Ingo Ebener: Schönes, / im Winter - zum 70. Geburtstag des Dichters Rainer René Mueller
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Ingo Ebener
Schönes, / im Winter - zum 70. Geburtstag des Dichters Rainer René
Mueller
Rainer René Mueller wurde am 1. Januar 1949 – vor 70 Jahren also – in
Würzburg geboren, ist allerdings tief in Heidelberg verwurzelt, doch ebenso
verwachsen mit Strasbourg und Paris, mit Togo, Berlin, Jerusalem, Tunis,
Czernowitz …
Vor nicht allzu langer Zeit las man noch über
ihn, er sei ein „Unentdecker“ geblieben, ein „sehr zu Unrecht halb vergessene[r]
Dichter“, inzwischen bilde ich mir aber ein, dass seine Leserschaft zahlreicher
wurde & wird, anwächst – immerzu …
Atemraub
& Atemraum
Gebündelt liegt sein kleines & feines
Oeuvre im Auswahlband POÈMES – POËTRA
vor, einer Art Best of 30-jähriger Dichtertätigkeit; ein roughbook, das
mir die Bedeutung seiner Texte schlagartig klar machte und schlagend vor Augen
führte. Sein jüngster Band geschriebes. selbst mit stein knüpft nahtlos
daran an, wobei die Naht eine besondere Spur im Schreiben RRMs hinterlassen
hat, nachdem das Atmen & der Atem auf Abwege gerieten:
ins Atmen zurück,nach Stillstand, Lichttunnel,nach dem Blick, sovon oben, auf michals zuende, zum Anfangins Atmen zurück.(„Rißvernähung : Oxygène“)
Der „atemraubenden“ Erkrankung sind die Worte
entgegengestellt, die selbst einen Atemraum bewohnen. Die Wiederholung der
Worte „ins Atmen zurück“ kommt einer Versicherung gleich, der eine
Verunsicherung vorausgegangen ist. Wer Anfang und Ende erfährt und bedenkt, der
erlebt sie als Zusammenfall, und im Fallen auch eine Reihe von
Perspektivwechseln- und Wenden.
Die Atemwende, die einst Paul Celan
forderte, die ihn so lebendige Gespräche nicht nur mit Lesenden, sondern mit
der Kunst selbst führen ließ, nahm auch Rainer René Mueller wahr, er nahm sie
mit in sein Schreiben, und knüpfte nicht nur an dessen an Adorno gerichtete
Antwort, sondern an Celan selbst an. Celan hatte die Kunst (als techne)
noch mit Argwohn betrachtet, da er glaubte, es mangele ihr am Lebendigen, und
von der Dichtung gefordert, auf die Sprache zu hören, zu lauschen & zu
schauen, um sich in ein Gespräch mit der Kunst begeben zu können. Muellers
Schreiben baut auf dieser Einsicht auf, doch ohne zuvor – das hat ihn sein
eigener langjähriger Umgang mit Kunst (auch als Leiter von Kunsthäusern &
Galerien) gelehrt – die strikte Trennung von Dichtung und Kunst mitgehen zu
wollen.
Ja, die Kunst. Sie ist nicht nur ein lebloses,
jambisches (Un)wesen, sie besitzt, wie auch das Gedicht, (mindestens) ein
Doppeltes. René Leibowitz, der große Klangdichter & -denker, der
Vertonungen von Joyce, Baudelaire, Celan, Bataille oder Hölderlin vornahm,
verfasste kurz vor seinem Tod die Schrift Le compositeur et son double (1971),
in der er sich der diffizilen Verschmelzung zwischen compositeur und interprète
annimmt. Rainer René Mueller, ein anderer (doppelter) René also, wies bereits
1996 in der 9. Nummer der Zeitschrift Zwischen den Zeilen auf den
leibowitzschen Einfluss auf sein Schreiben hin (die Datierung dort geht sogar
auf 1984 zurück).
Musik, Bilder, Texte
– sie begleiten das Schreiben, ergänzen es, gehen in es über, schreiben sich
ein, klingen nach – vielleicht doppelt, leichfüßig tänzelnd, bleischwer,
steinern …: „Der erste Platz gebührt der Musik. Sie gliedert die linear und in
bestimmten Bereichen mehrfach überlagert verlaufende Zeit.“ (RRM, „Bemerkung zu
den Gedichten Aus Polenland. Aus“) Die Musik als Vorgängerin und
rhythmische wie lautliche Strukturgeberin begleitet die Dichtung. Wo sie bei
Leibowitz (Gedichten) nachgestellt ist, stellt sie Mueller der eigenen Dichtung
voraus.
