Jahrbuch österreichischer Lyrik 2022/23
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Marcus Neuert
(Alexandra Bernhardt:) Jahrbuch österreichischer Lyrik 2022/23. Wien (Edition Melos) 2023. 316 Seiten. ISBN 978-3-9505384-4-1, EUR 28,00.
Mit Gedichten von Charlotte Shulamith Adelt, Renate Aichinger, Yassin Al-Bayyati, Frieda Alfred, Thomas Amann, Martin Andersson, Günther Androsch, Thomas Ballhausen, Manon Bauer, Alexandra Bernhardt, Katrin Bernhardt, Ilse Viktoria Bösze, Selina Braunstein, Isabella Breier, Patricia Brooks, Hannah K Bründl, Georg Bydlinski, Manfred Chobot, Theo Colarusso, Martin Dragosits, Ilija Dürhammer, Otto Dvoracek, Claudia Dvoracek-Iby, Noah Egger, Herbert Eigner-Kobenz, Karin Endler, Franz Fabianits, Isabella Feimer, Stefan Feinig, Janko Ferk, Katharina J. Ferner, Ingrid Fichtner, Franzobel, Dietmar Füssel, Christian Futscher, Petra Ganglbauer, Christl Greller, Georg Großmann, Silke Gruber, Sonja Gruber, Irena Habalik, Friedrich Hahn, Joachim Gunter Hammer, Lisa Hasenbichler, Dorina Marlen Heller, Julia Hintermayer, Peter Hodina, Beate Höfels-Stiegernigg, Abelina Holzer, Veronique Homann, Pascal Honisch, Sandra Hubinger, Jakob Janeschitz, Gerald Jatzek, Jiri Kandeler, Luca Kieser, Petra Kislinger, Eva Kittelmann, Daniela Kocmut, Markus Köhle, Dietmar Koschier, Margret Kreidl, Stefan Kreiger, Lara Maria Krejci, Augusta Laar, Julia Lacina, Zoltán Lesi, Markus Lindner, Unda Maris, Sofie Morin, Andrea Nagy, Anna Neuwirth, Hermann Niklas, Astrid Nischkauer, Martin Oberbauer, Josef Ondracek, Mario Oppelmayer, Barbara Pachler, Asiyeh Panahi, Andreas Pavlic, Josef Pedarnig, Alexander Peer, Martin Peichl, Roswitha Perfahl, Jonathan Perry, Max Pitner, Christine Pitzke, Matthias Politycki, Francesca-Maria Raffler, Christine Rainer, Hugo Ramnek, Meinhard Rauchensteiner, Stefan Reiser, Sophie Reyer, Kaia Rose, Peter Rosei, Gerhard Rühm, Gerhard Ruiss, Serwah Sabetghadam, John Sauter, Stefan Schlager, Siljarosa Schletterer, Robert Schöfberger, Hector Schofield, Ulrike Schrimpf, Kirstin Schwab, Maria Seisenbacher, Andrea Sihler, Horst Dieter Sihler, Renate Silberer, Angelika Stallhofer, Christian Steinbacher, Benedikt Steiner, Elke Steiner, Thomas Steiner, Marion Steinfellner, Patrick Strasser, Jože Strutz, Angelika Stumvoll, Christian Teissl, Peter Tertinegg, Felix Thalheim, Jonas Thüringer, Stephan Tikatsch, Ulrike Titelbach, Boško Tomašević, Johannes Tosin, Johanna Trankovits, Lara Trinkl, Martin Troger, Karl Tschurtschenthaler, Alexandra Turek, Monika Vasik, Traude Veran, Harald W. Vetter, Harald Vogl, Hannes Vyoral, Richard Wall, Ludwig Wassermann, Eleonore Weber, Fritz Weilandt, Herbert J. Wimmer, Peter Paul Wiplinger, Johannes Witek, Barbara Woi-Paierl, Robert Ziffer-Teschenbruck und Veronika Zorn.
Die Sattelfestigkeit des dritten Aufgalopps
Zum nunmehr dritten Mal versammelt die Autorin, Verlegerin und Herausgeberin Alexandra Bernhardt die Lyrik bekannter und weniger bekannter Schreibender aus Österreich zu einem laut Küchenwaage immerhin 660 Gramm schweren Kompendium – ein schön aufgemachtes Hardcover mit Umschlag und Lesebändchen.
