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Ida Gerhardt

Portraits


Klaus Anders

Ida Gerhardt - unbekannte Meisterin



"Vollkommen verjudeter, Verse machender, hyperspiritueller Blaustrumpf. Anti-germanisch, gefährlich, bösartig. Sie meint, durch die Aussonderung der Juden sei alle Kultur und Bildung verschwunden." So beschrieb 1940, nachdem die Niederlande von Nazi-Deutschland besetzt worden waren, Maurits Theodor Hillen, Altphilologe am Gemeentelijk Lyceum in Kampen, Mitglied der Nationaal-Socialistische Beweging (NSB) und Nazi-Spitzel seine Kollegin Ida Gerhardt.

Die Verleumdete, selbst Altphilologin, war damals als befristet Angestellte an dieser Schule tätig. Die erste Festanstellung ihres Lebens bekam sie ebendort am 1. September 1941. Jedoch am 5. November desselben Jahres "… wurde mir diese Festanstellung durch die Besatzer entzogen – wegen 'Judenfreundlichkeit' [dt. i. Orig.]. Ich heulte und raste, ich kam nicht darüber hinweg. Und es interessierte keinen: Jeden bedrohten Hunger und Angst."

Da war sie 36 Jahre alt, hatte seit 1933 als Lehrerin gearbeitet, immer nur in befristeten Arbeitsverhältnissen, zeitweise arbeitslos. Ihr erster Gedichtband Kosmos war 1940 erschienen, er blieb nicht unbeachtet. Ihr zweiter Band Das Fährhaus erschien im Oktober 1945, als es an allem fehlte, besonders an Papier.

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Ida Gerhardt wurde 1905 in Gorinchem als drittes Kind von Grietje Blankevoort und Dirk Reinier Gerhardt geboren. Der Vater war gelernter Zimmermann und Bauzeichner, später Berufsschullehrer und Schuldirektor.
    Das Ehepaar hatte drei Töchter und einen Sohn, der noch am ersten Tag seines Lebens verstarb. Den Verlust des Jungen konnte die Mutter nicht verwinden, das Verhältnis zu der danach geborenen Tochter Ida war davon belastet. Ida sprach später von "emotionaler Verwahrlosung", der sie als Kind ausgesetzt war. Die Mutter litt unter wiederkehrenden Depressionen. In ihrer Dichtung thematisierte Ida die schwere Kindheit, am eindrucksvollsten in dem Gedicht Kindheitserinnerung:

Miteins fühlte ich, dass du mich zum Wasser zogst.
Du kehrtest um, weil ich so wild und angstvoll weinte.
Blass liefst du auf dem Deich; ich hing an deinem Rock.
Mutter und Kind: feind und verbündet beide.

Als Schülerin am Gymnasium in Rotterdam, das sie gegen den Willen ihrer Mutter besuchte, war einer ihrer Lehrer der Dichter Jan Hendrik Leopold (1865 – 1925). Dessen Unterricht, aber auch sein lyrisches Werk förderten Idas Anlage und Neigung: Sie wollte die alten Sprachen studieren, Lehrerin werden und vor allem Dichterin. Nach ihrem Abitur studierte sie in Utrecht und Leiden, wurde Mitglied in einer christlich-sozialistischen Studentenvereinigung. Das Verhältnis zu ihrer Familie war gespannt, zeitweise war sie zu Hause unerwünscht und bekam keine finanzielle Unterstützung. Die Mutter wurde 1924 wegen ihrer psychischen Erkrankung in eine Einrichtung verbracht.

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In ihrer Studienzeit in Utrecht begann Ida Gerhardts Freundschaft mit Marie van der Zeyde, langsam und mit Unterbrechungen kamen sie sich näher und wurden Lebensgefährtinnen. Marie war die erste, der Ida ihre Gedichte zeigte und vorlas. Zeitweise lebten sie voneinander getrennt und in verschiedenen Städten, erst in den 50er Jahren zogen sie in eine gemeinsame Wohnung und lebten miteinander bis zu Maries Tod 1990. Marie van der Zeyde war Psychologin, nicht minder streitbar als Ida, und kämpfte (in den frühen Jahren mit teils zu harten Bandagen) für deren dichterisches Werk. Sie war stets auch Idas erste und wichtigste Kritikerin.

