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Gyrðir Elíasson: Die Sprache der Möwen (Auswahl)

Werkstatt/Reihen > Reihen > Wortlaut Island

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Foto: Nökkvi Elíasson
Gyrðir Elíasson

Die Sprache der Möwen

Ausgewählte Gedichte aus den Bänden
Geheimer Stern & Während das Glas schläft
Aus dem Isländischen von Jón Thor Gíslason und Wolfgang Schiffer
ELIF Verlag
ISBN: 978-3-946989-94-3
206 Seiten / Gebundene Ausgabe / 24,00 €
Erscheinungsdatum: 6. Oktober 2025


Im Herbst 2025 erschien im ELIF Verlag in einer zweisprachigen Edition eine mit dem Autor Gyrðir Elíasson und seinem Verlag DIMMA abgesprochene Auswahl aus den beiden Gedichtbänden Dulstirni / Geheimer Stern und Meðan glerið sefur / Während das Glas schläft. Für diese wurde der Autor nach Erscheinen mit dem Lyrikpreis Maístarnan / Der Maistern ausgezeichnet, dem einzigen Literaturpreis in Island, der ausschließlich für einen jeweils im Vorjahr veröffentlichten Lyrikband vergeben wird. Getroffen haben die Auswahl Jón Thor Gíslason und Wolfgang Schiffer; sie haben sie auch übersetzt und ihr für die deutsche Ausgabe den Titel Die Sprache der Möwen gegeben.
 


MORGUNKAFFI

Þegar sólin kemur upp
er ég farinn niður. Ég
fer hægt ofan stigann,
og meðan kaffivélin er
að malla horfi ég til
fjallanna. Ég fer með
bollann út í garð og
fylgist með sólinni
hækka á lofti. Ég hef
engar væntingar til
dagsins, jafnvel sólin
má hverfa fyrir mér.
Ég veit ekki hvers
vegna ég er hér


DER MORGENKAFFEE

Wenn die Sonne aufgeht,
bin ich auf dem Weg nach unten. Ich
gehe langsam die Treppe hinab,
und während die Kaffeemaschine
köchelt, schaue ich auf
die Berge. Ich gehe mit der Tasse
in der Hand hinaus in den Garten und
beobachte die Sonne, wie sie
in den Himmel steigt. Ich habe
keine Erwartungen an den
Tag, selbst die Sonne
kann meinetwegen verschwinden.
Ich weiß nicht,
warum ich hier bin


ERINDISLEYSA

Hvert sem erindið var,
hef ég gleymt því. Ég
stend við dyrnar, og
hef ekkert að segja,
ef ég ætlaði að segja
eitthvað er það horfið
út í vorkvöldið þarna
á tröppunum. Ég strýk
niðurnítt handriðið
einsog bæði mér og
því til huggunar.
Enginn svarar, ef
til vill er þetta ekki
einusinni rétta húsið


EIN VERGEBLICHES UNTERFANGEN

Um was es auch immer ging,
ich habe es vergessen. Ich
stehe vor der Tür, und
habe nichts zu sagen,
und falls ich etwas hätte sagen
wollen, so ist es dort auf der Treppe
in den Frühlingsabend
entschwunden. Ich streichele
das schäbige Geländer,
wie uns beiden, ihm
und mir, zum Trost.
Niemand antwortet,
möglicherweise ist das
nicht mal das richtige Haus


SVEFNVENJUR

Ef enginn mundi sofa
yrði lífið töluvert lengra,
en spurning hvort veru-
leikinn í því lífi sem við
bættist gæti jafnast á
við draumana sem
vitja okkar í svefni.
Ég fyrir mitt leyti
vil ekki láta á það
reyna. Ég vil hafa
mína drauma í friði,
og allir sem vilja
stytta svefntímann
eða þurrka hann út
eru óvinir mínir.
Jafnvel martraðir
eru svefnsins virði


SCHLAFGEWOHNHEITEN

Wenn niemand schlafen würde,
wäre das Leben erheblich länger,
doch die Frage ist, ob die Wirk-
lichkeit, die wir dem Leben
hinzugewinnen, sich messen kann
mit den Träumen, die
uns während des Schlafs aufsuchen.
Ich für meine Person
möchte es nicht darauf
ankommen lassen. Ich möchte
meine Träume in Frieden genießen,
und alle, die die Schlafzeit
verkürzen wollen oder
sie auslöschen,
sind meine Feinde.
Sogar die Albträume
sind den Schlaf wert


MÁVAMÁL

Fjöllin eru hrímgrá eftir nóttina,
sjórinn á litinn einsog grænsápu
hafi verið hellt í hann. Eldrauður
traktor kemur eftir veginum
undir fjallinu, það er eina um-
ferðin, eina lífsmarkið, ásamt
tveimur mávum sem standa í
flæðarmálinu og tala saman
á máli sem enginn skilur
nema þeir og hafið
sem skilur allt
                       jafnvel mig


DIE SPRACHE DER MÖWEN

Am Ende der Nacht sind die Berge von Raureif grau,
die Farbe des Meers ist so, als hätte man Schmierseife
hineingeschüttet. Ein feuerroter
Traktor kommt die Straße unterhalb  
des Bergs entlang, das ist der einzige Ver-
kehr, das einzige Lebenszeichen,
zusammen mit zwei Möwen, die
am Strand stehen und sich unterhalten,
in einer Sprache, die keiner versteht
außer sie selbst und dem Meer,
das alles versteht
                                   sogar mich