Entstand die erste Anthologie im Jahre 2019 unter ihrer Ägide noch im Klagenfurter Sisyphus Verlag, so hat sich Alexandra Bernhardt inzwischen auf den steinigen Weg eigenen Verlegens begeben und mit der Edition Melos in Wien binnen kurzem ein hochkarätiges literarisches Programm aufgelegt, das sich vor den etablierten Mitbewerbern nicht zu verstecken braucht. Hier erschien bereits die Nummer zwei des Jahrbuches, welches allerdings eher einen Biennale-Charakter (2020/21) aufwies; im vergangenen Dezember folgte also der ebenfalls für ein Doppeljahr stehende dritte Band, wieder in etwa dreihundert Seiten stark.
Dieser
Umstand ruft eingedenk des naheliegenden Vergleiches mit dem für den
gesamtdeutschen Sprachraum erscheinenden und seit Jahrzehnten renommierten Jahrbuchs
der Lyrik ähnlichen Umfangs eine auf den ersten Blick ganz und gar
unlyrisch anmutende Wissenschaft auf den Plan: die Statistik nämlich. Das
Verhältnis der österreichischen Wohnbevölkerung zur deutschsprachigen in Europa
insge-samt beträgt ganz grob 1:10, und leitet man daraus ab, dass es in etwa
auch vergleichbar viele Lyrik Verfassende in den entsprechenden Ländern geben
mag, so wäre die auktoriale Chance auf eine Veröffentlichung beim
österreichischen Jahrbuch auch eingedenk dessen zweijährlicher
Erschei-nungsweise immerhin noch fünfmal so hoch wie beim
gesamt-deutsch-sprachigen. Das wirft dann auch unmittelbar die Frage nach der
Qualität der abgedruckten Gedichte auf.
Und die, das
sei gleich vorausgeschickt, ist im Großen und Ganzen auch nicht weniger hoch
als anderswo. Es ist ohnehin eine Binsenweisheit, dass sich Anthologien dieser
Art vor allem durch Vielfalt der lyrischen Konzepte, durch eine
Berücksichtigung aller Altersgruppen, Geschlechter und Herkunftshintergründe
einem repräsentativen Abbild der Lyrikszene eines Landes oder eines
Sprachraumes annähern wollen. Das gibt auch den (noch) weniger bekannten
Stimmen eine Chance und relativiert den Einfluss der „großen Namen“ hin auf
eine werbewirksame Leuchtturmfunktion. Was die Einzelauswahl der jeweiligen
Gedichte angeht, so entscheiden letztendlich Geschmack und Erfahrung des oder
der an der Herausgabe Beteiligten. Im Falle des Jahrbuchs österreichischer
Lyrik verantwortet dies offenbar Alexandra Bernhardt allein. Das schafft
natürlich die Gefahr einer perspektivischen Verengung. Die vom bereits
erwähnten deutschen Pendant gewählte Idee einer jährlich wechselnden
Co-Herausgeberschaft kann diesem Umstand allerdings auch nicht wirklich
abhelfen – im Gegenteil, hier wird eine de facto ohnehin nicht vorhandene
Multiperspektivität gar noch vorgegaukelt. Bei ehrlicher Betrachtung kann man
sich bei einer so groß angelegten Sammlung eigentlich nur verheben: es wird
immer Kritik laut werden, die eine oder der andere Lyrikschaffende sei
ungerechtfertigterweise nicht aufgenommen worden.
Sinnvollerweise
nähert man sich einem solchen Werk also lieber über das Suchen und Finden des
einzelnen, jeweils ganz individuell ansprechenden Gedichtes und ist sich im
Klaren darüber, dass in Puncto Kritik kaum mehr möglich ist als gewisse
Anlesetipps zu geben und zu plausibilisieren, aus der spannungsreichen Fülle zu
schöpfen, die das Jahrbuch österreichischer Lyrik zweifelsohne zu bieten
hat. 80 rein „vornamenstechnisch“ männlich zu lesenden Autoren stehen immerhin
67 ebensolche Autorinnen gegenüber, die Altersspanne reicht vom 1930 geborenen
Gerhard Rühm bis zu Lara-Maria Kreijci, Jahrgang 2006.
Auch fällt
zunächst einmal die Kapiteleinteilung ins Auge, die mit Ein-Wort-Überschriften
wie Schicksal, Geist, Spiel oder auch Vanitas, Phantasma und Amor semantische
Großräume abzustecken versucht und als einziges ordnendes Element in den Aufbau
des Buches eingreift. Innerhalb der
Kapitel ist die formale und stilistische Bandbreite erwartbar groß:
Schriftsprache trifft auf Dialekt, Gereimtes auf freie Rhythmen, radikaler
Spieltrieb auf etablierte Formensprache, existenzielle Themen auf
Unsinnspoesie, Pointiert-Epigrammatisches auf Langgedichte über mehrere Seiten.
