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Hezy Leskly: Fünf Gedichte

Montags=Text

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Foto: Miri Davidovich
Hezy Leskly
 
Fünf Gedichte
 
Aus dem Hebräischen von Gundula Schiffer


Hebräischstunde fünf

Wird das Wort zum Körper
und der Körper öffnet den Mund
und sagt das Wort, aus dem
er geschaffen –
dann umarm ich diesen Körper
leg ihn schlafen an meiner Seite.   

Aus dem Zyklus Hebräischstunde ‒ Zyklus (Schiur ivrit ‒ Machsor), in: Die Mäuse und Lea Goldberg (Ha’achbarim weLea Goldberg), Gedichte 1987-1989, S. 151.



Poesie

Poesie muss stehen und reden.
Muss auf einer kaputten Waschmaschine stehen und reden
in der Sprache der Socke, die sie
kaputt gemacht hat.
Poesie muss auf dem Fensterbrett stehen und reden
in der Sprache derer, die auf dem Fensterbrett stehen.
Poesie muss tanzen,
und fiepsen in der Sprache der Maus, die unter der Bühne
wohnt und verschreckt ist
von der überspannten Zartheit des Tanzes.
Poesie muss an der Tür klopfen
zaghaft oder stürmisch.
Die Glocke nicht anrühren.
Poesie muss Barcelona besuchen und dort
           E n g l i s c h  reden.
Poesie muss ausruhen, vor allem ausruhen.
Poesie muss keine Poesie sein.
Sie kann redende Nahrung sein.
Poesie kann Konfitüre sein
sprich eine tote, leckere Frucht.
Poesie kann Zuckersatz sein
sprich ein künstlicher, krebserregender Stoff
Poesie kann bauen
ein Wohnhaus
ein Krankenhaus
eine Schule
ein Gefängnis
eine Synagoge

doch lieber
entdeckt sie
einen Milchbrunnen mitten in der Stadt.
Poesie muss schlafen, schlafen und von Poesie träumen.
Poesie muss liegen, liegen und im
Schlaf reden.
Poesie muss begraben sein
in der Erde
und in der Sprache der Toten reden.
Poesie muss sich um Kranke kümmern.
Poesie muss sich selbst blockieren,
sich selbst beseitigen,
sich selbst betrügen,
verlassen und verlassen werden.
Poesie muss leben.

Aus dem Zyklus Das Gestotter des Atlas ‒ Zyklus (Gimgumaw shel ha’atlas ‒ Machsor), in: ebd., S. 175f.



Das Gehirn des Ausdrucks

Um die Schönheit des Hemds auszudrücken
ist weder das Hemd nötig
noch die Not.
Man kann nackt mitten im Zimmer stehen und sagen: Das Hemd ist schön
und schön ist auch der Moment, da ich es befreit losgelassen habe.
Nach der Trennung von meiner Haut, habe ich es vorsichtig gefaltet und
vorsichtig gepackt
und vorsichtig jemand anderem
geschickt, der nackt mitten im Zimmer steht
und sagt: Das Hemd ist grausam
und grausam ist auch der Moment, da man es von deiner Haut getrennt
unsanft gefaltet und unsanft gepackt und unsanft anstelle eines Briefes verschickt hat  
der die Schönheit des Hemds ausdrückt
und die Einsamkeit des Rumpfs.

Aus dem Zyklus Das Beste der GehirneZyklus (Meitav hamochot – Machsor), in: Der Finger (Ha’ezba), Gedichte 1974-1985, S. 68.



Tanz einundzwanzig

Zur Zeit der großen Hungersnot aß ich
das Essen
auf dem Teller
und den Teller
unter dem Essen
und den Tisch
unter dem Teller
und den Fußboden
unter dem Tisch
und das Fundament
unter dem Fußboden
und die Erde
unter dem Fundament.
Und bloß das Nichts ließ ich ganz denn
daraus schneid ich mir mein Tanzkleid.

Aus dem Zyklus Leere Tänze (Mecholot rekim), in: Addition und Subtraktion (Chibur wechisur), Gedichte 1985-1987, S. 101.



*

Ich habe vier Brüder, die tot geboren wurden
und sie rufen mich, zu ihnen zurückzukehren.
Ich habe sie betrogen, als ich geboren wurde und in die Welt entschwand.
Sie sehnen sich nach mir und ich mich nach ihnen.
Sie können nicht zu mir zurückkehren, doch ich kann
zu ihnen zurückkehren. „Komm, komm“,
rufen sie mich, „lass uns eine unzertrennliche Clique
aus Toten sein,
eine innige Familie, die nicht einen Krümel
verliert.“

Anfangs habe ich am Stadtrand gewohnt.
Ich bin in Rechovot geboren
und habe in der Nähe gewohnt.
Von dort bin ich nach Dora gezogen, neben
Netanja.
Erst später habe ich mich getraut, richtig
in den Städten zu wohnen.
In ihrem grazilen, kranken Körper.
Givatajim, Den Haag, Amsterdam, Tel Aviv –
Orte, an den ich lernte, das „Komm, komm“
in andere Worte zu übersetzen
und aus den anderen Worten habe ich Gedichte gemacht.

Aus dem Zyklus Erinnerungen eines Zombies (Sichronotaw schel zombie), in: Die Mäuse und Lea Goldberg (Ha’achbarim weLea Goldberg), Gedichte 1987-1989, S. 195.


Alle Gedichte aus: Hezy Leskly: Ein Milchbrunnen mitten in der Stadt (Be’er chalav be’emza ir). Sämtliche Gedichte 1968-1992, Tel Aviv: Am Oved 2009.
 

 
Die Übersetzerin dankt Dalia Gordon und Maya Gordon für das Vertrauen und die Zustim-mung zur Veröffentlichung dieser Gedichte auf Deutsch.


Hezy Leskly, geboren 1952 in Rechovot, Israel, als Sohn tschechischer Schoa-Überlebender, ist ein israelischer Dichter, Choreograph und Kunstkritiker. Seine Texte sind ein seltenes Beispiel für hebräische Spielarten der Absurde und des Surrealismus. Er schrieb einige Poeme und lyrische Zyklen, die aufgrund ihrer szenischen Qualitäten auch als Minidramen bezeichnet werden könnten. Mit 22 Jahren ging er nach Den Haag, widmete sich dort u.a. an der Königlichen Akademie der Künste den nonverbalen Ausdrucksformen von plastischer Kunst und Tanz und arbeitete, zurück in Israel, seit 1980 als Tanzkritiker für die Tel Aviver Lokalzeitung „Ha’ir“ (Die Stadt). Als einer der ersten in Israel, die offen schwul lebten, ist Hezy Leskly auch eine wichtige Figur für die LGBT-Community des Landes. 1994 verstarb er im Alter von 41 Jahren an Aids. Er schuf drei eigenständige Tanzperformances und ver-öffentlichte 1986 sein Lyrikdebüt „Ha’ezba“ (Der Finger), drei weitere Lyrikbände folgten, der letzte posthum 1994.        
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