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Schon während des Krieges begann Ida Gerhardt sich um die zunehmende Landschaftszerstörung zu sorgen, als deren Verursacher sie nicht nur die deutschen Besatzer sah, sondern auch die Niederländer selbst, deren Gedankenlosigkeit und respektlose Zerstörungswut aus dem Glauben an "Fortschritt". Sie engagierte sich in verschiedener Weise in den Jahren nach Kriegsende für den Erhalt und den Schutz der von ihr so geliebten Landschaft – lange, bevor dieses Thema breitere Kreise bewegte. Sie fand einige Mitstreiter, aber der gesellschaftliche Wind blies aus einer anderen Richtung. Enttäuscht zog sie sich zurück. 1989 flammte ihr Eifer noch einmal auf:

"Die unbarmherzige, plumpe und habgierige Schändung der niederländischen Landschaft in den Jahrzehnten seit der Befreiung", schrieb sie in einem Brief an Königin Beatrix, "der schwarze Einmarsch von Asphalt und Beton, wo lebendiges Grün war, ist – mit all seinen verhängnisvollen Folgen – leider nicht mehr ungeschehen zu machen. Aber durchaus noch in seinem Fortgang zu hemmen. Doch es ist höchste Zeit. […] Sie sind diejenige, Sie sind die Einzige, die durch einen Appell an das ganze Volk das katastrophale, weltweite Herdenrennen zum Stillstand bringen kann. Irgendwo muss man beginnen …"

Ida Gerhardt fand bei der Königin Gehör – bei einer Akteurin, deren Möglichkeiten wohl eher beschränkt waren.

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Gerhardts Entwicklung als Dichterin vollzog sich abseits der literarischen Moden, die ihr keineswegs unbekannt waren, und gegen die sie zeitweise auch polemisierte. "Die Amsterdamer Alchimisten" nannte sie die führenden Lyriker der fünfziger und frühen sechziger Jahre. Später wurde sie milder. Ihre Orientierung am Formenkanon der europäischen neuzeitlichen und der antiken Dichtung, sowie ihr Bekenntnis zum Christentum bilden eine Konstante ihres Werkes. Thematisch finden darin u.a. ihre unglückliche Kindheit und Jugend, Krieg und Vertreibung, Liebe und Abschied, die holländische Landschaft, auch poetologische Fragen zueinander. Zwar bekam sie bereits für ihren zweiten Gedichtband eine Auszeichnung, ihr Werk fand jedoch erst allmählich breitere Anerkennung – abgesehen z.B. von dem Kriegsgedicht Das Glockenspiel*, das relativ rasch populär wurde:

Ich sah die Menschen auf den Straßen,
so grau von Armut das Gesicht, –
doch dann erwacht in ihren Zügen
ein Lauschen und ein zartes Licht,

als oben im Gestühl der Glocken,
nach bronzedunklem Stundenklang,
über die ganze Stadt zu hören,
der Carilloneur das Spiel begann.

Valerius: – festliches Singen,
darin der großen Glocke Lauf,
durchstreut von funkelnd lichten Sprüngen,
'Zu Dir schaun unsere Augen auf.'

Und zwischen all den Namenlosen
stand ich, gedrängt an eine Wand,
und lauschte, wie die Glocken sangen
von unserem geschundenen Land.

Dies sprachlose Zusammenkommen
und Hollands Licht über der Stadt –
nie habe ich, was uns genommen,
so bitter, bitter liebgehabt.
Kriegsjahr 1941
                                                 
* Glockenspiel: Bei einer größeren Zahl an Glocken werden Hebel benutzt, die als Klaviatur angeordnet sind, solche Carillons sind z. B. in Brügge oder Westdeutschland in Ratingen zu sehen. Der Spieler wird Carilloneur, früher auch Glockenist, in den Niederlanden Beierer (von beieren: manuelles Anschlagen der Glocken, in Deutschland: beiern) genannt.

Adriaan Valerius, ca. 1575 - 1625, war Dichter und Sammler von Geusenliedern. 1626 erschien in Haarlem das Lied, aus dem der Vers 'Zu Dir schaun unsere Augen auf' zitiert ist,  in der Sammlung Neder-landtsche gedenck-clanck.

