei aller Rationalisierung der „Irrationalist“ Heidegger¹ (um mit Lukács zu sprechen) als einflussreichster deutscher Philosoph des zwanzigsten Jahrhunderts herauskristallisiert. In seiner Theorie spiegelt sich nichtreflektierte Rationalität, zeichnen sich ihre Abgründe ab.
    Im Bewusstsein der neuesten Geschichte sind Lukács´ Bedenken nach der Niederlage des Nationalsozialismus zu teilen. Lukács verweist auf die Nähe Heideggers zum Nationalsozialismus und darauf, dass sein Werk, wenn auch nicht unmittelbar faschistisch, so doch für diesen vorbereitend durch seinen Beitrag an der Schaffung eines geistigen Klimas gewesen sei.²
    Die massiven Versuche, Adorno in die Nähe Heideggers zu rücken, lassen sich sicher darauf zurückführen, dass Adorno die herrschende Rationalität einer Kritik unterzog, die jenen, die sich in der Rationalität auf festen Boden wähnen, unverständlich bleiben muss.


III.

Adornos Philosophie macht sich, indem sie Definitionen verweigert, unangreifbar im Sinne positivistischer Kritik. Somit ist sie auch für Positivisten nicht zu begreifen. Sie ist nicht darauf gerichtet, erschöpfende Erklärungen zu liefern, doch zwingt sie den Gedanken, sich auf die Sachen selbst zu richten. Die Lektüre der Texte Adornos hinterlässt kein methodisch gesichertes Endwissen, lässt aber Begriffe und Kategorien in eine Bewegung kommen, die das Denken daran hindert, in eine Verfestigung zu verfallen und das Betrachtete unter einem Begriffssystem zu begraben. So ist dieses Denken in der Lage, die Geschichte, die sich in den Artefakten speicherte, zu erkennen und zu entziffern. Aus diesem Grund ist Adorno zum heutigen Zeitpunkt so aktuell wie nie zuvor. Seine Philosophie verleiht dem oben erwähnten Unbehagen Ausdruck, da sie auf Geschichte insistiert und auch den Artefakten, in denen Geschichte Ausdruck findet, Gerechtigkeit widerfahren lässt.


IV.

Man sieht sich, wegen der Beschäftigung mit Adornos Ästhetischer Theorie, des Öfteren dem Vorwurf der 'Flucht in die Ästhetik' konfrontiert. Dieser Vorwurf mag seine Berechtigung dahingehend haben, dass im herrschenden Diskurs Kunst als eine isolierte Sondersphäre betrachtet wird. Die Befürchtung, die nur auf die Unkenntnis der Schrift zurückzuführen ist, wird aber aufgehoben, wenn man von der Einheit des Begriffs ausgeht und dessen Korrespondenz zu Nichtbegrifflichem.  Gesellschaftliche Totalität ist durch das Durchdringen aller Bereiche gekennzeichnet. Diese Durchdringung kann dem Denken nur entgehen, wenn es sich auf zugewiesene Bereiche beschränkt, und selbst dann wird es mit der Totalität konfrontiert, die es nicht reflektiert. Eine Beschränkung auf zugewiesene Bereiche beinhaltet die Affirmation des gesellschaftlichen Ganzen. Aus diesem Grund gehen Theorien, die Kunst als isolierten Sonderbereich betrachten, nicht nur an deren gesellschaftlicher Determination, sondern auch an der Kunst selbst vorbei. Indem die gesellschaftliche Erfahrung, die sich in den Kunstwerken niederschlägt, vernachlässigt wird, wird der Gehalt der Kunst mit ihrem gesellschaftlichen Moment negiert.
    Die sich aus diesem Mangel ergebenden Theorien bleiben, angesichts von Werken moderner Kunst, verständnislos. Diese Verständnislosigkeit wird in positive Rezeptionen verpackt, in denen Nichtverstehen zur Prämisse wird. Die Begründungen nehmen sich verschieden aus, berufen sich auf postmoderne Pluralität oder absichtliche Irritation durch den Künstler. Immer aber wird ein Mangel an Verständnis seitens der Rezipienten dem Werk und den Produzenten zugeschrieben. Der naive Geist macht aus seinem Unvermögen ein Programm. Kunst wird degradiert zur Spielerei.
    Philosophische Ästhetik liefert zu Zeiten selbst die Begründung, die sie – und nicht die Kunst – zur Belanglosigkeit werden lässt. Der Verweis auf die Irrationalität ihrer Gegenstände genügt dem 'bedeutsamen Denker', sich auf das 'Wichtige' zu konzentrieren, sich den 'echten' Problemen der Gegenwart zu stellen. So muss diesen Theoretikern eine Beschäftigung mit Kunst und philosophischer Ästhetik als Flucht vor den 'wirklichen' Problemen erscheinen.


V.

Es sei noch bemerkt, dass, im Gegensatz zu Habermas, hier nicht davon ausgegangen wird, dass sich Adorno in seinem "Spätwerk" der Dialektik der Aufklärung zu "entringen" sucht[2], vielmehr erschließt sich über die späteren Werke die Dialektik der Aufklärung in ihrer enormen Komplexität. Dies soll keine Entwicklung im Denken Adornos negieren, vielmehr darauf verweisen, dass sich Adorno der Dialektik der Sache zeitlebens verpflichtet fühlte.³


¹ cf. Georg Lukács: Der Aschermittwoch des parasitären Subjektivismus, in: ders.: Die Zerstörung der Vernunft, Berlin 1955, S. 389 ff.
und Georg Lukács: Heidegger redivivus, in: ders.: Existentialismus oder Marxismus?, Berlin 1951, S. 161 ff.
² So problematisch Lukács´ Erörterung der Geschichte des Irrationalismus und vor allem seine Nietzscheinterpretation auch sein mag, läßt sich angesichts der deutschen Geschichte seine Arbeit nicht einfach übergehen, zumal Heideggers Nähe zum Nationalsozialismus zeitweise keineswegs nur theoretisch war.
³ cf. Jürgen Habermas: Theorie des kommunikativen Handelns, vierte, durchgesehene Auflage, Frankfurt am Main 1987, S. 515

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