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IntroVersIon - Lyrik aus Lettland: Agnese Rutkēviča

Werkstatt/Reihen > Reihen > IntroVersion
Reihenfoto: © Inga Pizāne, Autorenfoto: © Jānis Deinats
IntroVersIon
Lyrik aus Lettland

Agnese Rutkēviča
Übersetzt von Astrid Nischkauer und Kalle Aldis Laar


Viens otra atmiņās esam mierīgi
Kā zirgi pļavās pirms rītausmas
Un saule uzaust kā nazis
Ar kuru vectēvs sapnī griež maizi

viens otra sapņos esam tālu
kā nomoda iztraucētas rokas
atvadas ir vēl viena dzīve
mūsu atmiņas ir autoosta
kurā svešinieks atrod
pazaudētu bērna cimdu
un nezina ko ar to iesākt
līdz steidzīgi ieliek mēteļa kabatā
pie pārējām lietām
kuras rūpīgi glabā
bet nezina
kāpēc

viens otra atmiņās esam seni un svinīgi
kā Katedrāles laukums Viļņā
un naktīs kad to pārņem tukšums
mēs neesam vienīgie
kuri nevar aizmigt

un saule uzaust kā nazis
ar kuru vectēvs sapnī griež maizi




Wir sind friedlich in unseren jeweiligen Erinnerungen
Wie Pferde auf der Koppel vor der Dämmerung
Und die Sonne geht auf wie ein Messer
Mit dem Großvater im Traum Brot schneidet

wir sind weit in unseren jeweiligen Träumen
wie vom Erwachen aufgestörte Hände
ein Abschied ist noch ein weiteres Leben
unsere Erinnerung ein Busbahnhof
wo ein Fremder den verlorenen
Kinderfäustling findet
und nicht weiß, was er damit anfangen soll
bis er ihn rasch in seine Manteltasche steckt
zu den übrigen Sachen
die er sorgfältig aufhebt
aber nicht weiß
warum

Wir sind alt und feierlich in unseren jeweiligen Erinnerungen
wie der Domplatz in Vilnius
und wenn ihn nachts die Leere einnimmt
sind wir nicht die einzigen
die nicht schlafen können

und die Sonne geht auf wie ein Messer
mit dem Großvater im Traum das Brot schneidet




laiks mūsu atmiņas apracis
kā Mocartu nabagu kapos
turpināsim klusēt kā pamesta
orķestra bedre
neiesim vairs tās meklēt
tagad vienīgi sapņos
Saljēri pamāj
Un es vairs neatšķiru –
Tās ir atvadas
Vai sveiciens




Zeit begrub unsere Erinnerung
wie Mozart im Armenfriedhof
wir werden weiter still sein wie ein verlassener
Orchestergraben
wir werden nicht mehr nach ihnen suchen
jetzt winkt Salieri
nur noch in unseren Träumen
Und ich kann nicht mehr sagen –
Ob zum Abschied
Oder zur Begrüßung




V. Šimborskas motīvs
neviens nejūtas labi četros no rīta
viņa saka un pieskaras segai kā karogam
zem kura kļuvis pārāk šauri
tumsā sīc muša pamodusies tajā nakts stundā
kad vēk nekā nav
vien iesākti un nepabeigti sapņi
steidzīgu soļu neiztraucētas ielas
kāds laukums pilsētas centrā
kuru uzšķērž vientuļš gājējs tumsā
tikmēr uz to vienaldzīgi noskatās
stacijas pulkstenis
nolādēts
mūžīgi
atkārtoties




W. Szymborska-Motiv
niemand fühlt sich gut um vier Uhr früh
sagt sie und klammert sich an die Decke wie an eine Fahne
unter der es allzu eng geworden ist
im Dunkeln summt eine Fliege, eben erwacht in jener Nachtstunde
in der es noch nichts gibt,
nur angefangene und unvollendete Träume
von eiligen Schritten unbehelligte Straßen
ein Platz in der Mitte der Stadt
den im Dunkeln ein einsamer Fußgänger überquert
während die Stationsuhr
gleichgültig auf ihn herabblickt
dazu verdammt
sich für immer
zu wiederholen



Mēs dzīvojam valstī, kuras nav.
Mēs esam tās vienīgais iedzīvotājs, kuram pieder jūra
un vientulības augstie nodokļi. Mēs ilgojamies pēc lēnāka laika,
pēc laika, kurš satilpst ādas rokaspulkstenī.
Mēs gribētu atgriezties pie jūras kā bērnībā un meklēt dzintarus,
bet apmaldāmies akmeņos, noturot tos par sauli.



Wir leben in einem Land, das es nicht gibt.
Wir sind sein einziger Bewohner, dem das Meer gehört
und hohe Einsamkeitsabgaben. Wir ersehnen eine langsamere Zeit,
eine Zeit, die in eine lederne Armbanduhr passt.
Gern kehrten wir ans Meer zurück wie als Kind, Bernstein zu suchen,
aber wir verirren uns zwischen den Steinen, halten sie für die Sonne.



Pēc veselas mūžības aizbrauc uz laukiem
un izlasi visus neizlasītos žurnālus, kurus kāds izdevis
pirms veselas mūžības.

Pabradā pa upi, Daugava ir kā siltas rokas, noplūc pļavu, elpo.
Un gribas (kā Hvoinskis sacījs dzejolī) redzēt miglā zirgus.
Es visu laiku domāju, ko man atgādina tavas acis -

Klusu pļavas malu ar ugunskuru.



Nach einer ganzen Ewigkeit fährst du aufs Land
und liest all die ungelesenen Zeitschriften, die dir jemand gab
vor einer ganzen Ewigkeit.

Du durchwatest die Düna, warm wie Hände, rupfst Gras, atmest.
Und willst (wie Hvoinskis im Gedicht sagte) Pferde im Nebel sehen.
Die ganze Zeit überlege ich, woran mich deine Augen erinnern –

An einen stillen Wiesensaum mit Lagerfeuer.



Agnese Rutkēviča (1988), ist eine Lettische Dichterin und Dramatikerin. Bislang sind zwei Gedichtbände von ihr erschienen – „Das Schweigen des jungen Wagners” (2012), nominiert für den Lettischen Literaturpreis, „Und mancherorts Menschen” (2020). Sie schreibt Erzählungen und Theaterstücke, die auf lettischen und internationalen Bühnen aufgeführt werden. 2015 gewann sie den Autorenpreis beim Wiesbadener Theaterfestival „Neue Stücke aus Europa”. 2012 gewann sie mit ihrer Erzählung „Der schwarze Anzug” den Festival-Hauptpreis für Prosa Lesungen. Außerdem war sie als Schauspielerin in diversen Theateraufführungen zu sehen. Ihre Gedichte wurden unter anderem ins Englische, Deutsche, Litauische und Estnische übersetzt. In ihrer Freizeit erwirbt sie Kenntnisse über den Weinbau.
Die Übersetzer danken Latvian Literature

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