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Jan Kuhlbrodt: Das Überschreitende

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Kolumne 1 (04.12.2020)
Jan Kuhlbrodt: Das Überschreitende

Es ist die beste Zeit, zur Utopie zurückzukehren, wenn sich in der Pandemie zeigt, dass ehemals eherne Gewissheiten nur von begrenzter Dauer sind.
Utopie kann aber auch weniger nach dem jeweiligen Inhalt der konkreten utopischen Vorstellung, als der Form nach betrachtet werden, also hinsichtlich ihrer Produktion. Hier ginge es nicht darum, nach dem jeweiligen Grund utopischer Vorstellungen in menschlichen Sehnsüchten zu suchen. Die Heilsvorstellungen erscheinen hier nicht äußerlich und unvermittelt, sondern die Utopien entspringen notwendig einem wirklichen Prozess; sie sind gesellschaftliche Produkte, erwünscht oder unerwünscht. Abgase. Begleiterscheinungen. Nebenwirkungen.

Basis und Grund für die Produktion von Utopien ist hier ein Moment des Überschreitens, das als notwendiges Moment der Denktätigkeit selbst innewohnt. Denn Bedingung menschlicher Erkenntnis ist die Fähigkeit des Denkens – sich selbst und den bereits erfassten Objektbereich, das bereits Erkannte überschreiten zu können. Erkenntnis, auch theoretische, zielt auf Neues, Unbekanntes. Würde sie sich nur im bereits Erkannten bewegen, ohne einen Umbau, eine Umkonstruktion vorzunehmen, handelte es sich um einfache Doppelung des Vorhandenen und widerspräche dem Begriff des Denkens selbst. Es spiegelte nur.
 
Die Hegelsche Bestimmung des Denkens in §22 der Enzyklopädie (der philosophischen Wissenschaften) verweist darauf, dass "vermittelst der Veränderung, die wahre Natur des Gegenstandes zu Bewußtsein kommt."  (Ich beziehe mich hier auf den Denker, nicht nur des gerade verflossenen Jahrestages wegen, sondern weil mich die Hegellektüre von Anfang an in einen Zustand versetzte, der meinen Gedanken den Halt verweigerte.)

Aber auch schon die Reproduktion des vorhandenen Wissens verlangt, dass dieses zum Gegenstand des Denkens wird. Und durch diese Vergegenständlichung wird es modifiziert und stellt sich als Anderes, dem Vorgefundenen bereits Verschiedenes vor.
 
Schon die Form des Denkens als Identifikation von Ding und Begriff verlangt die Modifikation der Begriffe, dass sich die Dinge gegen sie stemmen, aber auch das Nichtbegriffliche wird modifiziert und dem Begriff angepasst.

Der Begriff, als Konstruiertes selbst, verfügt in diesem Prozess auch über ein die Summe des von ihm Gemeinten real überschreitendes Moment, da Denken sonst nicht denkbar wäre, da es deckungsgleich mit der Summe des zu Denkenden restlos im Begriffe aufginge, verschwände, kein dem Begriff Verschiedenes mehr bildete.

Ohne ein Anderes, worauf es zielte, und was es auch selbst sein kann, indem es sich veräußerlicht, also Gegenstand wird, verlöre sich der Anlass des Denkens. Es bliebe nicht nur auf der Ebene des bereits Erkannten, sondern würde diese Ebene im Weiteren sogar unterschreiten. Es wäre bloße Verlaufsform, würde sich letztlich selbst unterbinden.

Das hier umrissene Überschreitende des Denkens aber sucht seinen Ausdruck in Konkreten Denkprodukten. Utopie, als in diesem Sinne Ausdruck des Überschreitenden lässt sich mithin darstellen als produktiver Umgang, Utopieverzicht hingegen wäre selbstzerstörerische Beschränkung.


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