Ivo Ledergerber: Alltagsgrübeleien
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						Timo Brandt
Ivo Ledergerber: Alltagsgrübeleien. Gedichte. Frauenfeld, CH
						(Waldgut Verlag) 2019. 96 Seiten. 22,00 Euro.
Einfachste
						Heiterkeit, einfachste Trauer 
						
						„Lieber Freundist es besser vielleichtin den Tag hinein zu lebendie Handführt zum Mund was da istdas Augesieht was stehtvorüberhuscht“„Was uns entgehtwird sich erst zeigenwenn Novemberschnee fälltdort wo man nicht schwarz räumtdenn alles hat seinen OrtVergessen und Übersehen“
Der Titel von Ivo Ledergerbers Gedichtband
						„Alltagsgrübeleien“ ist zum Teil Koketterie, zum Teil aber auch tatsächlich
						Programm. In sehr einfacher Sprache, mit minimalem Schliff, geht es in diesen
						Gedichten um die unscheinbaren Gewissheiten, die man am Rand der Tage und
						Stunden aufliest, die Magie des Gewöhnlichen – um die fast schon banalen
						Überlegungen, Beobachtungen und Feststellungen, in denen sich dennoch die
						zentralen Bedingungen der Existenz ausbreiten, rekapituliert werden. 
						
						Dabei schrumpft das Herrlichste und Bedauerlichste oft auf
						etwas kleines Wesentliches zusammen, eingefangen in schlichten Bildern: Man
						schreitet durchs Dasein mit festen Überzeugungen, im Bann von so vielen
						Entwicklungen und Ereignissen,
						
						„bis wir erkennendas sind nur Wellenam Rande eines Zeitmeeressie kommen und gehenvor deinen Füßen vor deinen Augenrollen sie vor und rollen zurück“
						Laut editorischer Notiz fasst der Band eine Auswahl von
						nicht publizierten Texten aus den letzten 25 Jahren. Es sind also Überbleibsel,
						liebenswerte Reste, in deren persönlicher und unambitionierter Note ein großer
						Gewinn für diejenigen Leser*innen wartet, die Freude an genuiner Direktheit und
						einfachen Ent- und Verzauberungen haben, an Zelebrationen mit beschaulichem
						Inventar. In einem Gedicht über Vögel, die immer wieder eine Rolle spielen,
						heißt es:
						
						„woher sie ihre Lieder habenMax meint sie hätten Sonne getrunkendas wäre schönich hätte mich dabei verbranntden Amselkehlen scheint es nicht zu schadenich meinerseits öl mir die Kehlemit einem Gläschen Weißenund sing im Bade und so fort“
Ähnlich wie Heinz-Albert Heindrichs Altersband „Heimsucht
						Fernweh“ (2018 bei Rimbaud erschienen) oder 
						Wolfgang Denkels „Schulterblatt“ (2019 in der Edition Hammer + Veilchen),
						beide von mir besprochen beim Signaturen-Magazin, sind die „Alltagsgrübeleien“
						ein ruhiges Fest für die Sinne, ein behutsames in Berührung kommen mit der
						Welt, ihrer Fülle und ihrer Leere. 
						
						„Kindtanz deinen Reigenspiele dein Spielwir andern laufenund halten uns fitgegen das Sterbenwir essen dagegenverschwinden lesendin unsterblichen Textenund dugehst mit den Zwergen“
Es ist, nicht zuletzt, auch ein Alterswerk, in dem immer
						wieder die Weite des Gelebten und das Wissen um die Sterblichkeit, das Spüren
						ihrer Unabwendbarkeit, eine Rolle spielt. Für das Wissen um den Reichtum des
						eigenen Ich und, gleichzeitig, seine ungeheure Fragilität, sein Verschwinden,
						findet Ledergerber in einem der letzten Gedichte ein wunderbares Bild, indem er
						Andrzej Stasiuk zitiert und nur vier Worte anfügt:
						
						„« Die Zeit kommt von weit undgleicht fremder Luft,die schon jemand geatmet hat»und jemandbin ich“