Direkt zum Seiteninhalt

Günter Plessow: Shakespeares Sonettseptette - gelesen von Günter Plessow

Rezensionen/Lesetipp > Rezensionen, Besprechungen



Jan Kuhlbrodt

22 x 7 = 154



Wohl kein anderes literarisches Werk ist so oft ins Deutsche übertragen worden, wie Shakespeares Sonette, jedes Einzelne wohl noch öfter, als der gesamte Zyklus. Am häufigsten wahrscheinlich das Sonett 66, denn der Übersetzer Ulrich Erckenbrecht überträgt es seit Jahren von mal zu mal neu und anders, so dass sich gleichsam ein Wald von Übersetzungen eines einzelnen Übersetzers um das einzige Original, nämlich Shakespeares Text bildet.
Man kann eine solche Tätigkeit manisch nennen, doch verdeutlicht sie nur die Unendlichkeit, die so etwas Kristallinem, wie einem einzelnen Kunstwerk innewohnt, und die Möglichkeit eines nicht endenden Diskurses, der sich um das Werk bilden kann.


Einen anderen Weg schlägt nämlich der Übersetzer und Architekt Günter Plessow ein, und es scheint mir an dieser Stelle nicht unwichtig zu sein, dass er Architekt ist. Denn wie jedes Ganze hat die Gesamtheit der Sonette auch eine Gestalt, die vielleicht dem nicht so ganz ins Auge springt, der sich im einzelnen Text verliert.


(Das soll kein Vorwurf sein, denn das punktuelle Erschließen des einzelnen Momentes ist nur ein anderer Weg, zu einem anderen Ganzen zu gelangen. Ein Weg in die andere Richtung, der genauso zielführend ist, weil der Weg das Ziel definiert.)

Günter Plessow hat die Sonette komplett übertragen, und sie sind nun 154 Tage lang täglich nacheinander hier auf dieser Seite erschienen, in schöner Regelmäßigkeit, denn die Sonette sind an sich spannend genug. Stück für Stück sind sie in der Übersetzung erneuert in die Gegenwart getropft, denn der Übersetzer übersetzt nach Benjamin nicht nur in seine Sprache, sondern auch in seine Zeit, der Zeit nämlich, der seine Sprache unterworfen ist. Das Original bleibt in seinem Zeitkern unangetastet, während die Übersetzung sich gewissermaßen abnutzt, an Aktualität und somit an Relevanz verlieren kann.
Aus diesem Grund kann es auch keine letztgültige Übersetzung geben, und die Kinder, denen man in der Schule noch immer Schlegel/Tieck vorsetzt, lernen zwar keine schlechten Texte, aber wahrscheinlich mehr über die deutsche Romantik, als über das Elisabethanische Theater.

In seiner Gesamtübertragung hat Plessow nun die Gesamtheit der Sonette auch in Augenschein genommen und sie in seinem Buch „Shakespeares Sonettseptette“ einem anderen Werk konfrontiert, nämlich der Versdichtung A Lover's Complaint von 1609. Diese besteht aus 47 siebenzeiligen Strophen und erschien im gleichen Jahr wie die Sonette.

„Wir nehmen den Sonettenband so, wie er 1609 erschien, als ein authentisches Werk Shakespeares, und versuchen es so zu lesen, wie es überliefert ist: als Suite zweier Subsequenzen von Sonetten und des unmittelbar anschließenden dialektischen Gegenstücks, des Strophengedichts A Lover‘s Complaint.“


Schreibt Plessow im Vorsatz.

Vielleicht ist dieser konkrete und sachliche Zugriff auf ein Textkonvolut eben der technischen Bildung des Architekten geschuldet. Gut, dass Plessow hier nicht die ewige Debatte um die Identität des Dichters eröffnet, denn die Person des Künstlers interessiert zumindest mich nur, sofern sie sich aus dem Werk ergibt, und an dieser Stelle ergibt sich ein konstruktiv mit allen Wassern gewaschener Künstler. Plessow konstruiert ihn, in dem er die beiden Werke aufeinander bezieht. Pate steht dabei die mythische Zahl 7. Entsprechend der Verszahl der Strophen der Versdichtung ordnet Plessow die 154 Sonette in 22 Gruppen zu je 7 Texten, und untersucht diese dann auf ihre narrative und thematische Struktur hin.

Das Ergebnis ist verblüffend und scheint Plessow in seiner Ausgangsthese Recht zu geben. In jeder Siebenergruppe ist ein innerer Zusammenhang zu finden, und von Gruppe zu Gruppe so etwas wie eine dramaturgische Entwicklung. Ob das der Intention des Autoren Shakespeare entspricht, sei dahingestellt, wir können ihn ohnehin nicht mehr fragen, aber der aus dieser Lesart entstehende Autor hat es faustdick hinter den Ohren.

Den Schluss des Bandes bilden dann zehn Sonette, die aus der Feder, oder besser der Tastatur Günter Plessows stammen, und die letztlich einen Arbeitsprozess dokumentieren, die Formen kurzschließen.

Das Lied bricht ab, der Rahmen schließt sich nicht, …


Der endlose Diskurs hat sich in eine neue Richtung verzweigt.


Günter Plessow: Shakespeares Sonettseptette - gelesen von Günter Plessow. Badenweiler (Wissenschaftlicher Verlag Dr. Michael P. Bachmann) 2016. 57 Seiten. 8,50 Euro.

Zurück zum Seiteninhalt