Günter Eichberger: Hirn ohne Grenzen
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Hendrik Jackson
Hirnsprachspiele ohne Grenzen?
Dass sich Figuren gegen ihre Erzähler auflehnen, dass ein Autor sein Schreiben im Text kommentiert, dass ein Roman sich in Selbsthinterfragung übt, dass ein Gedicht seine eigene Poetik mitliefert (was Gottfried Benn sogar zum Kennzeichen eines guten Gedichts erhob) – das alles kennen wir. Nun hat der Grazer Autor Günter Eichberger der Palette von Selbstbezüglichkeiten in der Literatur eine neue Nuance hinzugefügt: den Dialog des (Autoren- oder Erzähler-)Ichs mit dem Gehirn, das sowohl das Ich („an sich“) als auch den Text überhaupt hervorgebracht haben soll. Schon die sprachliche Wendung „an sich“ weist darauf hin, dass das primäre Medium der Erfahrung des Ichs eben dieses selbst ist. In einem Zeitalter, in dem Reflexivität zu einem der zentralen Begriffe der Philosophie geworden ist, verwundert der Rückbezug in „Hirn ohne Grenzen“ auf dies „selbst“ im Sinne einer Frage nach den Bedingungen des Sprechens wenig und zieht sich durch alle Ebenen (schon das erste Kapitel fängt an mit der Überschrift: „Entwurf eines Entwurfs“). So hat der Text „Hirn ohne Grenzen“ passagenweise den Charakter einer heiter kreiselnden, philosophischen Pirouette mit Anleihen bei Gehirnforschung und schöner Literatur. Jenseits der amüsanten Verwicklungen, die diese Spaltung in ein „Ich“ und einen materiellen Ursprung zeitigt, stellt Eichberger oder sein alter ego aber durchaus ernsthafte Reflexionen an. Dies „Ich, das sich in jedem Satz neu entwirft“, wie es im Klappentext heißt, wird also von einem, vermutlich des Autors, Gehirn in Augenschein, bzw. Gedankenreflexion genommen. Dieses, so spekuliert es/er selbst, könne sich ausdehnen bis zur Größe des Universums. Auf solche Art geraten die sich gegenseitig bedingenden Kontrahenten in ernsthafte diskursive Komplikationen und versuchen sich in Unabhängigkeitserklärungen bzw -zuschreibungen.
Dabei mischen sich Alltagsbeobachtungen, biographische, meist lapidare Notizen und philosophierende Erwägungen zum Gebrauch der Sprache und den Voraussetzungen des Denkens. Oft merkt man dem Buch den Hörspielautor Eichberger an: der Text lässt sich sehr flüssig (vor)lesen und gut nachvollziehen. Er entbehrt auch nicht der komischen und unterhaltsamen Momente. Seine Stärke könnte man aber zugleich als seine Schwäche auslegen, denn manch komplexe Problematik oder durchaus diskussionswürdige Passage verliert auf den ersten Blick im zu geschickten Wortwitz oder im Spiel mit Laut und Doppelsinn ihre Kraft, den Leser/ die Leserin einhalten zu lassen und zu öffnen für weitere Felder. Das mag aber auch der Hinkefuß eines konsequent durchdachten Sprechens sein:
Die Könnerschaft, die hinter einem solchen sich selbst ausfaltenden Gedankenexperiment liegt, zeitigt ihr Problematisches in der Beherrschung, die sie gerade auch auf das Thema der Unbeherrschbarkeit ausstrahlt, das sie selbst durchgehend aufruft. Kurzum: der Text widerspricht, auch wenn er vieles tastend erfragt (das aber eher ein In-den-(Be)Griff-Bekommen in Fragegestalt ist), in seinem Tun der thematisierten Differenz zwischen selbstbewusstem Ich und dem Hirn als unsichtbarem und unkontrollierbarem Demiurgen. In der Philosophie nennt sich so ein als Widerspruch zu seinem Gesagten aufzeigbarer Sprechakt auch Retorsion und ist eine wichtige Figur zeitgenössischer Philosophie – was Eichberger wissen dürfte. Deshalb wohl fügt der Autor immer wieder Abweichungen ein, reichert seine Reflexionen mit oft recht kontingenten oder sarkastischen Alltagsingredienzen an, nur um dies „von hundertsten auf Tausendste“ dann gleich wieder selbst zu monieren. Dabei zielt er wohl auf Novalis‘ Ausspruch, „daß wenn einer blos spricht, um zu sprechen, er gerade die herrlichsten, originellsten Wahrheiten ausspricht. Will er aber von etwas Bestimmten sprechen, so läßt ihn die launige Sprache das lächerlichste und verkehrteste Zeug sagen.“
