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gutleut verlag

Verlage
Hendrik Jackson:
Umschlagsplatz der Singularitäten


wenn in Zeiten forschen Effizienzstrebens und weltweiter Versklavung das locker aus dem Ärmel geschüttelte Supplement oder der einem harten, ein halbes Leben umfassenden Vorlauf abgerungene Debutband, welcher zugleich den ersten, letzten und einzigen Stein des ein dann nicht mehr ganz unsichtbares opus magnum bildenden Nicht-Werks darstellt, eher vermögen, gerade wenn sie voreilig als Nebenwerke abqualifiziert werden, der Literatur besondere, über-raschende Erlebnisse zu ermöglichen und somit gerecht zu werden denn dicklaibige Folianten, die das, was sie einem durch ihre Fülle und Abschweifungskompetenz verheißen: nämlich üppige Mußezeit, zugrunde richten mit einer Ziegelsteinwucht, die selten ohne weltumspannende Erklärungsabsichten auskommt, dann ist die Zeit gekommen, einen Blick seitlich zu werfen und sich auf die feinen, kleinen Nebenwege der ja schon selbst einen Nebenweg des Literaturbetriebs darstellenden Lyrikverlage zu begeben: und vielleicht kommt einem da der eher unscheinbar annoncierende Verlag „gutleut“ in den Blick, an einem Frankfurter sonnendurchfädelten Nachmittag.

an dieser Stelle habe ich eine frohe Nachricht: wer dieses Ungetüm von einleitendem Satz bezwungen hat, sollte mit keiner Lyrik mehr Probleme haben. deren Komplexität ist viel ansprechenderer und gutwilligerer Natur, weshalb ich nun wohl sagen darf, dass wir alle nie wieder Klagen über das „Schwierige der Lyrik“ mehr hören möchten.

und das gilt erst Recht für die Bücher des gutleut-Verlags:
da sind erst einmal die Umschläge der Bücher der Reihe staben: abzunehmen und auseinander zu falten – und ob die hier nur Umhüllung, Zierde oder, als vermeintlicher Nebenschauplatz, ein das Hauptwerk bemäntelnder Umschlagsplatz für mehr als zweit- oder nachrangige Gedanken und Gedichte sind, ist gar nicht so klar. diese Umschläge erweitern das Leseerlebnis, oft befinden sich gerade auf diesem „Umschlagsplatz“ die schönsten Gedichtlein und ausplissierbarsten Gedanken. und auch so gefaltet ist der Plakatumschlag, dass das obere Blatt gerade oben so viel Zeile freilässt, dass dort die untere Faltung hervorlugen kann, auf dem wie eine Gedichtzeile nun ein „Kopftextband“ läuft: das alles macht großes Vergnügen und zeigt, wie man mit einfachen Mitteln ein Buch gestaltet, das die klassischen Hierarchien unterläuft, ohne die Lesegewohnheiten, das Lesevergnügen zu desorientieren oder zu zersplittern.

aber auch die Ausnahme überzeugt: zum Beispiel das ebenso schön gestaltete vom wuchern von Tim Holland. ein Buch im Buch, ein Plakat im Buch zum Rausnehmen – und eine ganz und gar wunderbare Theorie des Waldes, in der man ebenso gern spazieren geht wie in selbigem. und mitten im Buchstabenwald trifft man dann auf folgende schabernackige Zeilen:

wenn ein baum
I zwei teilbäumchen zerfällt,
ist das bereits wald?
wohl käumchen,
das ist zweidimensionaler
wald. vollwertiger wald ist immer umbaumter raum

auch Hollands Buch ist, wie alle Bücher des Verlags, in gedämpften Farben gehalten. Buntheit braucht der Verlag nicht: das Spektrum von Grau, Schwarz, Beige, Ockerfarben ist reich an Möglichkeiten genug, ob gepixelt, auf Karton oder meliert. von den Plakatumschlägen ist das vielleicht stimmigste zu finden bei wolkenformate von dirk Uwe Hansen, aus dessen körnigen Himmelsballungen die schönsten Arrangements herauszulesen der Träumer am Grund des Leseflussbettes bereit sein könnte, ohne dass man ihn der Wolkenschlossschwärmerei bezichtigen könnte. denn über blauneblichtem Grund (das einzige Blau des ganzen Buches) prangen ja die weißen Lettern der Gedichtzeilen wie Beweise höherer Weisheit. beim genauen Lesen zeigen sich hier aber manchmal nebulös hierseitige, dann wieder diesige Schwere und Schwermut ausdrückende Textgebilde, die in Gruben, über Schienen, zwischen Wänden und an der Erdoberfläche spielen. in diesen Wolkenformaten lässt sich viel lesen!