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Eines ihrer längeren Gedichte trägt den Titel Ein Herbstabend. Darin stellt sie das Leben eines Widders dar, vom Lamm über die Jugendkämpfe bis zum Vater der Herde, der irgendwann, alt geworden, zum Schlachthof gebracht werden soll. Die Ich-Erzählerin kauft den alten Bock und bringt ihn auf ein Grundstück am Meer, wo er sein Alter verleben kann, unbehelligt bis zum Tod. Und am Ende des Gedichts wünscht sie auch für sich den Raum für das eigene Sterben.

Leb wohl, Herr Widder, ich kenne nicht
die Zeit, dir zugemessen:
Drüben, wo jetzt die Nacht fällt,
wirst du, wenn deine Kräfte schwinden,
der Menschenmacht entzogen,
dein eigenes Ende finden:
vielleicht in einem Schneesturm
oder gestürzt von einer Steinwand
oder einfach eingeschlafen.

Wie brennend kann ein Wunsch sein,
der stumm getragen wird. –
Gott, der mich kennt, beschirme mich:
lass es mir nicht verwehrt sein,
dann, wenn es kommt, bewahrt
vor Übermacht von Menschen
und unsittlichem Aufschub,
meinen eignen Tod zu sterben.

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Im Alter wurden der Dichterin zwei hohe literarische Auszeichnungen zugesprochen, der Preis für Meisterschaft und der P.C.Hooft-Preis, 1979, beide für ihr Gesamtwerk.

Sie war keine, die den Stift schnell in die Hand nahm, und keine, die ihn voreilig und ungeduldig wieder weglegte. Sie dachte über das Dichten nach, über das, was man aus sich selbst schöpft und für sein Eigenes hält. Auch über die heute so hoch veranschlagte Originalität, der viele potentiell gute Gedichte geopfert werden, bevor sie zu guten Gedichten reifen konnten. Ihre Summe zieht sie in zwei Gedichten:

Dichtersprüche  I      

Mein Sohn, willst du Dichter werden,
gewöhn deinen Stift an das Tilgen.

Hast du sieben Worte geschrieben,
sollst du sechs davon streichen.

Wenn sich das siebte behauptet,
ist es ganz sicher ein Lehnwort.

Gewöhn deinen Stift an das Tilgen,
mein Sohn, sei gegen dich selbst:

Was einen Vers zum Vers macht,
hat keinen sterblichen Ursprung.

Wer Dichter ist, sorgt, dass er stehen lässt,
mein Sohn, was nicht von ihm ist.


Dichtersprüche II                    

Mein Sohn, sollst du ein Dichter werden,
bedenk: Da ist ein Entsagen,

da ist ein Sich-Lösen des Herzens
als das Adelszeichen der Verse.

Hafiz, der Großfürst der Dichter,
er fand, mein Sohn, eines Morgens

die Rose zerstört, die sein Stolz war:
mit der Klinge vom Stamm geschnitten.

Und er schwieg. Er konnt' es verwinden.
Nun stand sein Vers in noch strengerer Pracht.

Ich bitte, mein Sohn, sei nicht furchtsam.
Furcht lässt den Geist nicht in Maßen.

re. Hochzeit
Ida Gerhardt - Marie van der Zeyde
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Als Übersetzerin trat sie zunächst hervor mit Lukrez' De Rerum Natura, Buch I und V, (worüber sie 1942 promovierte), 1949 mit Vergils Georgica. Nach ihrer Frühpensio-nierung studierte sie Hebräisch. Zusammen mit Marie van der Zeyde übersetzte sie die Psalmen, eine Arbeit, für die dem Paar weithin Anerkennung und Lob zukam, vor allem auch aus Klöstern, wo man fand, dass diese Übersetzung eine der wenigen sangbaren war.

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Das hohe Alter Ida Gerhardts war beschwert von gesundheitlichen Problemen: sie erlitt paranoide Psychosen und verbrachte ihre letzten Jahre in einem Pflegeheim. Sie starb 1997 im Alter von 92 Jahren.

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Literatur:
Ida Gerhardt, Verzamelde gedichten, Amsterdam 2001
Mieke Koenen, Dwars tegen de keer: leven en werk van Ida Gerhardt, Amsterdam 2014
Ida Gerhardt, Angrid Tilanus, Briefwisseling 1974 – 1988, Utrecht 2015

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