Und dennoch: Lassen sich alle Konflikte, die sich aus dem Alternieren von emergenter und immergenter Sprachbewegung ergeben, in heiteres Sprachwitzgefallen auflösen? Dahinter stünde letztlich ein fast resignatives Laisser-faire, das solchen Sprachwitz oder das gedankliche Verwirrspiel als letzte Pointe aller Ausführungen sanktionierte. Das wäre manchmal doch etwas schade. Aber der Leser (in diesem Fall der Rezensent) sollte kein zu schnelles Fazit ziehen. Das soll an einem Beispiel illustriert werden. Wenn es auf S. 91 heißt: „Ich bin nur ein Augenblick in einem ewigen Fall. Wenn ich den Augenblick nur zu Fall bringen könnte!“ – so scheint die Problematik des unaufhaltsamens Entschwindens des Augenblicks in einem Kalauer aufgelöst. Schaut man aber genauer hin und erkennt den Bezug zu Wittgensteins „Die Welt ist alles, was der Fall ist“, so geht einem vielleicht auch auf, dass dies „zu Fall bringen“, mehr als nur ein Witz ist: indem das Ich (oder der Autor) dem Fall (im Sinne von fallen), dem Schwinden des Augenblicks durch einen Streich sozusagen ein Bein stellen will (Vorsicht: Falle!), was besonders tückisch ist, da es zuvor noch hieß: „ich denke mit meinen Füßen“, will er eben den Augenblick nicht nur anhalten, sondern „zu Fall“ bringen, einen Fall daraus machen: die Welt in Augenschein nehmen, die Welt nämlich, die alles ist, was der Fall ist. Nachdem er hier also mit verschiedenen Sprachbedeutungen jongliert, erläutert er dies Tun im darauffolgenden Abschnitt: „Vermutlich würde ich lieber anderes sagen (...) Manchmal schimmert es auf. Wird aber niemals wörtlich“. Wir sollten ihn also nicht zu wörtlich verstehen. Dieses Ausstellen der Sprachbewegung ist gerade in Österreich (gute) Tradition und wird von Eichberger mit Witz und Aplomb vorgeführt.
Die Abschweifungen des Erzählers fügen sich im Verlauf des Buches zunehmend schlüssig in die zentrale Thematik: Sehr schön ist das Kapitel Kardamom, das die Tücken des Gedächtnisses (das schon durch Lautverschiebungen heillos verwirrt wird) und also des Ichs Ohnmacht gegenüber jenem wunderbar demonstriert. Und immer wieder wird das Gesagte einerseits relativiert durch Reflexion („ich muss mich mit Worten gegen meine Worte wehren“) und entpuppt sich als ein möglicher „Trick des Gehirns“, andererseits weist genau dieser Kampf mit sich selbst wieder den Weg: „Den richtigen kenne ich nicht, was zumindest eine Spur sein dürfte.“
Offene und versteckte Anspielung gibt es zuhauf, fast in jedem Abschnitt. So heißt es in dem Kapitel „Rom“: „Aus dem, was ich sehe, ließen sich Städte errichten.“ Das ist wohl eine Abwandlung einer Zeile Brodksys, des Nobelpreisträgers und Verfasser der „Römischen Elegien“: „Aus denen, die mich vergessen haben, kann man eine Stadt bilden.“ (http:// www.staroeradio.ru/audio/9842). Und so geht es in einem fort, ohne allerdings die Lektüre zu befrachten. Im Gegenteil wird manches nur flüchtig hingeworfen, freilich auch das wohl kalkuliert. Am Ende wehrt sich das Ich dann gegen all diese Erfindungen, seine eigenen, gegen das Hirn ohne Grenzen also und wünscht sich eine „Utopie der Erscheinungen“, in die es sich einrollen kann „zu einem langen Schlaf“.
Günter Eichberger: Hirn ohne Grenzen. Klagenfurt (Ritter Verlag) 2017. 104 Seiten. 13,90 Euro.