Offenbar stand für die Herausgeberin nicht selten im Vordergrund, das
Lesepublikum mit einander gegen-überstehenden, oft sehr unterschiedlichen
Gedichten maximal zu konfrontieren und dadurch die intellektuelle und
emotionale Sprengkraft, die Lyrik ja im Idealfall haben kann, besonders
intensiv erlebbar zu machen. Das klappt natürlich nicht immer. Doch wenn sich
das Prinzip auf bestimmte Kriterien konzentriert, stehen dann etwa ein
hochdeutscher und ein Dialekt-Vierzeiler auf einer Doppelseite, trifft
augenzwinkernde Ironie auf metaphorisches Sprechen und Dudengerechtes auf
Kleinschreibung wie bei Jiri Kandeler und Andrea Nagy:
Das Sein bestimmt das Bewusstsein // Alle Hühner sind / für die Bouillon vom Rind. / Dagegen raten Kühe / mehr zu Hühnerbrühe.Pomali (für HCA) // is summa wuan / unt baam han aa / de söh valudat nimma / a weiße möhspeis is di sunn
Wie etwa das Erinnern jeweils sehr
individuell zu Poesie wird, zeigen zwei sich gegenüberstehende Texte von Eva
Kittelmann (*1932) und Isabella Breier (*1976), in denen es heißt:
[…] War eine gute / wenn auch wilde Zeit! / Ich bin zurück, / ich hab mich eingehaust […]ich weiß noch, dass ich mich wunderte / als die Tonspur mit der Aufnahme vom Meer das Meer überrauschte [...]
Selbst Konfrontationen von Gedichten einer
einzelnen Autorin sind zu finden, die sich mitunter sogar schon im Titel
entsprechend die lyrischen Bälle unterschiedlicher Lesarten zuspielen. So
heißen etwa zwei Texte von Petra Ganglbauer: „Das Trauma“, schreit das
Leben. und Das Trauma schreit, das Leben.
Interessant auch, wenn in seltenen Fällen
einmal Zweisprachiges auf einer Doppelseite präsentiert wird und es dabei auch
noch um Klangliches geht wie in Jože Strutz' Brezvétrno (Galíni) bzw. Windstille
(Galíni), einem slowenisch-deutschen Gedicht über Griechenland (hier nur
die deutsche Übersetzung – als nicht der slowenischen Sprache mächtig würde man
sich eher ein Hörbuch oder eine zweisprachige Live-Lesung wünschen):
[…] Der Wind war eingeschlafen am Ortsrand von Eratiní / dein Schatten, Ödipus, folgt mir durchs Leben / kein Signal, nur bunte Läden, aufgelassene Cafés / Flötentöne über Pans Vaterstadt.
Obendrein wird hier der abgebildete
österreichische Sprachraum auch adäquat um das von ortsansässigen Minderheiten
u. a. in Kärnten gesprochene slawische Idiom erweitert.
Auch essayistisch angehauchte Texte, die
über Sprache und Gedichte reflektieren, finden ihren Raum in Alexandra
Bernhardts Jahrbuch österreichischer Lyrik. Markus Köhle etwa zitiert
die kürzlich verstorbene Elke Erb mit ihrem bekannten Diktum Das Gedicht
ist, was es tut und setzt sich unter konzisen Zwischenüberschriften wie Gedichte
sind Sprachanmache oder Gedichte sind fraglich jeweils poetisch mit
solchen Postulaten auseinander.
Auch Formen, denen zumindest der Schreiber
dieser Zeilen nun so überhaupt noch nicht begegnet ist, finden den Weg in diese
Anthologie: Herbert J. Wimmers logoskop sudoku poeme zeichnen sich durch
Anlehnung an die beliebte Zahlenrätsel-Logik aus: neun Wörter ersetzen jeweils
die Zahlen 1 bis 9 und werden in ihrer Anordnung jeweils so verändert, dass
neun unterschiedliche Verse mit je neun Wörtern entstehen – auch wenn der semantische
Aspekt dieser Permutationen des Materialen nicht das gesamte Publikum überzeugen
dürfte, so haben diese Gebilde doch auch ihren unbestreitbaren poetischen Reiz.
Um
noch einmal abschließend Markus Köhle zu zitieren: […] Gedichte sind laut
und üben. […] Gedichte müssen nicht gefallen. Und auch Gedichtsammlungen
stehen diese beiden Aussagen durchaus gut zu Gesicht. Jedenfalls macht das
aktuelle Jahrbuch österreichischer Lyrik seine Sache sicher nicht
schlechter als das jahrzehntealte gesamt-deutschsprachige Vorbild – wenn es
denn überhaupt das Vorbild für Alexandra Bernhardt gewesen sein sollte.
© Marcus Neuert, März/April 2024