VANDI

Um nóttina voru draumarnir
svo líflegir að þegar ég fór loks
á fætur vissi ég varla hvernig
ég ætti að komast í gegnum
tilbreytingarlausan daginn
án þess að fyllast vonleysi
Það eina sem hélt mér
gangandi var tilhugsunin
um næstu nótt, og drauma
sem biðu mín þar


DILEMMA  

In dieser Nacht waren die Träume
so lebhaft, dass ich, als ich endlich
aufgestanden war, kaum noch wusste,  
wie ich diesen eintönigen Tag
überstehen sollte, ohne
von Hoffnungslosigkeit gepackt zu werden.
Das Einzige, was mich
weitermachen ließ, war der Gedanke
an die kommende Nacht, und die Träume
die dort auf mich warteten
FÁEIN ORÐ UM NÁTTÚRUFEGURÐ
               að gefnu tilefni

Það er eflaust undarlegt, en ég
finn alveg næga fegurð í bældu
og sölnuðu grasi, í nöktum grjót-
breiðum, í skófum á steinum,
í njólum sem teygja sig upp úr
brúnni mold. Fjöllin þurfa ekki
að vera himinhá, sjórinn þarf
ekki alltaf að vera blár, og trén,
þó ágæt séu, eru ekki ómissandi.
Og það má vera rigning, og vindur,
og hvað annað sem hversdagurinn
kann að flytja með sér


EIN PAAR WORTE ÜBER NATÜRLICHE SCHÖNHEIT
                aus gegebenem Anlass

Es ist gewiss merkwürdig, aber ich
sehe durchaus Schönheit in zertretenem
und abgestorbenem Gras, in nackten Geröll-
feldern, in Flechten auf Stein,
in den Stielen des Ampfers, die aus der braunen Erde
sprießen. Die Berge müssen nicht
himmelhoch sein, das Meer muss
nicht immer blau sein, und die Bäume,
wiewohl ganz wundervoll, sind nicht unentbehrlich.
Und es darf regnen und stürmisch sein
und alles, was der Tag sonst noch
so mit sich bringen mag


DÖKKUMIÐ

Lengst niðri í djúpu
vatninu, býr fiskurinn
sem enginn hefur séð.
Ýmsar kenningar eru til
um hvernig hann sé á litinn,
en það eru allt tómar getgátur.
Nýlega hafa verið sendar niður
myndavélar með fullkomnum
ljósabúnaði, en þær hafa ekki
fundið hann enn. Þetta er fiskur
sem kann að dyljast, en hann
er samt alltaf þarna, bíður
eftir næsta kafara sem lætur
sig hafa það að síga ofan í
djúpið. Enginn hefur
snúið aftur eftir slíka ferð,
og bitförin á loftslöngunni
þegar hún er dregin upp
hafa vakið áleitnar spurningar


DUNKLE FISCHGRÜNDE

Weit unten in tiefer
See, lebt ein Fisch,
den keiner je gesehen hat.
Es gibt verschiedene Theorien darüber,
welche Farbe er hat,
aber das sind nichts als leere Vermutungen.
Kürzlich hat man Kameras
hinuntergeschickt, mit perfektem
Lichtsystem, doch gefunden
haben sie ihn noch nicht. Das ist ein Fisch,
der weiß wie man sich
versteckt, aber er ist
dennoch immer da, wartet
auf den nächsten Taucher, der es
auf sich nimmt, sich hinunter in die Tiefe
sinken zu lassen. Keiner ist nach
einer solchen Reise zurückgekehrt,
und die Bissspuren am Luftschlauch,
nachdem man ihn hochgezogen hat,
haben dringende Fragen aufgeworfen


Gyrðir Elíasson, geb. 1961 in Reykjavík, wuchs in Sauðárkrókur im Nordwesten Islands auf, lebte einige Zeit in Borgarnes und Akranes, später aber in Reykjavík, wo er an der Pädagogischen Hochschule studierte. Fast sein ganzes Erwachsenenleben lang arbeitet er bereits als freier Schriftsteller und veröffentlicht Gedichtbände, Romane und Sammlungen mit Erzählungen und Kurzgeschichten. Auch als Übersetzer ist er tätig, u.a. von Büchern über und von amerikanischen Ureinwohnern sowie Romanen des amerikanischen Schrift-stellers Richard Brautigan. Für sein Werk wurde der Autor mehrfach ausgezeichnet, u.a. im Jahr 2000 mit dem Isländischen Literaturpreis und 2011 mit dem Literaturpreis des Nordischen Rates. Seine Arbeiten wurden in mehrere Sprachen übersetzt und publiziert, so auch in Deutschland, zuletzt im Jahr 2011, als Island Gastland der Frankfurter Buchmesse war. In Island erschienen 2023, unter einer ISBN-Nummer miteinander verbunden, die Gedichtbände Dulstirni / Geheimer Stern und Meðan glerið sefur / Während das Glas schläft, denen die hier veröffentlichten Texte entnommen sind. Für diese beiden Gedicht-bände wurde der Autor mit dem Preis Der Maistern, der in Island höchsten Auszeichnung für Poesie, geehrt. Außerdem erhielt er 2024 den alle zwei Jahre in Schweden vergebenen Tomas-Tranströmer-Preis.
Gyrðir Elíasson lebt in Reykjavík, ist verheiratet und hat drei Töchter.

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