immer mehr lesen lässt sich auch im Inneren des Umschlags von Kai Pohls penfields traum. dort wird ein zunächst komplett durchgestrichener Text immer lesbarer über grau verpixeltem Grund, ein eigenes Bild also, das an manche Konzeptkunst denken lässt. auch im Inneren des Bands setzen sich Überschreibungen fort, der titelgebende Band geht auf eine Parodie auf ein Gedicht Florian Voß‘ zurück, man findet außerdem bildliche Remontagen von bekannten Markenlogos, Kantilenen, Sterne über Astrachan und schließlich eine schöne Anleitung zum Faulsein.

auf der Innenseite des Umschlags von Keith Waldrops gravitationen 1 wiederum kann man durch einen aufschlussreichen Essay zu den Gedichten des Buchs die Lektüre vertiefen. all diese Bücher sind eine reine Freude, ihre auch inhaltliche Vielgestaltigkeit lässt Entdeckungen machen. nicht alle Gedichte werden einem gefallen oder werden einen ansprechen, aber das ist auch gar nicht nötig. das sind Bücher, die eben auch haptisch immer wieder verführen, das konsequente Lesen eines Gedichtbands erschweren sie sogar vielleicht, aber es scheint, als hätten die Autoren das sehr gut abgestimmt und bei Texten, die Kontinuität erfordern, wie die Theorie des Waldes, können wir ja den Text herausnehmen. Das sind mal Entdeckungsreisen durch bekenntnishaft-biographische Fragmente wie bei Waldrop, dann eine Art Goldnuggetsuche bei dem sehr disparaten, mit Dissoziationen und Gesellschaftskritik arbeitenden Kai Pohl, stimmungsvolle, fragmenthafte Atmosphären bei Dirk Uwe Hansen, verschachtelte Gedankenlyrik und methodische Experimente bei Frank Milautzcki usw. darüber sollte man auch nicht die „regulären“ Bücher des Verlags vergessen, wie den großartigen, und man muss sagen zu Unrecht mit zu wenig Aufmerksamkeit bedachten Marcus Roloff. seine in Klingscher Tradition stehenden (aber von Gestus und Methode sich dann doch wieder stark unterscheidenden) historisch-atmosphärisch aufgeladenen Beobachtungsreflexionen sind recht einzigartig in der deutschen Lyrikszene. sie sind präzis, realistisch und doch nie naiv, sondern komplex, die Textteile ineinander verkeilend. so fällt es schwer, einen Band dieses Verlags besonders herauszuheben – aber so richtig falsch liegen kann man kaum. am besten räumt der Leser eine Regalreihe frei und füllt sie mit gutleut, so wie ja auch kookbooks und einige andere längst eine eigene Reihe in jeder Bibliothek haben sollten. und das ist nicht gesagt, um billig anzupreisen, sondern der Hilflosigkeit geschuldet, diese kleine sorgsame Reihe und ihre Inhalte und Erscheinungsformen angemessen würdigen zu wollen. hiermit sei wenigstens ein Anfang getan, wenngleich er nicht umhin konnte, diese seine Unbeholfenheit allzu eitel auszustellen.



» Dirk Uwe Hansen: wolkenformate. Frankfurt a.M. (gutleut verlag) 2016. 60 Seiten. 16,00 Euro.

»  Dirk Uwe Hansen: sonne geschlossener wimpern mond.  Gedichte. Frankfurt a.M. (gutleut verlag – reihe licht, Bd. 1) 2018. 48  Seiten. 19,00 Euro.

» Tim Holland: vom wuchern. Frankfurt  a.M. (gutleut verlag / reihe staben) 2016. Landkarte mit eingelegtem  Heft, 56 Seiten. 19,00 Euro.

» Frank Milautzcki: schwarz drosseln. gedichte und  cut-ups. Frankfurt a. M. (gutleut verlag - reihe staben) 2017. 116  Seiten. 21,00 Euro.

  Marcus Roloff: Gedächtnisformate. Gedichte. Franjfurt a.M./Weimar (gutleut Verlag) 2006. 72 Seiten.

»  Keith  Waldrop: gravitationen 1. Ausgewählte Gedichte (1968 – 1997). Frankfurt  a.M. (gutleut verlag – reihe staben) 2017. 156 Seiten. 23,00 Euro.

Außerdem bei gutleut:

» Jayne-Ann Igel: die stadt hielt ihre flüsse im verborgenen. Frankfurt a.M. (gutleut verlag – reihe licht #2) 2018. 72 Seiten. 20,00 Euro.
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