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Haukur Ingvarsson: Alles sinkt (Ausschnitt)

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Haukur Ingvarsson
Alles sinkt (Ausschnitt)
(Aus: Vistarverur / Wohnstätten, Mál og menning, Reykjavík 2018)
 
Aus dem Isländischen von Jón Thor Gíslason und Wolfgang Schiffer

IV.
die Gedankenwelt
hat ihre spezielle Geografie
die eng mit dem Körper verbunden ist

du nimmst eine scharfe Kurve
im Innern des Ohrs
und du landest in der Ohrtrompete

aus irgendeinem Grund meine ich
sie müsste Dänemark sein

Windmühlen auf Felsen
Getreide wiegt sich hin und her
bei stillem Wind

es rauscht in den Bäumen
es schimmern der Wein im Glas
und ihre weißen Zähne
wenn sie den Kopf  
in den Nacken wirft
und lacht
mit wallendem Haar

ist dies eine Erinnerung oder ist es ein Bild?
eine Postkarte einer alten Tante?

in Island ist der Sand schwarz
dort steht ein Eisbär


XIII.
wenn ich
im Herbst wach werde

schaue ich aus dem Fenster

und sehe einen laublosen Baum
der versucht, dem Wind zu trotzen
mit dürren Hexenfingern

dann blicke ich
zur Sonne
aber ich weiß nicht
ob sie gerade auf-
oder untergeht

ich sehe nur
dass sie rot ist
aber ich weiß es nicht

denn die Natur
bleibt mir verschlossen   

alles sinkt

ich
sehe ein Schiff
den Hafen verlassen
es segelt über die Berge

obwohl ich hinhöre
verstehe ich die
Morsezeichen nicht

man hat mir
eine Mitfahrt versprochen

alles sinkt
und der Keller läuft voll

das ist ein schrecklicher Schlamassel

die Welt geht unter
und ich weiß nicht
ob es Abend oder
Morgen ist

alles sinkt
und Gott
umklammert
die Gitterstäbe
er beginnt
zu schreien
aber da ist keiner, der ihn hört

alles sinkt
außer der Sonne
sie brennt
schwarz wie ein Auge

und dann fängt es
zu regnen an

ein stilles Schneegestöber
kommt vom Himmel

senkrecht
waagrecht
ich atme tief ein

und
und tauche unter


Haukur Ingvarsson, geb. 1979, schloss 2005 sein Masterstudium in isländischer Literatur ab und arbeitet seither als Schriftsteller, Radiojournalist und unabhängiger Wissenschaftler. 2020 promovierte er mit einer Dissertation zur Rezeption William Faulkners in Island. Sein erster Gedichtband, Niðurfall / Abfluss wurde 2005 veröffentlicht, gefolgt von einem Buch über die späten Romane des isländischen Nobelpreisträgers Halldor Laxness (2009) und dem Roman Nóvember 1976 / November 1976 (2011), veröffentlicht in deutschsprachiger Übersetzung 2016). Mit seinem zweiten Gedichtband, Vistarverur / Wohnstätten (2018), gewann Haukur Ingvarsson den renommierten Tómas Guðmundsson-Literaturpreis, für den dritten, Menn sem elska menn / Männer, die Männer lieben (2021), wurde er mit dem Preis Maístjarnan / Der Maistern, einem der in Island höchsten Literaturpreise für Poesie, ausgezeichnet.

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