Die eigenen Erfahrungen und – wie es bei
Adorno heißt – Reflexionen aus dem beschädigten Leben stellt Rainer René
Mueller einem Sprachpurismus entgegen. Wichtig sind ihm bewußte Abweichungen
vom doppelten Metaphernboden, und entscheidend ist seine Überzeugung, „daß in
der Sprache mit dem ungewohnten Zusammenbringen von normalerweise Entlegenem,
wobei noch in der Auflösung die Normalien der Sprache, die grammatikalischen,
die syntaktischen und auch die begrifflichen intakt bleiben, kann der Schrei
als ein Bild von Sätzen geschrieben werden.“ (Ebd.)
Abweichung, discrepantia –
gegen die Norm, gegen die Form
Dass Muellers
Gedichte, nach frühen positiven Reaktionen in Form von Förderpreisen und
Stipendien, fast vergessen waren, mag auch damit zusammenhängen, dass sie etwas
Unbequemes, Widerständiges zum Ausdruck bringen. In ihnen erklingt eine
Sprache, die sich nicht fügen will, die widersteht, die das Schöne & das
Häßliche kennt – so wie Rainer René Mueller die Künste kennt –; eine Sprache,
die Haken schlägt und Wunden, diese zusammenführt und –näht, dabei auf Auge
& Ohr eingeht, ohne reibungslos geschluckt werden zu können. Muellers
frühes Gedicht „LIRUM, LARUM“ liefert hierfür ein gutes Beispiel. Es ist dasjenige
eines Menschen, der den Klängen misstraut – man bedenke dies gerade
hinsichtlich der erwähnten Vorrangstellung der Musik –, den Rhythmen und
Melodien, dem vertrauten hohen Ton (z. B. der kanonischen Dichtung) und den
ebenso vertrauten Volksliedern, den Abzählreimen und Marschmelodien. Da
Muellers Gedichte ausnahmslos im Realen wurzeln, zeugt auch „LIRUM, LARUM“ von
einem, der sieht & lebt, der fühlt & hört & lauscht, der den Nach-
& den Beiklängen nachspürt, der das Verhältnis kennt von Hören &
Hörigsein, von Lied & Leid, von Schrei & Schreiben. Mueller wählt mit
Bedacht das Krumme vor jedem Geraden. Er schreibt in vollem Bewusstsein von den
Gewaltigkeiten der Sprachen: ihren Prozessen, Überlagerungen, Befehlsformen und
Diktionen.
punctum
contra punctum – virgule e(s)t contre-chant
Auf das Virgule
kommt alles an, denn aus ihm – so schrieb mir RRM einmal, sich auf sein Gedicht
„Sans, Souci / Schwan und Virgule“ und den Aufsatz „Anataxis, Komma, Balance“
von Werner Hamacher beziehend – entwickelt sich alles. Virgule, virgula,
virgel / und , – Satzzeichen, Schrägstrich, Strichlein in Musik
und Dichtung, oft nur Überlesenes, Überhörtes, kaum Vernommes, Unbedeutendes,
Verkanntes; zierlich, verschwindend – und eben doch eine alles entscheidende
Spur:
: Spur :...fängt sich im Komma : um-: -gestülpte Geschichte, ohneZweifel, –(„Sans, Souci / Schwan und Virgule“)
Muellers Gedichte sind Vielstimmigkeitsgewebe,
Klangbilder und Partituren (Particella). In ihnen wird Geschichte umgestülpt,
und bedenkt man, was Werner Hamacher in „HÄM“ schrieb, dass sich Gedichte
nämlich aus ihrer Geschichte erheben und sich gegen sie erheben, dann
ereignen sich – oder besser erklingen – in Muellers Gedichten doppelte Bewegungen;
angelehnt an die musikalische Lehre des Kontrapunktes: punctum contra
punctum – oder auch: chant – contre-chant
Mit-teilbares, Tastbares, nicht sag-bar, ein Stückchen alte Musik,ungehört …(„Lormen, mit Primzahl“)
Hineni, Hineni
Gerade das am eigenen
Leib, das mit Augen und Ohren – Erlebte & Erfahrene legen und stellen die
Texte Rainer René Muellers aus und halten es für das Hier und Jetzt offen
(ungehört & unerhört). Auch das in den letzten Jahren entstandene Gedicht
„…man nennt es glück“ zeigt wie eng neben Lied & Leid auch Trauer &
Glück oder Anfang & Ende miteinander verbunden sind. So verschiedenartig
„Glück“ erfahren werden kann, so ungreifbar es ist, so kommt es doch irgendwie
im Menschlich-Allzumenschlichen zusammen, ist Stimme & Stimmung,
Ergriffenes & Begriffenes:
man nennt es Glück, das ergriffene, dasAbleben auch, so als wärnichts & doch :alles ist da : beobachtet, gesehn: liegen ineinander; wiezwei Muschelschalen : Saint Jacques -auch das : ein Heranwachsen …man nennt es : Glück(„ … man nennt es glück“)
Glück kann vieles
sein, muss vieles sein: ein schönes Gedicht vielleicht, ein erster Tag im Jahr,
Musik, Begegnungen (innerhalb & außerhalb der Muschel), etwas Schönes,
im Winter …
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